Nature One 2017 – ein Festivalrückblick in Echtzeit

natureone2017

 

Nature One 2017 – die schönste Zeit des Jahres, ganz frisch liegt sie hinter uns. Lest hier einen Festivalnachbericht in Tagebuchform, viel Spaß!

Hard Facts:
Wann: 4. bis 6. August 2017 (Freitag bis Sonntag), Camping von 3. bis 7. August 2017
Set-Times: Freitag 20 bis 6 Uhr und Samstag 18 bis 8 Uhr
Wo: ehemalige Raketenbasis Pydna, Kastellaun/Hunsrück
Findet statt seit: 1995 (Flughafen Hahn), 1996 (Pydna)
Motto 2017: „We Call It Home“
Floors & Styles: Open Air Floor (vorwiegend Trance, Progressive, EDM), Century Circus (Techno), Classic Terminal (Rave-Klassiker), House of House (House, Minimal)
Eintrittspreis: 92 Euro (Standard-Festivalticket für 2 Tage) + 25 Euro Camping

„Och, neee. Echt jetzt? Aufstehen? Ist doch erst 6 Uhr morgens, menno. Ich hab keinen Bock auf arbei… – Moment mal!“ Ich schaue panisch auf mein Handy und schalte hibbelig den Wecker aus. Und dann, dann stehe ich kerzengerade im Bett.
„Yeah, ist ja Nature One!“
Ich entknote die Bettdecke, reiße sie von mir, springe auf, öffne meine Schlafzimmertür und renne ins Wohnzimmer, wo sich seit gestern Abend zwei gute Freunde auf meinem Sofa eingenistet haben: Yannick und Marcel aus Hamburg, die ich vor zig Jahren im Gay-Bunker der Nature One (Vogue Club) kennengerernt hatte, und die kurz nach dem Festival ein Paar wurden. Und es bis heute sind.
„Aufstehen, Mädels! Highheels anziehen, Schminkköfferchen packen und hopp, hopp, hopp! Is´ Nature One!“
Die zwei reiben sich den Schlaf aus den Augen und sehen mich so geistesabwesend und verdutzt an, als hätte ich ihnen gerade gesagt, dass wir zu einem Helene-Fischer-Konzert statt zur Nature One fahren würden.
„Alter, viel zu früh!“
„Los jetzt, keine Zeit verlieren, ihr Schmusetiger! Unterbodenwäsche, Zelt & Co. ins Auto laden und auf ins Nature-One-Land! In drei Stunden treffen wir die anderen am Rasthof „Ville“ an der A1. Und ihr wollt ja vorher noch ´nen Coffee to go und Frühstücksbrötchen holen, wie ich euch kenne.“

Um Punkt 9 Uhr hat sich doch tatsächlich die ganze Truppe im hinteren Bereich des Rasthofs eingefunden: die besten Freunde Mario und Lukas aus Dortmund, die Partymäuse Anna und Lena aus Düsseldorf, Melli und ihr Ex Hendrik aus Kiel. Die Sofasurfer Yannick und Marcel. Und ich, aus einem Kaff zwischen Köln und Aachen. Mein Kumpel Moritz fällt dieses Jahr leider aus. Komplizierte Unterschenkelfraktur. Sag ich doch immer: Sport ist Mord.
Aber jetzt: Abfahrt! Nature One, wir kommen!

