Berlin goes Santiago de Chile – DJs und Clubkultur in der chilenischen Hauptstadt

Der Deutsch-Chilene Ricardo Villalobos ist weltweit ein Begriff. Die elektronische Musikszene in Chile ist zwar klein, aber in Südamerika bedeutend. Eine Begegnung zwischen DJs aus Berlin und Santiago.

Auflegen in Recoleta in Santiago de Chile_copyright Goethe-Institut Chile5
Auflegen in Recoleta in Santiago de Chile

Das Mischpult ist bereits aufgebaut, davor unterhalten sich, auf Bierbänken sitzend, deutsche und chilenische DJs, auch junge Künstler sind darunter. Wir befinden uns im Patio, einer ehemaligen Glasfabrik im Stadtteil Recoleta in Santiago de Chile, und der lauwarme Sommerabend erinnert daran, dass wir auf der Südhalbkugel sind. Vor dem Auflegen wird noch über Musik und Arbeitsbedingungen geredet. Dieser Abend ist Teil eines mehrtätigen Events zwischen Labels und Musikern aus beiden Ländern, mit Sessions an unterschiedlichen Orten in Santiago. Das Motto: „Clubraum Berlin“, veranstaltet vom Goethe-Institut Chile.

Mit Chi-Thien Nguyen und John Muder, den Machern des Berliner Labels Suol, mit DJ Mareena (Tresor), die aus Rostock kommt, und Pablo Mateo, dem deutscher Producer und Musiker, der auch schon auf Marcel Dettmann Records veröffentlicht hat, unterhalte ich mich über ihre Eindrücke. Im Hintergrund ertönen die ersten Sounds. John sagt, er werde schon neidisch, wenn er höre, dass in Chile etwa 20 Leute die Szene anführen: „Wir sind in Berlin unter gefühlten 280 000 anderen Künstlern, da fällt es schwer, herauszustechen. Auf der anderen Seite erzählen uns die chilenischen Künstler, dass es einfacher sei, in Berlin Support zu finden und viel zu spielen, sodass du dich wirklich auf die Musik konzentrieren kannst. Wir haben in Deutschland den Vorteil, dass man leichter Aufmerksamkeit von einem Club bekommt, den Kontakt herzustellen geht viel schneller.“ Die Berliner Electro- und Technoszene sei autark, man wisse, es funktioniere.

Chi-Thien Nguyen, John Muder (beide Suol) und Matthias Meyer (Watergate)
Chi-Thien Nguyen, John Muder (beide Suol) und Matthias Meyer (Watergate)

Auf meine spitz formulierte Frage, ob dieser Austausch eine Art Entwicklungshilfe auf elektronischer Ebene sei, erklärt John, er habe den Eindruck, die chilenischen DJs wüssten schon genau, was sie wollten, aber sie hätten auch nach Tipps gefragt. Was die Art der Musik angeht, wäre das schon ein ähnlicher Stil wie Detroiter House und Techno. Auch Thien meint: „Die Jungs machen Berliner Musik. Einige haben auch schon in Berlin gespielt, Berlin ist sehr international. Wenn ein Chilene in Berlin spielt, kann man das nicht so leicht differenzieren. Wo du aufwächst, beeinflusst dich natürlich, und hier ist das schon Musik mit chilenischen Einflüssen, aber das hört man bei einigen noch nicht so raus.“

Mareena hat den Eindruck, die Klänge, die sie von einem chilenischen DJ gehört hat, seien langsamer als die, die sie aus Berlin und Deutschland kennt. „Ich glaube, das hat auch mit den Temperaturen zu tun, es war schon Detroit Electro, aber mit Techno auf 124 statt auf 135 – wie unsere Berliner Kälte: Winter und Härte. Die Musik, die ich da gehört habe, war warm, nicht so kantig und eckig.“
Für Pablo Mateo ist kein Werk frei von Kontext: „Der chilenische Sound, der von Künstlern wie Ricardo Villalobos, Luciano oder Dandy Jack geprägt wurde, zeichnet sich durch hochfrequente und auch polyrhythmische Strukturen aus. Villalobos ist bekannt für Percussion-Sounds. Mich persönlich hat es beeinflusst, dass mein Vater aus Kolumbien kommt, auch wenn die House-Szene da nicht so ausgeprägt ist.“

