Chris Liebing – Ende der Durststrecke

Seit gut 25 Jahren versorgt uns Chris Liebing zuverlässig und beständig mit elektronischer Musik: Techno, schnell, hart, aber dennoch immer mehr als nur langweiliges Geklöppel. „Slow“ – so die eine Hälfte des Albumtitels und auch die Ausrichtung. Was für den Frankfurter heißt: neue musikalische Territorien ergründen, abseits seines DJ-Daseins – und das wollte er eigentlich schon sein ganzes Leben machen. Aber es ist ja nie zu spät und nun halten wir 15 Jahre nach seinem letzten Soloalbum „Burn Slow“ in der Hand. Im Interview schildert uns Liebing den langen und interessanten Weg dahin, was uns auch direkt zur anderen Hälfte des Titels führt: „Burn“, das Feuer, das mehr als je zuvor in ihm lodert.

Chris Liebing

Warum hat es so lange gedauert, ein neues Album herauszubringen? Und wie lange gärte in dir schon der Gedanke, ein neues Album zu machen?

Der Gedanke, ein neues Album zu machen, kam mir wohl so um 2013, 2014. Ich war zu dieser Zeit allerdings extrem mit meinem Label CLR und mit den Podcasts beschäftigt. Als Label-Besitzer hat man eine große Verantwortung gegenüber seinen Artists, insofern wusste ich, dass ich mir erst mal Platz schaffen musste, um ein Album produzieren zu können. Eigentlich hatte ich schon seit meinem letzten Album im Kopf, irgendwann noch mal eins zu machen, aber erst um 2014 herum war mir klar, dass ich dafür meine Aktivitäten um CLR herum deutlich runterschrauben müsste. Warum es letztendlich so lange gedauert hat, liegt abgesehen von der Label-Arbeit natürlich auch daran, dass du als DJ permanent auf Tour bist, hin und wieder deine Remixe machst und deine 12Inch veröffentlichst – und ein Albumprojekt beansprucht dann doch einiges von deiner Zeit, die du dir, wie schon gesagt, irgendwie freiräumen musst.

War die musikalische Ausrichtung für dich von Anfang an klar? Auch im Hinblick darauf, dass es Vokalisten geben und das Album nicht rein instrumental sein wird?

Mir war klar, dass ich ein Album machen wollte, das ich selbst gerne hören möchte, und mir war auch klar, dass es nicht zwangsläufig Dancefloor-tauglich sein müsste. Und ich wusste auch, dass ich für die Umsetzung Hilfe benötigen würde – und da kam mir eigentlich nur ein Name in den Sinn, und das war Ralf Hildenbeutel. Ralf ist der Mann, der mich Anfang der 90er mit seinen Releases auf dem legendären Frankfurter Label Eye Q überhaupt auf Techno gebracht hat, den ich seitdem kenne und den ich dann 2015 gefragt habe, ob er bereit wäre, mir bei meinem Album zu helfen. Glücklicherweise war er das und im Herbst 2015 haben wir uns dann auch hingesetzt und damit angefangen. Ich hatte mir absichtlich nur eine grobe Marschrichtung vorgegeben – damit meine ich, etwas zu machen, das ich auch selbst gerne hören will und das nicht unbedingt Dancefloor-tauglich sein muss. Ich habe sehr viel Wert darauf gelegt, alles andere relativ offen zu halten, um aus dem Moment heraus die Musik zu machen, die sich gut anfühlt. Ob das nun bei 100 bpm lag oder bei 150 bpm, war mir relativ egal, die Inspiration sollte einfach nur aus den Geräten und aus dem Moment heraus kommen. Dass es Vokalisten geben würde, wusste ich schon von Anfang an, nur wusste ich natürlich noch nicht, für welchen Track. Erst sind die Tracks entstanden und dann habe ich mir darüber Gedanken gemacht, welche man mit welcher Art von Vocals bestücken könnte.

Wie lief die Zusammenarbeit mit Ralf?

Ralf war schon immer irgendwie in meinem Kopf. Er war ein Wunschkandidat, mit dem ich schon immer irgendwann mal ins Studio gehen wollte. Mit der Idee, ein Album zu produzieren, war für mich auch gleich klar, dass ich Ralf fragen würde, mir dabei zu helfen, gerade weil es um etwas sehr Musikalisches ging und er einer der besten Studiomusiker ist, die ich kenne. Ich hatte unglaublich viel Glück, dass er sich dazu bereit erklärt hat, mit mir dieses Projekt anzugehen und es war eigentlich auch gar nicht schwierig, ihn zu überzeugen. Wir hatten uns auf diverse Zeiträume festgelegt, unsere Arbeitszeiten waren von morgens um 10:00 Uhr bis abends um 18:00 Uhr, immer acht Stunden also, und es war ein sehr geordnetes, sehr schönes Arbeiten. Die Zusammenarbeit hat auch von Anfang an wunderbar funktioniert. Schon am ersten Studiotag waren wir mit extrem viel Spaß bei der Sache.