„Welcome Home“ – so steht´s geschrieben in großen Lettern auf in Plastik umhüllten Heuballen. Das Stop & Go nutzen und schnell einen Schnappschuss mit dem Handy machen.
„Endlich zuhause“, denke ich und freue mich, dass wir ohne Stau die Einfahrt zum Camping Village passieren können. 25 Euro „Parkgebühr“ plus 5 Euro Müllpfand bereithalten, die wir nach Rückgabe eines vollen, blauen Müllsacks zurückerstattet bekommen. Dann sich von den Ordnern die Unterkunft für die nächsten vier Tage zeigen lassen. Aha, Feld bzw. Wiese F6 ist es dieses Jahr. Mein Zelt ist ratzfatz aufgebaut und ich helfe den Mädels – also, Anna und Lena! Nicht Yannick und Marcel! – beim Aufbau ihrer mobilen Unterkunft. Da wir seit einigen Jahren in dieser Combo zur Nature One düsen, sind wir halbwegs Profis und wissen unsere Zelte anzuordnen: im Kreis. In die Mitte kommt der Pavillon, an den Rand der Grill. Die Autos rückwärts eingeparkt, um den Kofferraum mit den Getränken, Snacks, Geschirrtüchern, Campingkocher etc. schnell erreichen zu können.
Dort, wo sonst in aller Ruhe die Hunsrückkühe grasen, soll für die nächsten Tage technoider Ausnahmezustand herrschen – bis dann nach der großen Sause wieder Kuhglockengebimmel statt schweinegeiler Bass zu hören sein wird.
Zisch …! Das erste Mixery wird traditionsgemäß geöffnet, nachdem alle Zelte aufgebaut, alle Campingstühle aufgeklappt, alle Luftmatratzen aufgepumpt oder Feldbetten aufgestellt sind.
„Willkommen zuhause, Leute!“, erhebe ich heroisch die Dose und wir prosten uns gegenseitig zu.
Das ist es, was wir „Zuhause“ nennen: Das friedvolle Cometogether, das einmal im Jahr stattfindet und unsere bunt zusammengewürfelte Partytruppe aus ganz Deutschland vereinen lässt, um eine großartige und ausgelassene Party zu feiern. Das ist es, was das Leben lebenswert macht. Das ist es, das befreiende Gefühl, dem nervigen Chef, den spießigen Nachbarn und der nörgelnden Qualverwandtschaft für vier Tage und drei Nächte zu entfliehen. Das grenzenlose Wir-Gefühl. Nature One – das ist Familie!
Das Gefühl, den Alltag endlich einmal Alltag sein zu lassen. Für den heißt es hier nämlich „Zutritt verboten!“. Hier sind wir angekommen, unter Freunden und Gleichgesinnten, die nur eins wollen: Gemeinsam Spaß haben. Spaß an dem, was uns alle vereint: die Liebe zur elektronischen Musik und die Freiheit des unbeschwerten Lebensgefühls. Da sind wir. Angekommen. Zuhause. Manche nennen es Felder, Wiesen und eine Raketenbasis. We call it home.

Der blaue Himmel mit seinen Schäfchenwolken, die saftigen, grünen Wiesen der leicht hügeligen Hunsrück-Landschaft – sie sind die perfekte Kulisse, um sich die kross gebrutzelten Bratwürstchen, die perfekt auf den Punkt gegarten Steaks und die goldbraun gebackenen Kräuterbaguettes schmecken zu lassen. Okay, okay … manche Würstchen waren gelinde gesagt etwas verbrannt, das ein oder andere Steak noch blutig und das Hähnchenfilet etwas zu durch. Aber egal! Wenn wir gleich rübergehen zum Mixery Opening, können wir uns bei Pizza Mario immer noch eine Margherita reinpfeifen.
„Ganz schön fett, was die hier wieder mal soundtechnisch aufgefahren haben“, schoss es mir spontan durch den Kopf, als meine Truppe und ich auf dem rappelvollen Dancefloor beim Mixery Opening ankommen. Ein perfekt ausgesteuertes Klangerlebnis. Zugegeben: Die Lichtshow kommt etwas spartanisch rüber. Aber gut, das war bisher immer so, dass das Licht hier eher so la la ist. Ist ja auch nur für eine Nacht, von Donnerstag, 20 Uhr, bis irgendwann frühmorgens.
Apropos frühmorgens: Es ist so kurz vor 5 Uhr, als Yannik, Marcel und ich völlig geplättet an unseren Zelten ankommen. Die anderen hatten wir im Trubel irgendwo zwischen F1, dem Wiedereinlassbändchen-Stand und den Duschen verloren. Aber halb so wild. Wir drei hatten trotzdem unseren Spaß und feierten vor meterhohen Sound- und Lichtanlagen, die teilweise sogar mit Laser ausgestattet waren, die sich tief in den nur leichtbewölkten Nachthimmel bohrten. So professionelle Anlagen, die es fast mit dem Equipment des Mixery Opening aufnehmen konnten. Fast!
Von quasi überallher hört man noch immer Tracks durch die Nacht hallen. Von der trancigen Hommage „In the End“ an den verstorbenen Linkin-Park-Sänger Chester Bennington über den Gänsehaut-Technotrack „Hoipolloi“ bis hin zur Spongebob-Hardstyle-Version „Schokolade“. Aber, äh …: Wenn man die drei Tracks sodann zeitgleich hört, weil Track Nummer Eins von unseren holländischen Zeltnachbarn kommt, Track Nummer Zwei die Jungs aus Bottrop auflegen und Track Nummer Drei von der Partycrew aus Berlin in Richtung unserer Zelte rüberschallt – was ist das dann bitteschön? Mashup 2.0 oder doch nur ein wirres Bassgewitter? Der Elchtest fürs Trommelfell?
Wie auch immer. Leise – der Begriff existiert hier nicht. Wer chillen will, muss entweder daheim bleiben oder ab morgen (Freitag) mit dem Shuttlebus ins nahegelegene Städtchen Kastellaun fahren. Zum Duschen. Zum Schwimmen. Zum Shoppen. Zum Einfach-mal-ein-oder-zwei-Stunden-die-Ohren-Schonen. An eine geruhsame Nacht ist natürlich selbst mit Ohrstöpsel nicht zu denken. Ich wäre ja schon froh, zumindest drei Stunden lang die Augen zumachen zu können und mit In-Ears bei einer Hörspielfolge „Die drei ???“ kurzweilig ins Land der Träume einzutauchen – ehe mich die ersten Sonnenstrahlen küssen und mein Zelt so dermaßen aufheizen sollen, dass ich mich völlig verschlafen, zerknittert und zerknautscht nach draußen robbe, wo der Großteil meiner Truppe bereits am Campingtisch sitzt und mich mit frisch gebrühtem Kaffee empfängt.

