Jay Lumen – Heimatverbundener Weltenbummler

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Jay Lumen – Heimatverbundener Weltenbummler

Der sympathische Ungar Jay Lumen machte in den letzten Jahren durch seine zahlreichen Releases auf renommierten Labels wie Saved, 100% Pure, Octopus Recordings oder Adam Beyers Drumcode verstärkt auf sich aufmerksam. Dazu kamen die etlichen Chartplatzierungen – insgesamt neunmal ging er auf Platz 1 bei Beatport. 2014 und 2015 sicherte er sich zudem den Ballantine’s Music Award als „Bester Underground DJ“. Es wurde also Zeit, dass auch wir mal ein paar Worte mit ihm wechseln, und welcher Anlass eignet sich dafür besser als das neue, eigene Album? 

Du bist deiner Heimatstadt Budapest nach wie vor treu. Was macht diese Stadt so attraktiv für dich? Könntest du genauso gut in London, Berlin oder Amsterdam leben?

Um ehrlich zu sein, ich lebe sehr gerne hier in Ungarn. Budapest ist nicht nur eine wunderschöne Stadt, sie macht es mir auch sehr einfach, alle anderen Metropolen dieser Welt zu erreichen, was in meinem Fall von großem Wert ist. Natürlich wäre Berlin eine ebenso gute Wahl, denn wie jedem anderen DJ und Produzenten macht es auch mir sehr großen Spaß, dort zu spielen oder einfach nur abzuhängen. Egal über welche Art von Kunst wir sprechen, in Berlin gibt es eine Szene dafür und das auf einem hohen Level! Auch Amsterdam und London gefallen mir gut. In beiden Städten spiele ich oft, zuletzt beim ADE und im EGG London bin ich das nächste Mal im Zuge meiner „Lost Tales“-Albumtour. Aber um noch mal auf Budapest zurückzukommen: Dort bin ich geboren und aufgewachsen und auch bei uns wird Kultur groß geschrieben. Neben einer blühenden Underground-Szene haben wir jedes Jahr große Festivals wie das Sziget, Balaton Sound oder B My Lake. Ich schätze mich glücklich, auf all diesen spielen zu dürfen. Doch Budapest hat auch abgesehen von den zahlreichen Veranstaltungen viel zu bieten, allein unsere neun Donaubrücken sind einen Besuch wert. Es kommt nicht selten vor, dass ich einen Spaziergang über diese Brücken mache und die Aussicht genieße. Das inspiriert mich.

Heute ist Ungarn in der Tat ein Land mit einer stetig wachsenden elektronischen Szene. Ein paar Events hast du ja bereits genannt. Wie stand es denn um die Subkultur zu Beginn deiner Karriere?

Zu meiner Anfangszeit war deeper, progressiver Sound hier gerade sehr angesagt. Jedoch nicht zu vergleichen mit dieser Art von Mainstream-Progressive von heute. Nichtsdestotrotz wurden auch viele Techno- und House-Partys gefeiert, zum Beispiel mit dem Hyperspace Festival, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feierte. Früher feierten wir rund fünfmal die Woche, ich konnte einfach nicht genug bekommen, war süchtig nach neuer Musik und der nächsten Party. Verglichen mit der heutigen Situation, gab es in dieser Zeit mehr besondere Veranstaltungsorte wie kleine versteckte Waldlichtungen, Flugplätze, U-Bahn-Stationen, Kirchen und Brücken. Eine wirklich aufregende Zeit! Heute machen dir die Behörden mit ihren Auflagen und Lizenzen für solche Orte einen Strich durch die Rechnung. Damals gierte ich nach neuen Sounds ganz egal welcher Genres, ich war offen dafür und das hat sich bis heute auch nicht geändert. Ich begann also auch, erste eigene, tanzbare Tracks zu produzieren, und probierte mich in Deep Techno wie Trance. Das war lange bevor ich realisierte, dass mein Produzentenherz für Techno und Tech-House schlägt. Doch ich hatte Glück, denn von Beginn an bekam ich eine Menge Bookinganfragen und so konnte ich der Welt meinen Sound präsentieren.