Wie würdest du die Umstände beschreiben, die dich damals und heute zum Album geführt haben – sowohl deine persönlichen als auch die, in der sich die elektronische Musik zum jeweiligen Zeitpunkt befand? Und lagen den beiden Alben ähnliche Motivationen zugrunde?

In der Zeit um 2003, als mein Album „Evolution“ rauskam, waren die Umstände natürlich komplett anders. Der Fokus lag auf der Tanzfläche und auf meiner DJ-Karriere, aber dennoch hatte ich vor, ein Album zu machen, das sich irgendwie auch mit Philosophie auseinandersetzt, Philosophie, mit der ich mich selbst seit Langem schon beschäftigte: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was machen wir hier eigentlich? Im Grunde genommen ist es auch bei diesem Album immer noch das gleiche Thema, nur mittlerweile haben sich die Umstände natürlich extrem geändert. Du wirst als DJ und als Musiker reifer, du traust dir mehr zu und gewissermaßen werden dir auch manche Dinge egal. Mir war bei dem Album „Burn Slow“ ehrlich gesagt egal, ob es meiner DJ-Karriere hilft, ob es meiner Karriere generell hilft oder nicht. Ich wollte einfach nur etwas machen, was mir Spaß macht, und im Grunde genommen mache ich das schon seit langer Zeit. Man muss sich das nur immer wieder vor Augen führen und ehrlich zu sich selbst sein: Macht dir das, was du da machst, wirklich Spaß oder machst du es nur noch, weil es Routine ist? Die jetzige Albumproduktion hat extrem viel Spaß gemacht, gerade weil ich mir keine Limits mehr gesetzt habe. Und was den Status quo der elektronischen Musik angeht, bin ich der festen Überzeugung, dass wir noch nie so viel gute und unterschiedliche Musik hatten wie jetzt und heute und dass es um die elektronische Musik wirklich sehr gut bestellt ist. Ich sehe um mich herum auch, dass viel mehr Artists immer häufiger Risiken eingehen, um etwas zu machen, was außerhalb ihres normalen Schaffens liegt. Also war die Motivation im Grunde genommen bei beiden Alben die gleiche – und ist es, was Albumproduktionen angeht, immer noch.

Inwiefern hat auch das Label Mute bei der Entscheidungsfindung, ein Album zu veröffentlichen, eine Rolle gespielt?

Im Grunde genommen erst mal gar keine. Als ich mit Ralf Hildenbeutel angefangen habe zu produzieren, war an Mute noch gar nicht zu denken. Ich hatte überhaupt gar keine Idee, wo das Album rauskommen sollte. Es hat sich aber dann mit der Zeit herauskristallisiert, da ich Daniel Miller immer häufiger bei DJ Gigs traf, viel Zeit mit ihm verbrachte, mich viel mit ihm unterhielt –  zwangsläufig auch über mein Album – und er Interesse hatte, es zu hören. Und dann fing er irgendwann an, mir immer, wenn ich ihm etwas vorgespielt hatte, ein paar Hinweise und Tipps zu geben. Aber die Bestätigung, dass es auf Mute rauskommen würde, kam erst Anfang 2017, und dann hat es noch ein halbes Jahr gedauert, die restlichen Vocals zu bekommen, bis es schließlich im Dezember 2017 an das Mastern ging.

Kannst du uns auch was zum Cover sagen? Wer hat das gestaltet und nimmst du auf sowas auch Einfluss oder überlässt du das dem Label?

Das Label Mute hat die Einstellung, das Artwork eigentlich komplett dem Künstler zu überlassen, sie leisten nur Hilfestellung wenn man selber nicht weiterkommt. Da das Album viel mit dem jetzigen Moment zu tun hat, und auch damit, was passiert, wenn man aus diesem jetzigen Moment rausfällt, war die Idee, die zugegebenermaßen nicht von mir sondern von unseren Grafikern kam, vielleicht etwas tiefer in die Kiste zu greifen und etwas sogar religiös Angelehntes zu verwenden. Und da ich eigentlich auch schon immer der Meinung war, dass die Vertreibung aus dem Paradies nur eine Metapher für den Moment in der menschlichen Entwicklung, als sich das Denken eingestellt hat, darstellen kann, ist uns ein Gemälde von Jan Brueghel dem Jüngeren, der im 16. Jahrhundert gelebt und gearbeitet hat, aufgefallen. Das Gemälde heißt “Die Erschaffung der Tiere“ und das einzige, was unsere Grafiker hinzugefügt haben, sind die zwei Hände die sich in diesem Moment berühren. Sie stellen für mich das Göttliche und das Materialistische dar. The “divine“ and the “profane“. Für mich steht das Cover letztendlich dafür, dass wir mit dem Beginn unserer Denkfähigkeit auch quasi aus dem Paradies des jetzigen Moments herausgefallen sind.

Einer deiner Albumgäste ist Gary Numan, Elektropop-Pionier und jemand, der Generationen von Musikern beeinflusst hat. Dich auch? Und wie kam es, dass du ihn auf dem Album haben wolltest? War es schwierig, ihn zu überzeugen?