Der Moment, wenn du die Wiesen des Camping Villages verlässt und auf die Feldwege abbiegst. Der Moment, wenn aus dem Schotterweg eine asphaltierte, schmale Straße wird, die entlang der Pydna läuft. Der Moment, wenn du die Beats auf der ehemaligen Raketenstation hören kannst und sie mit jedem Schritt lauter werden. Der Moment, wenn du die ersten Lichtblitze über die Mauer und den Stacheldraht schießen siehst. Der Moment, in dem du dir vor Augen hältst, dass auf dem einst kriegerischen Posten heute ein friedliches Fest gefeiert wird. Der Moment, indem du realisierst, dass hinter den hohen und dicken Mauern bis 1987 die US-Army 96 atomsprengkopfbestückte Cruise Missiles lagerte und 30 Jahre später nur noch Feuerwerkskörper abgeschossen werden. Der Moment, indem du weißt: Es ist nicht mehr weit bis zur Pydna. Nicht mehr weit, bis du das Flugzeug am Eingangsbereich siehst und dir bewusst wird: Gleich geht´s los. Abfahrt!
„Falls wir uns bei der Ticketkontrolle verlieren: Treffpunkt ist wie jedes Jahr das große Nature-One-Plakat, kurz hinterm Security-Check, wo wir auch unser alljährliches Gruppenfoto machen“, koordiniere ich meine Truppe.
Nachdem wir alle „Cheeeeese“ gesagt haben und Melli, Anna und Lena noch mal kurz für kleine Mädchen mussten, steuern wir zielgerichtet den Open Air Floor an. Je näher wir dem monströsen Traversenkonstrukt kommen, desto mehr stellen sich mir meine nicht vorhandenen Nackenhaare auf. Unglaublich, welcher Technikkoloss sich da bereits aus der Ferne auftut. Ich werde unbewusst schneller und schneller. Will unbedingt aus der Nähe sehen, was sich da über die Köpfe von bis zu 10.000 Personen erstreckt.
„Yannick, Marcel und ich gehen schon mal vor. Wir treffen uns dann üblicherweise hinten an der Mixery-Bar bei den LJs“, sage ich im recht lauten Ton zum Rest der Gruppe. Laut deshalb, weil uns natürlich von den Promo-, Sonnenbrillen- und Tattooständen jede Menge Beats entegenknallen. Und auch der Open Air Floor ist nicht zu überhören. Geschweige denn zu übersehen.
Es muss ein statisches Meisterwerk sein, was dem Freund der elektronischen Tanzmusik hier geboten wird. Eine Art Truss-Hochhaus, das mit einer Grundfläche von 28 Metern Länge und 28 Metern Breite plus einer Höhe von mehr als 20 Metern einen imposanten Eindruck auf mich macht. Die Konstruktion ist so schwer wie 40 Exemplare meines 1er BMW und wird lediglich von vier Pfeilern gestützt, die den Boden berühren. Alles andere – sprich die knapp 1.000 Meter lange Traversenkonstruktion, das fast 500 Meter lange LED-Band, das das Konstrukt umrandet, und die rund 300 MovingLights – schwebt sozusagen über dem Dancefloor und setzt ihn ehrwürdig in Szene. Von „dezent“ kann auch auf der annähernd 30 Meter breiten und 20 Meter hohen Bühne keine Rede sein. 29 LED-Flächen, die insgesamt doppelt so groß sind wie meine Wohnung: 160 Quadratmeter.
Ich stehe im hinteren Bereich des Open Air Floors, zwischen LJ-Deck und Mixery-Bar, als mir Yannick unsanft in die Seite stößt.
„Alles klar?“
„Jip“, sage ich. „Ich bin nur völlig geflasht von dem, was ich hier sehe. Können wir mal ein paar Meter weiter nach vorne gehen?“
Meine Bitte wird erwidert und so finde ich mich wenige Augenblicke später inmitten der großen Tanzfläche unter freiem Himmel, schließe meine Augen und genieße einfach den Moment des grandiosen Klangs. Nirgendwo ist der Sound besser als draußen bei Mutter Natur. Nirgendwo ist er klarer, brillanter, fühlbarer. Ekstase pur. Ein Ohrgasmus!
Leider war die Musikauswahl des DJs nicht unbedingt meins. EDM? Nein danke. Trance aus UK? Ja, bitte! Somit war ich happy hoch zehn, dass ich Cuebrick nur wenige Minuten hören musste, ehe er sich verabschiedete und die große Bühne Above & Beyond übergab. Cuebrick, der 2017 übrigens hinter dem Nature One Inc.-Projekt steckt und sich für die Hymne verantwortlich zeigt. Above & Beyond, eigentlich ein irisch-britisches Trio, das bei Live-Performances jedoch als Duo auftritt.
Ich liebe die Symbiose, wenn Licht und Sound so erstklassig miteinander verschmelzen wie in diesen anderthalb Stunden, von Mitternacht bis halb zwei. Die insgesamt zwölf Vollfarblaser waren auf den Punkt genau gesteuert und auch die Sharpys und Washer verpassten so gut wie keinen Einsatz. Ganz ehrlich? Lob an das bis zu elfköpfige Team von Chef-Licht-Designer Thomas Gerdon. Wer vor zwei, drei Jahren durchaus Grund zu meckern hatte, was die Lightshow anging, kommt dieses Jahr voll und ganz auf seine Kosten und erlebt eine atemberaubende Vorführung an Licht und Laser, LED-Technik, Flamejets, Visuals und Strobos. All das in einer umwerfenden Kulisse: Unter der Traversenkonstruktion, die mit insgesamt 30 Metern genauso hoch ist wie der Turm der Pydna.