Ein musikalisches Grundverständnis hattest du dir bereits zuvor mit der Geige angeeignet, richtig?

Ja, das ist richtig. Als Kind ging ich auf eine spezielle Musikschule und lernte dort acht Jahre lang klassische Instrumente kennen. Im Alter zwischen 10 und 11 veränderten sich meine Interessen langsam. Meinen ersten richtigen Schritt in die Richtung eines professionellen Musikproduzenten machte ich, als ich mir den Synthesizer eines Klassenkameraden auslieh und ein Chill-out-Album schrieb. Dazu benutzte ich lediglich einen einfachen Casio CTK 750 Synthie. Es war nicht besonders gut, aber der Anfang meines Produzentendaseins! (lacht)

Der Anfang einer sehr ereignisreichen Laufbahn! Vor wenigen Wochen erschien nun auch dein erstes Album auf deinem eigenen Label Footwork. Welche Geschichten verbergen sich hinter den „Lost Tales“?

Ich freue mich sehr über die Veröffentlichung des Albums. Der Entstehungsprozess war im Vergleich zu den meisten anderen Alben ja eher unüblich. Mit einigen der Tracks habe ich bereits vor ein paar Jahren begonnen, ich habe sie aber nie fertig ausproduziert. Wiederum andere Tracks waren bereits fertig, konnten sich bei einer früheren Auswahl aber nicht durchsetzen. Ihr Sound passte nicht zu den übrigen Tracks einer meiner vorangegangenen EPs. Die übrigen Nummern waren das Ergebnis von Ideen, die mir schon länger im Kopf umherschwirrten, aber bisher nicht fruchteten. Erst bei der eigentlichen Arbeit und Ausarbeitung des Albums fiel mir die Menge an angefangenen Ideen und unfertigen Projekten auf, die sich mit der Zeit angesammelt hatte. Das gab mir einen solchen Motivationsschub, dass ich beinahe vergaß, zu essen und zu schlafen. Es gelang mir, das Gefühl und den Klang einzelner Skizzen zu rekonstruieren, wodurch auch neue Ideen entstanden. Das Ganze war eine interessante innere Reise für mich, die ich über mehrere Monate hinweg sehr genossen habe. Nun bin ich imstande, meine beinahe in Vergessenheit geratenen Geschichten zu erzählen.

Welches Equipment kam bei den „Lost Tales“ zum Einsatz?

Ich arbeite mittlerweile fast ausschließlich digital. Ich benutze ein E-MU Keyboard und meinen Rechner mit Unmengen an Plugins, VSTis und so weiter. Zuvor besaß ich einen Virus TI und eine Roland MC 303 Groovebox, womit sich wunderbares Zeug produzieren lässt. Ich verkaufte beide Geräte zu einer Zeit, in der ich noch wenig Erfahrung und Know-how besaß und du weißt ja, wie das ist: Ich brauchte einfach diese neuen Platten! Heute bevorzuge ich die Moog-VSTis. Der Sound des originalen Moogs ist einfach legendär. Auch die Arturia-Synthesizer stehen bei mir hoch im Kurs. Ich könnte jetzt noch über weitere Plugins referieren, aber das sprengt wohl den Rahmen. Ich habe jedoch bei diesem Album mehr mit Synth-Melodien gearbeitet, als ich es normalerweise mache, ich habe mich da an einigen neuen Sounds ausprobiert.

Wäre denn ein Live-Set interessant für dich?