Mit Bier in der Hand und dem Cerro San Cristóbal, dem Stadtberg Santiagos, im Rücken wird getanzt, das Publikum ist deutsch-chilenisch gemischt. Die Beats, die im Patio wiederhallen, vermischen sich kurz mit den Jubelrufen von nebenan – Chile hat gerade ein Tor gegen Argentinien geschossen. Jedes Tor gegen Argentinien wird zelebriert, gegenüber dem großen Nachbarn fühlen sich einige Chilenen immer noch klein. Aber was die Electroszene angeht, hat sich die Musik seit den 80er-Jahren nicht nur längst etabliert, Chile spielt vielmehr eine sehr wichtige Rolle in der Electroszene Lateinamerikas. Der 25-jährige Chilene Daniel Klauser, der deutsche Vorfahren hat, hat sich in der chilenischen Szene mit seinem Label Diamante Records einen Namen gemacht. Daniel, der sich komplett der Musik widmet, sagt selbstbewusst: „Wir haben eine sehr kreative Szene hier, wir machen die gleiche Musik auf gleichem Niveau wie in Europa oder sonst wo. Was den Sound angeht, sind wir als Kultur nicht besonders lateinamerikanisch, wie viele Europäer es denken. Ganz anders ist das in Brasilien.“ Für ihn ist der Sound von Techno und House überall ähnlich, er glaube sowieso nicht an Latino-Techno oder Latino-House, wie er sagt.

Sebastián Mella – Künstlername Fantasna – ist 33, geht einer „normalen“ Arbeit nach und macht parallel dazu Musik. Auch er sagt: „Chile gehört zu den kältesten Ländern Lateinamerikas, auch was die Kultur angeht. Aber die chilenische Musik hat natürlich schon was Eigenes. Wir sind trotzdem auch Lateinamerikaner, als Kind hörst du viel Musik auf Feiern, Cumbia zum Beispiel. Das ist in deinem Kopf drin, auch wenn du es nicht den ganzen Tag hörst.“
Auch Daniel Klauser spricht von einem lateinamerikanischen Einfluss, aber merkt ebenfalls an, dass die Chilenen von ihrem Typ her im Vergleich zu anderen Latinos zurückhaltender und kälter seien: „Seit drei Jahren werden wir mehr von Migranten aus Haiti, Kolumbien, Peru und Bolivien beeinflusst. Argentinien und Chile sind aber sehr europäisch. Die chilenische Electromusik klingt dadurch auch ähnlich wie die in Berlin oder Europa generell.“ Seit den 1980er-Jahren sei Electro bereits Teil des „oido chileno“, des chilenischen Hörverständnisses. Unterschiede gebe es aber bei den Produktions- und Rahmenbedingungen. Diese seien in Chile viel schwieriger als in Berlin. Daniel analysiert die Situation: „Für unsere Verhältnisse ist die Electroszene groß, aber mit Problemen behaftet. Erst vor Kurzem hat sich der DJ als Musiker etabliert. Werbung und Distribution funktionieren meist über Social Media, allen voran Facebook, es gibt wenige Musikmagazine. Die Soundsysteme, die wir hier haben, sind nicht besonders gut. Ökonomisch ist das schon schwieriger in Chile, das Equipment ist sehr viel teurer als in Europa oder in den USA, es kostet das Doppelte oder mehr.“ Wie überall auf der Welt müsse man seinen Zirkel finden, sich einen Bekanntheitsgrad erarbeiten in den wenigen Clubs. Der Austausch zwischen den Musikern müsste aber noch besser werden. Pablo Mateo, der während seines Besuchs auch mit jungen DJs in Chile arbeitet, findet die Fokussierung auf Geld und Erfolg in Chile sehr auffällig. Das sei aber nicht typisch chilenisch, sondern passiere überall dort, wo Eliten viel Macht besitzen – wie eben in Chile: „Es spricht ja nichts dagegen, Geld zu verdienen, aber das sollte man, wie ich finde, nach der eigenen Stilfindung machen.“