„Ich schmeiß ´ne Runde Mixery Lemon!“
Die Einladung von Mario nehmen wir alle gerne an. Nach dem Öffnen und Zuprosten des promillehaltigen Gerstensaftes quetschen wir uns durch die Massen des Open Air Floors. Klar, das Set von Markus „Global DJ Broadcast“ Schulz wollen wir uns nicht entgehen lassen. Wenngleich ich kurz darauf auch etwas enttäuscht bin vom gebürtigen Deutschen, der seine Zelte seit vielen, vielen Jahren in den sommerlichen Gefilden von Miami aufgeschlagen hat. Warum? Weil er leider Tracks spielt, die irgendwie schon „abgenudelt“ sind. Logisch, er nutzt die Gelegenheit, in eigenem Interesse eigen-produzierte Titel ineinanderzumischen – aber irgendwie fehlt mir einfach der Drive. Das Neue. Der Kick. „Feiern ja. Abgehen nein.“, so mein Resultat.
Ziemlich abgedreht hingegen ist dann das, was Netsky 90 Minuten später so aus den Boxen erklingen lässt. Eine ziemlich coole Mischung aus abstrusem Trance, strangen Breakbeats und uncontrolled Shouts seines Homies Script MC. Das Set ist vielleicht nicht unbedingt tanzbar, aber absolut hörenswert. Perfekt zum Sound: Das perfekte Licht.
Als ich mit den Jungs im zweiten Drittel von Netsky doch tatsächlich noch rübergestapft bin zum Century Circus, haben mir meine Füße schlichtweg den Vogel gezeigt. Aber ich resigniere.
„Mist, Len Faki verpasst“, ärgere ich mich. Zugleich ziehe ich meine Augenbrauen hoch und stelle meine Lauscher auf Empfang. Das, was Ben Klock da gerade abliefert, ist Ohrenschmaus deluxe. Feinster, straighter „auf die 12“-Techno. Feinste House-Klassiker aus den Untiefen der 90er Jahre hingegen gab es gut vier Stunden zuvor im Classic Terminal zu hören, wie ich mir von Anna und Lena erzählen lasse. Kein Geringerer als Tom Novy sorgte für eine phantastische Zeitreise. Augen zu und an früher denken. Damals, als ich gerade volljährig war und diese großartige Zeit live miterleben durfte.
„Nicht ganz so prall“, sagen Mario und Lukas, „war das Set von Mark´Oh. Die Tracks, die er spielt, sind schon sehr, sehr geil. Aber immer dieses MC-Gelabere … das könnte sich Mr. „Love Song“ doch einfach mal sparen. Kann dem nicht mal irgendeiner erklären, dass das uncool ist?!“
Wie bereits angedeutet, haben mir meine Beine längst den Mittelfinger gezeigt. Und irgendwie überkommt mich plötzlich ein kleines Hüngerchen und mein Gehirn sendet die Botschaft „Ihr müsst noch warten“ in Richtung meiner Adidas-Treter. Ein paar Fritten. Gute Idee. Fingerfood zum Mitnehmen. So kommt es, dass ich mich zusammen mit den besten Freunden Mario und Lukas und dem Pärchen Yannik und Marcel auf den Weg von der Pydna zum Zeltplatz mache. Laufzeit: Mindestens 30 Minuten. Die anderen Jungs entschieden sich übrigens nicht für Pommes, sondern für Kost aus Fernost. Und Pasta. Basta.