Das ist auf jeden Fall ein reizvolles Projekt für die Zukunft, doch im Moment arbeite ich unter der Woche so intensiv im Studio, dass ich es auch als eine sehr willkommene Abwechslung sehe, am Wochenende das DJ-Dasein auszuleben. Auf der anderen Seite kann ich von mir behaupten, dass meine Fähigkeiten an den Decks und im Studio auf demselben Level sind. Das DJing an sich ist jedoch nach wie vor meine große Leidenschaft und ich genieße es, meine Sets wie eine Geschichte aufzubauen, wenn die Zeit es zulässt.

Dein Beruf bringt dich an viele Orte dieser Welt. Doch jedes Wochenende zu reisen, ist anstrengend für Körper und Geist. Wie hältst du dich in Form und das Kreativitätslevel hoch?

Zugegeben, in den letzten paar Jahren kam ich kaum noch dazu, Sport zu machen. Durch die Menge an Gigs und den wenigen Schlaf hatte ich einfach keine Motivation mehr für so etwas. Zuvor jedoch war ich sehr diszipliniert, war mindestens dreimal die Woche im Fitnessstudio, betrieb Ausdauertraining und Muskelaufbau über die letzten zwölf Jahre hinweg. Ich möchte das jetzt nicht alles auf mein DJ-Dasein schieben, aber in meiner jetzigen Phase spielt das gerade eine eher kleinere Rolle. Doch es ist wirklich ein gutes Gefühl, wenn man Fortschritte durch Training und einen aktiveren Lebensstil feststellen kann. Ich schätze, ich werde früher wieder im Fitnessstudio sein, als ich es mir gerade vorstellen kann. Um mich mental fit zu halten und meine Kreativität anzuregen, lege ich gesteigerten Wert darauf, meine Ohren „sauber“ zu halten. So höre ich mir zum Beispiel keine elektronische Musik mehr im Auto an. Ich bin großer Fan von Sinfonieorchestern und Filmmusikkomponisten wie John Williams, Alan Silvestri, Klaus Badelt, Hans Zimmer oder Danny Elfman. Aus dieser Musik gewinne ich eine Menge Inspiration. Versteh mich nicht falsch, ich liebe die elektronische Musik, höre sie täglich, aber mit diesem breiten Spektrum an Musik halte ich mich mental gesund.

Das Jahr neigt sich nun so langsam dem Ende zu. Wenn du deine Erlebnisse Revue passieren lässt, was kommt dir als erstes in den Sinn?

Ich denke, zu den aufregendsten und eindrucksvollsten Momenten zähle ich mein Set beim Mystic Garden Festival in Amsterdam. Ich spielte auf der Open-Air-Stage und war gerade etwa bei der Hälfte meines Sets angelangt, als das Wetter umschlug und es begann, wie aus Eimern zu regnen. Es war wirklich grauenhaft! Zu meiner Überraschung jedoch verließ kein Einziger die Tanzfläche, um sich ein trockenes Plätzchen zu suchen. Alle tanzten weiter und die Crowd wurde zu einer großen Party-Family. Einfach überwältigend! Andere tolle Momente hatte ich zum Beispiel im Pacha in Buenos Aires. Eine verrückte Party mit einigen Tausend Gästen, die mich wie den größten Superstar behandelten. Eine junge Frau kam dort zu mir und meinte, dass sie nun schon seit vier Jahren auf diese Party mit mir gewartet und jede andere Veranstaltung in der Zwischenzeit abgesagt hätte.

Und wie sehen deine Pläne für 2017 aus?

Nun, meine Albumtour hat zwar bereits begonnen, doch auch 2017 werde ich noch an einigen Stationen haltmachen. Das BPM Festival und die WMC habe ich auch auf dem Zettel. Daneben steht eine Asien- und Australien-Tour an und ich freue mich auf Gigs in ganz Europa und Südamerika. Was weitere Veröffentlichungen und mein Label angeht, arbeite ich bereits an einigen neuen Ideen und werde euch auf jeden Fall auf dem Laufenden halten!

Aus dem FAZEmag 057
Text: Gutkind