Lustigerweise war es gar nicht so schwierig, ihn zu überzeugen. Klar bin ich auch mit Gary Numan aufgewachsen und ich kam im Grunde darauf, weil ich schon seit Langem Ade Fenton kenne, der wie auch ich bereits in den 90ern ein Techno-Label bei dem gleichen Vertrieb in England hatte. Irgendwann habe ich dann mitbekommen, dass Ade schließlich der Produzent und Manager von Gary Numan wurde. Und als ich den sehr „dronigen“, dunklen und düsteren Track „Polished Chrome“ fertig hatte, habe ich mir gedacht, ich schreibe ihm einfach mal eine E-Mail und frage ihn, ob er nicht Gary Numan fragen könnte, ob er den Text, den ich geschrieben hatte, über diesen Track lesen könnte. Normalerweise dauern solche Sachen immer ewig, insofern war es schön, dass innerhalb einer Woche schon die Antwort von Ade kam. Er schrieb, dass Gary den Track gut finde und auch die Vocals, was mich natürlich extrem geehrt hat. Dann hat es auch nur noch zwei Wochen gedauert, bis ich ein Audio-File von Gary Numan hatte, in dem er meine Lyrics liest. Das war auch die allererste Vocal-Contribution auf dem Album, die fertig war. Das hat mich schon schwer umgehauen und ich glaube, das war auch gleich am Anfang der Fertigstellungsphase des Albums ein gutes Omen.

 

Apropos Omen. Vor 20 Jahren im Oktober machte das Omen zu. Du hast dort auch lange aufgelegt. Wie bist du dort gelandet und wie würdest du die Zeit im Nachhinein beschreiben?

Ja, im Oktober 1998 spielte ich dort auch am allerletzten Abend noch meinen allerletzten Omen-Gig. Ich bin ins Omen eigentlich mehr oder weniger durch einen totalen Zufall reingerutscht. Ich arbeitete bei Eye Q und saß an einem Sommerabend 1995 nach der Arbeit noch im Büro, als Good Groove (R.I.P.) zu mir ins Büro kam und mir sagte, dass sein DJ-Kollege Pauli leider krank sei, er nicht die ganze Nacht allein auflegen wolle, und fragte, ob ich nicht an diesem Abend Zeit hätte, am Anfang zu spielen. Natürlich war ich dazu bereit. Der Abend kam, ich spielte am Anfang und es lief eigentlich ganz gut, sodass Good Groove mich sogar noch ein paar Stunden länger spielen ließ. Dies wiederum gefiel den Managern ganz gut, die sich dann meine Nummer aufschrieben und mich auch schon in der folgenden Woche anriefen, um zu fragen, ob ich nicht Lust hätte, noch mal dort zu spielen. Das war eine Riesenglückssache, denn ich sehe das Omen heute noch als meine DJ-Schule. Dort habe ich gelernt, Warm-up-Sets zu spielen, dort habe ich gelernt, den Abend für Gast-DJs aufzubauen, den Gast-DJs dann die Hauptzeit zu überlassen und danach wieder die restliche Nacht bis in die Morgenstunden zu gestalten. Das war die beste Schule, die man sich vorstellen konnte. Für Warm-up-Sets, für lange Sets und für kurze Sets. Als Resident-DJ hatte ich dort eine große musikalische Freiheit, da das Publikum mich nach und nach immer besser kannte und mir vertraute. Das war eine der wichtigsten Zeiten in meiner Karriere, diese drei Jahre als Resident-DJ im Omen. Dass seitdem schon 20 Jahre vergangen sind, ist allerdings krass – und ich will keine Minute missen, die ich dort war.

 

KURZ & KNAPP

Dein erstes selbst gekauftes Album:

Survivor – Eye Of The Tiger

Dein erster DJ-Gig:

Mein erster bezahlter DJ-Gig war wohl 1991 im Red Brick, einem kleinen Club in Gießen.

Deine erste Gage:

Das waren 12 DM pro Stunde, eine Mark weniger als der Angestellte bekam, der nur Bier gezapft hat. Mit der Begründung, dass ich neben dem Zapfen auch noch ein paar Platten auflegen durfte.

Mein Ritual vor einem Gig:

Tief Luft holen, einmal kurz in mich gehen, meine Füße spüren. Im Grunde habe ich kein großes Ritual, aber ich versuche, vor den Gigs auch schon mindestens mal 20 Minuten im Hotel zu meditieren.

Deine aktuellen Top-3-Tracks in deinem DJ-Set:

Radio Slave, SRVD, Patrick Mason – Elevate (Rekids)
Robert Hood – Low Life (M-Plant)
Psyk – Voiceprint (Non Series)

Dieser Klassiker geht immer in deinem DJ-Set:

Nagen & Saugen – Deep Throat

 

Aus dem FAZEmag 080/10.2018
Text: Tassilo Dicke
Fotos: Paul Larson 

 

 

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