„Hast du gewusst, dass das Gelände der Pydna so groß ist wie 50 Fußballfelder?“, gebe ich vor meiner Partytruppe an und beiße in ein Toast mit Salami und Scheiblettenkäse.
„Und das Camping Village ist mit 100 Hektar dreimal so groß wie die Pydna!“, nimmt mir Mario den Wind aus den Segeln und setzt noch einen obendrauf.
„Alles klar, Einstein!“, zwinkere ich ihm zu und rechne fest damit, dass ich nach der folgenden Info als Klugscheißer abgestempelt werde: „Beim Aufbau der Nature One sind täglich 800 Leute im Einsatz und während der Veranstaltung 2.000! Insgesamt arbeiten vorher, während und nachher fast 5.000 Personen am Festival!“
„Woher hast du das denn?“, erkundigt sich Lukas, dem sein liebevoll geschmiertes Toast mit Marmelade ins Gras fällt. „Verdammt!“, verleiht er seinem Ärger Ausdruck.
„Ich kenne einen Pressefuzzi, der für ein Magazin einen Bericht schreibt und Interviews führt“, erklärte ich mich, ohne auf das ungenießbare Marmeladentoast einzugehen. Ungenießbar? Denkste! Lukas entfernt die Grashalme und beißt so genüsslich ins Toast, als würde er ein Fünf-Gänge-Menü von Starkoch Jamie Oliver verzehren.
„Könnt ihr mal mit der Fachsimpelei aufhören und mir einen Kaffee machen?“, meckerte Lena, nachdem sie aus dem Zelt gekrochen war. „Und habt ihr eigentlich gewusst, dass die zwei Hochleistungs-YAG-Laser über dem Open Air Floor eine Reichweite von bis zu elf Kilometern haben und selbst im hochtechnisierten Zeitalter 2017 noch mit Wasser gekühlt werden müssen?“, setzte die eigentlich so technisch unversierte Lena unserem Talk die Krone auf.
„Was geht´n jetzt?“, werfe ich fragend in die Runde, starre Löcher in die Luft und Lena mit großen Augen an. Die weicht meiner rhetorischen Frage mit „Na, ihr zwei, auch schon wach?“ aus und bezieht sich damit auf Yannick und Marcel, die gerade aus ihrem Zelt kriechen und aussehen, als hätten sie bei Wacken die Bierpipeline alleine leergesoffen.
Jetzt, in dem Augenblick, in dem ich diese Zeilen gerade tippe, fällt mir auf: Die Antwort auf die Frage, woher Lena die Infos über die zwei Laser hat, bleibt sie mir bis heute schuldig.

