48 Stunden in Georgien: zwischen Party und Putsch – die Kolumne von Marc DePulse

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48 Stunden in Georgien: zwischen Party und Putsch – die Kolumne von Marc DePulse

Zugegebenermaßen habe ich in gut 15 Jahren als DJ schon sehr viel erlebt, gesehen, gerochen, angefasst. Immerhin durfte ich meine Musik in mittlerweile 25 Ländern spielen, also bin ich gewissermaßen abgehärtet. Während dein Umfeld die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und sagt „Was, da fährst du hin?“, habe ich immer noch ein zielsicheres Grinsen im Gesicht: „Klar, warum nicht?“ Und aus Erfahrung weiß ich, dass Reisen in den Osten immer etwas Spannendes haben. So auch diese.
Ich wurde für Freitag, den 15. Juli, nach Batumi, Georgien, gebucht. Da die Reise von Deutschland aus etwas umständlich ist, hat man mich einen Tag früher hingeschickt und das war auch gut so. Von Berlin ging es über Istanbul nach Trabzon, Türkei, von dort aus weitere drei Stunden mit dem Pkw über die türkisch-georgische Landesgrenze hinweg nach Batumi. Bilder, die ich dort gesehen habe, möchte ich am liebsten wieder vergessen. Ein Mix aus dem, was im Fernsehen von anderen Landesgrenzen gezeigt wird. Grenzen, an denen pure Verzweiflung auf Kriminalität und Korruption trifft. Grenzen, an denen dir ein Bündel Geldscheine durch das offene Autofenster mit der Bitte um deinen Reisepass gereicht wird. Puh! Einmal tief durchatmen, zwei Stempel ins Reisebüchlein, sich vom Drogenspürhund an der Unterhose herumschnüffeln lassen und dann noch 20 Minuten Autobahn bis zum Ziel. Autobahn ist natürlich ein höchst aufgewerteter Begriff. Straßen in östlichen Ländern sind schwer zu beschreiben. Mal sind sie zwei Meter breit, mal 200 Meter. Mal gibt es Asphalt, mal nur staubigen Acker. Mal gibt es Mittelstreifen, mal eine Leitplanke in luftiger Höhe. Und wenn du denkst, dass du alles schon mal gesehen hättest, steht da ein Würstchenverkäufer mit seinem Grill auf der Mittelspur und winkt dir zu. Willkommen in Georgien.

Batumi selbst ist eine Stadt, die für meine Begriffe eine noch größere Arm-Reich-Schere hat als die Ukraine oder Russland. Ich sah auf dem Fußweg eine ältere, verwundete Frau liegen. Sie flehte um Geld, während sie mit der anderen Hand auf ihr offenes Bein zeigte. An der Ampel fünf Meter weiter startete gerade ein Maserati durch. Am Strand lagen die Luxus-Ladys in einer Louis-Vuitton-Komplettausstattung, während ein paar Meter daneben flugsaurierähnliche Vögel einen toten Straßenhund zerfleischten.

Ich wohnte in einem Luxushotel. Direkt daneben stehen Häuser, in denen hierzulande wohl nicht einmal Obdachlose schlafen würden, wenn sie Geld dafür bekämen. Zumindest hat mir das Hotel aber wenigstens das Gefühl von Sicherheit gegeben. Als ich am kommenden Tag die Stadt erkunden wollte, hätte ich mir diese Sicherheit so manches Mal gewünscht. Dubiose Gestalten sprachen mich auf offener Straße mit „Welcome!“ an und winkten mich zu ihrem Haus bzw. Hinterhof. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie mich zum Tee einladen oder meine Nieren zum Verkauf anbieten wollten. Daher habe ich dankend abgelehnt.

Die Location Boom Boom Beach war großartig. Direkt am Meer, unter freiem Himmel. Dazu noch eine tolle Anlage und ein sehr dankbares Publikum. Mit einem Kaltgetränk in der Hand wippt das Knie doch gerne mit. Dann bist du in Gespräche vertieft, schaust auf die Uhr und weißt, dass du in 10 Minuten dran bist. Doch plötzlich kommt der Veranstalter mit erschrockenem Gesicht auf dich zu und meint: „Marc, wir haben gerade erfahren, dass in der Türkei ein Krieg ausgebrochen ist. Grenzen und Flughäfen sind zu. Mehr wissen wir jetzt noch nicht.“ Rumms! Und dann stehst du da. Der Kopf voller Fragezeichen und erstmals fühlst du dich verloren. Natürlich wollte ich mich sofort informieren. Allerdings ist Internet in Georgien seitens meines Netzbetreibers nicht verfügbar und WLAN gibt es nur im Hotel. Das Gefühl lässt sich schwer beschreiben. Auf der einen Seite möchtest du am liebsten sofort gehen, auf der anderen Seite warten die Leute voller Vorfreude auf deine Musik. Ich ja auch! Ein zweistündiges Set kann sehr lang werden, wenn die Gedanken ständig kreisen. Dann schaust du auf das Display des CDJs und siehst gar nichts, weil du mit dem Kopf ganz woanders bist.

Die Party war dennoch überragend, aber für mehr als eine Tüte Schlaf hat es danach nicht gereicht, denn sofort begann die Aufarbeitung: „Was ist überhaupt passiert?“ Und: „Wie komme ich jetzt von hier weg?“ Schließlich hatte ich am Sonntag ja noch einen Gig in Brüssel. Aber zunächst einmal war es schwer, überhaupt eine weitere Nacht im Hotel zu bekommen. Viele bereits ausgecheckte Gäste kamen zurück, weil sie ebenso von Flugstreichungen betroffen waren. Also wurden Zimmer aufgrund von Überbuchung zusammengelegt. Ich habe mir für den restlichen Samstag ein Zimmer mit dem Berliner DJ Diego Krause geteilt, der ebenfalls im Boom Boom Beach gespielt hatte.

Die Situation war völlig unübersichtlich. Ich hing stundenlang am Smartphone, führte ebenso lange Telefonate. Alle konnten nur mutmaßen, keiner wusste genaues. Als es dann langsam wieder dunkel wurde, hatte ich plötzlich neue Flugtickets und aus Ungewissheit wurde Klarheit. Da mir von Rückflügen über die Türkei von allen Seiten abgeraten wurde, prüften wir natürlich unendlich viele Möglichkeiten. Von Batumi aus ging kein vernünftiger Flug, also wurden Diego und ich über Kutaisi geschickt. Kuta-was? Kutaisi! Ja, wir mussten das auch erst einmal googeln. Knapp zwei Autostunden später, mitten in der Nacht, checkten wir dort also ein. Der Flughafen ähnelte im Vergleich zu anderen Flughäfen eher einer Zweiraumwohnung, genügte aber den höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Schnuckelig, gemütlich, mit zwei zeitgleichen Flügen aber komplett ausgelastet.
Von Kutaisi bin ich schließlich über Kiew nach Brüssel geflogen, wo ich am Sonntag noch auf einem grandiosen Open Air gespielt habe. 40 Stunden ohne Schlaf, genervt von all dem Lärm, und dann stehst du auf der Bühne, spielst deine Musik und dir wird ganz viel positive Energie zuteil. Und am Ende war es das alles wert. Viele Gigs in Deutschland werde ich über die Jahre sicherlich vergessen, aber so etwas wird für immer in meinem Kopf bleiben. Und das macht den Beruf des DJs ja auch aus – auch wenn man so etwas freilich nicht jede Woche haben möchte.

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Foto Marc DePulse: Vitali Gelwich