Jean-Michel Jarre – Nostalgie und Futurismus

Foto: Francois Rousseau

Konzeptionell. Ambitioniert. Bahnbrechend. Dies sind nur einige wenige Eigenschaften, die wir dem nunmehr 22. (!) Album des französischen Elektronikmusik-Pioniers Jean-Michel Jarre zuschreiben. „Oxymore“, so der Name seines neuesten Geniestreichs, wurde als erste kommerzielle Veröffentlichung dieser Größenordnung in mehrkanaligem, binauralem Audio aufgenommen und dürfte allein deswegen derartige Wellen schlagen, die sich so mancher Surfer in Nazaré nur erträumen könnte. Doch „Oxymore“ begeistert nicht nur aufgrund seines technischen Aspekts. Es ist – getränkt in Jarres Herzblut – ein überaus persönliches Album, das der Großmeister dem französischen Komponisten Pierre Henry gewidmet hat.  Wieso, weshalb, warum? Im Interview erfahrt ihr mehr.

Hallo, Jean-Michel! Zum Zeitpunkt unseres Interviews befinden wir uns einen Tag vor der Veröffentlichung von „Oxymore“. Wie geht es dir so kurz vor dem Albumstart und was machst du eigentlich am Release-Day?

Mir geht es gut und ich bin tatsächlich ein wenig aufgeregt, weil „Oxymore“ für mich ein wahrlich besonderes Release ist. Gleichzeitig bin ich aber auch sehr erleichtert, dass das Album nach vielen anstrengenden Wochen endlich erscheint. Aktuell befinde ich mich noch in Berlin, fliege jedoch später zurück nach Paris, wo mich ein Tag voller TV-, Radio- und Promo-Termine anlässlich des Releases erwartet.

Der Titel „Oxymore“ erweckt Assoziationen zu deinem zeitlosen Album „Oxygene“ aus dem Jahre 1976. Gibt es wirklich einen Zusammenhang oder führt der Name uns in die Irre?

Darauf wurde ich wirklich häufig angesprochen. Um ehrlich zu sein: Der Bezug zu „Oxygene“ kam mir erst einmal gar nicht in den Sinn. Die beiden Alben sind insofern miteinander verbunden, als dass es beides meine Kreationen sind und ich jeweils einen sehr unvoreingenommenen, experimentellen Ansatz gewählt habe – eine Reise ins Unerforschte. Dennoch denke ich, dass „Oxymore“ aufgrund seiner Tendenz zur elektroakustischen Musik eher zu „Zoolook“ (1984) passt, das sich primär dem reinen, rohen Klangmaterial widmete.

Ein gutes Stichwort. Die Seele des Albums ist schließlich eine Hommage an den französischen Komponisten Pierre Henry, der als früher Vertreter der Musique concrète gilt, jenem Kompositionsgenre, das aufgenommene Klänge als Rohmaterial verwendet. Erzähl uns etwas über deine Beziehung zu Henry. Er war ja eine große Inspirationsquelle für dich, oder?

Das ist richtig. Als ich meine ersten Produktionen in Surround-Sound bzw. mehrkanaligem Audio aufnahm, machte ich die Entdeckung, dass er sich bereits in den 1940er-Jahren auf revolutionäre Art und Weise mit diesem Konzept beschäftigt hatte. Wir kamen in Kontakt und hatten ursprünglich die Idee, gemeinsam an meinem „Electronica“-Projekt zu arbeiten. Henry erkrankte jedoch schwer und die Kollaboration kam nie zustande. Seine Witwe stellte mir später einige Aufnahmen zur Verfügung, die Henry mir nach seinem Tod im Jahre 2017 hinterlassen hatte. Das war sehr bewegend für mich und ich entschied mich, diesem großartigen Mann und seiner Herangehensweise an moderne und elektroakustische Musik einen Tribut zu zollen.

Du hast sein Konzept also aufgenommen und es für „Oxymore“ neu erfunden. Ist das richtig?

Neu erfunden vielleicht nicht, aber ich habe es definitiv ergänzt, indem ich die akustischen Fragmente mit dem digitalen Äther verknüpft habe. Musique concrète war für mich immer ein Genre, das auf schweren und zarten Aspekten aufbaut. Für das Album habe ich also versucht, diese beiden Komponenten einzubinden. Es ist eine Melange aus starken, kräftigen und rohen Sounds, die auf filigrane, komplexe subtile Klanglandschaften treffen.