In kaum einem anderen Land wird das Leben so stark vom Einkommen beeinflusst wie in Chile. Die Einkommensungleichheit ist im weltweiten Vergleich hier mit am höchsten. Viele öffentliche Güter sind während der Diktatur Augusto Pinochets in den 1980er-Jahren privatisiert worden. Bis heute hat sich das kaum geändert. Das hat auch Einfluss auf die Musikszene im Allgemeinen. Daniel Klauser und Sebastián Mella erzählen, es gebe nicht nur wenig öffentliche Unterstützung für Musik, sondern insgesamt immer weniger öffentliche Unterstützung auf kultureller Ebene. Ein großes Problem sei vor allem auch die fehlende Möglichkeit, auflegen zu können. In Santiago gebe es ein paar Clubs, die zwar gut besucht seien, aber es fehle an Raum, an freien und öffentlichen Flächen zum Auflegen. Man müsse dadurch privat viel im Underground spielen. Und auch wenn das künstlerische Freiheiten mit sich bringe, sei es nicht einfach, erzählt Daniel Klauser: „Wir legen in leer stehenden Häusern oder auf privaten Partys auf. Und immer mit dabei ist die Angst, dass die Polizei uns das Equipment wegnehmen könnte. Der Staat in Chile ist stark darauf bedacht, privaten Besitz zu schützen. Wir als Künstler und DJs haben öffentlich kaum Freiheiten und die Polizei in Santiago ist auch repressiv mit den Kontrollen.“ Zumindest einige Stadtteile in Santiago seien progressiver geworden und in der nahe gelegenen Kulturstadt Valparaiso hätte man mehr Spielraum. Für politischen Electro in Chile ist der DJ Miguel Conejeros aka F600 bekannt – während der Diktatur in Chile machte er Punk-Trans-Rave. Auch heute noch ist er in Chile als DJ aktiv. An diesem Abend ist er zwar nicht anwesend, aber er ist Teil des generellen Austauschs zwischen den Berlinern und den „Santiaguinos“.

Während die Schatten der Palmen auf dem Hügel San Cristóbal wegen der anbrechenden Dunkelheit kaum noch zu erkennen sind, füllen die Electroklänge das „Barrio“, das Viertel. Was inspiriert die Berliner und die „Santiaguinos“ hier? Mareena fühlt sich durch den Austausch in Santiago an ihre Anfangszeit als DJ zurückerinnert: „Man ist ja sonst so in seiner Struktur, man müsste Dinge mal wieder anders sehen.“ Auch für John spielt dieser Aspekt eine Rolle: „Thien und ich haben früher in Berlin 100-bpm-House gemacht. Damals wurden wir nach dem Warum gefragt, aber wir fanden das geil, wir hatten das Gefühl, dass es umso mehr groovt, je langsamer es ist. Ich denke gerade wieder an die Anfänge und das Ausprobieren zurück.“
Zu hören und zu erfahren, wie die deutschen Kollegen arbeiten, sei schon sehr interessant, findet Sebastián Mella. Aber auch die chilenische Electroszene sei interessant, betont Daniel Klauser. „Die Partys sind voll, die Clubs funktionieren. Wir kaufen und suchen Vinyl – und leider ist es in Chile nicht einfach, auf Vinyl rauszukommen. Davor liegen 20 000 andere Prozesse, um das Geld dafür überhaupt erst zusammen zu bekommen.“ Die eigenen Platten herauszubringen, ein Label in Europa zu finden, um dorthin reisen zu können – all das sei nicht immer so einfach umzusetzen. Er findet es schade, dass die chilenische Szene hinten runter fällt, wenn zum Beispiel Festivals wie Dekmantel nach Brasilien gehen und das Klischeehafte und Exotische suchen. Dabei sei die Szene in Chile stark gewachsen: „Im Moment, würde ich sagen, erleben wir gerade unsere beste Zeit.“

International bekannte chilenische DJs und Producer:
Matias Aguayo, Ricardo Villalobos, Shanti Celeste, Cristian Vogel, Nicolas Jaar, Jorge Gonzalez, Dandy Jack, Vale Colvin Pier Bucci, Luciano, Daniela Haverbeck, Dinky

Vertreter der lokalen Szene in Chile:
Diegors, Andrea Paz, Matias Rivera, Camilo Gil, Roman & Castro, Fernanda Arrau, Valesuchi, Daniel Klauser, Fantasna, F600

Aus dem FAZEmag 059/01.2017 
Text: Marsida Lluca
Fotos: Goethe-Institut Chile

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