Mit Pierre Shaeffer gibt es eine weitere Figur, die über dem Album schwebt. Inwiefern hat er dich beeinflusst?

Pierre Shaeffer war mein Mentor an der Pariser Groupe de Recherches Musicales – kurz: GRM – wo ich 1969 studierte. Shaeffer und Henry waren die ersten Menschen, die uns vor Augen führten, dass Musik nicht nur aus Noten, sondern auch aus Klängen und Geräuschen besteht, was wiederum bedeutet, dass alles, was in irgendeiner Form einen Ton von sich gibt, in Musik verwandelt werden kann. Das mag heutzutage selbstverständlich klingen, war es früher allerdings nicht. Jede Band verwendet heute Musique concrète. Es sind Samples, und Shaeffer und Henry haben sie miterfunden.

„Es ist ziemlich interessant, um was es bei Avantgarde geht. 30, 40 Jahre später wird es klassisch, aber diese Jungs waren die wahre Avantgarde der Musik dieser Tage. Meiner Meinung nach sogar mehr als all die minimalistischen Komponisten aus den USA, denn sie haben die Sprache und Grammatik der elektronischen Musik des 21. Jahrhunderts festgelegt.“ – Jean-Michel Jarre über Pierre Henry und Pierre Shaeffer

Beim Hören des Albums ist uns unter anderem die Leadsingle „Brutalism“ in Erinnerung geblieben …

Ein für meine Verhältnisse recht harter Track und in gewisser Hinsicht auch meine ganz persönliche Herangehensweise an Techno. Mit „Brutalism“ wollte ich an Berliner Institutionen wie das Berghain erinnern. „Brutalism“ ist ein recht apokalyptischer Track und steht sinnbildlich für die Zeit nach dem Mauerfall, als eine ruckartige Zeitenwende mit Knalleffekt eintrat und Chaos hinterließ. Gleiches galt im Übrigen auch für die Musique concrète in den 1940er-Jahren, als sie die Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs aufsog und kanalisierte.

„Oxymore“ ist die erste kommerzielle Veröffentlichung dieser Größenordnung, die einen mehrkanaligen, binauralen Sound verwendet. Die Rede ist auch von „360-Grad-Audio“. Was hat dich dazu bewegt, das Album mit dieser Technik aufzunehmen?

Wir sind an den Standard des Stereo-Sounds gewöhnt, doch tatsächlich existiert Stereo im wirklichen Leben überhaupt nicht, denn unser hörbares Audiofeld beträgt 360 Grad. Zum Vergleich: Unser Sichtfeld beträgt 140 Grad. Das bedeutet, dass Immersion immer erst durch das Hörbare entsteht und nicht nur das Sichtbare. Dank innovativer Technologien haben wir heute die Möglichkeit, Kompositionen im räumlichen Klang auszuloten und dadurch völlig neue kreative Erfahrungen zu machen. Das wollte ich mir zunutze machen und ich bin überzeugt, dass mehrkanalige und binaurale Klangformate die Zukunft bestimmen werden.

Zum Release des Albums wirst du zudem deine Virtual-Reality-Welt namens „Oxyville“ ins Leben rufen. Was hat es denn damit auf sich?

Oxyville ist eine virtuelle Musikstadt irgendwo zwischen Metropolis und Las Vegas. Sie wird als Austragungsort von Events und Masterclasses ausgewählter Künstler und Künstlerinnen dienen, die meiner Einladung nach Oxyville folgen. Ich möchte, dass es eine Art Sandkasten für neue Musikerfahrungen wird.

„Ihre Architektur besteht aus kaputten Teilen alter analoger Synthesizer und früher Tonbandgeräte. […] Es gibt für jeden Track einen anderen Stadtteil und am Ende wird man automatisch in den nächsten teleportiert. Oxyville soll eine Sandbox für Musiker und Musikerinnen werden, wo sie zusammenarbeiten und mit eigenen Avataren eine Weile lang eine Residency haben können.“ – Jean-Michel Jarre über Oxyville

Mit welchen Highlights wirst du das Jahr 2022 beenden?

Ich freue mich unglaublich auf meine „Oxymore“-Showcases und darauf, mit dem Projekt zu experimentieren. Neben „normalen“ Konzerten wird es zudem Hybrid-Konzerte in VR geben. Ich bin sehr gespannt!

„Oxymore“ ist am 21. Oktober via Columbia erschienen.

Aus dem FAZEmag 129/11.2022
Text: Hugo Slawien
Foto: Francois Rousseau
www.jeanmicheljarre.com