Die „23“ ist am Samstagabend auf dem Festivalgelände für mich persönlich eine magische Zahl. Es ist die 23. Ausgabe der Nature One. Es ist gerade 23 Uhr, als ich im Century Circus dem grandios technoiden wie fast schon monotonen-progressiven Set von Sam Paganini lausche. „Durst“, lautet mein Gedanke. So gehe ich mit meinen noch 23 verbleibenden Bons zur Bar, die im Zirkuszelt vor dem LJ-Deck angesiedelt ist und hole für mich, Yannick und Marcel ein Bier. Skull!
„Meine Fresse, der Italo-Sam haut einem aber auch auf exzentrische Art und Weise die Beats um die Ohren! Wahnsinn!“, entfährt es mir, was Marcel nur mit einem „Bämm!“ erwidert und in Partymanier die rechte Faust in die Höhe streckt. Der Zirkus ist gefühlt bis auf den letzten Platz belegt und man kann das Kondenswasser, das vom Zeltdach hinabrinnt, quasi am eigenen Körper spüren. Die 20 geschwungenen LED-Flächen über dem Floor bilden einen gelungenen, visuellen Kontrast zu den 160 MovingLights, die synchron zueinander und passgenau zu Sams Technoklang agieren. Der Zirkus: Eine Manege mit tierisch gutem Sound, mit den DJs als Artisten und den LJs als Dompteuren.
Die magische 23 – sie kommt auch in der Anzahl der Floors zum Vorschein: 4 Mainfloors plus 19 Clubs gibt es auf der Pydna. Szeneclubs aus Deutschland und dem benachbarten Ausland. 19 Club-Floors, deren Design, Licht- und Soundanlage den jeweiligen Betreibern obliegt. Und all das kann sich sehen und hören lassen. Yannick, Marcel und ich dancen gerade zu den Scheiben von Simon Phinixx kurz nach null Uhr, nachdem uns Sam Paganini in die Nacht entlassen hat. Simon spielt im Bunker Gayphoria/Vogue Club. Eine legendäre Clubbasis für uns drei, da wir uns hier vor – ich weiß gar nicht wie vielen – Jahren kennengelernt hatten. Unsere Freundschaft hält. Bis heute. Und hoffentlich noch viele Nature Ones.
23. Seit 23 Uhr legt Hooligan im Classic Terminal auf, wie mir ein Blick in den Partyguide verrät. Zu ihm? Oder wir gehen zu Wankelmut ins House of House, der nachher von Moonbootica abgelöst wird. Hm, nö. Unsere Entscheidung fällt pro Klassiker und contra House aus. Unter anderem, weil wir nach Hooligan zu den Klängen von Dune tanzen und mit ihm in ein Jahrzehnt reisen wollen, indem wir unsere Anfänge des Rave erleben durften.
Willkommen in der Zeitmaschine. Die Traversen im Classic Terminal sind bestückt mit allen technischen Neuheiten und mit sämtlichem Pipapo an Licht- und Showtechnik aus: Den 90ern! „Retro“ lautet hier die Devise. Und dieses Motto geht absolut auf. Wer hier ein Tänzchen macht, muss nicht erst seine Augen schließen, um sich zurückkatapultiert zu fühlen. Es sind großartige Gänsehautmomente, die alte Hasen wie wir mit alten Hasen wie Hooligan oder Dune verbringen. Wir spüren noch heute die hardcore vibes. Wir erleben noch heute unsere own reality. Wir genießen die wonderful days, die uns dank DJ und Turntables beschert werden. Aber: War früher wirklich alles besser?
Nicht unbedingt, stattet man dem Hexenhouse auf dem Bunker, dem Abstract-, Butan-, Lehmann-Zelt oder dem HeavensGate-Floor auf dem grasbewachsenen, ehemaligen Raketenlager einen Besuch ab. Besonders hervorzuheben ist in meinen Augen auch der Airport Club, der zu den stammesältesten Resident-Clubs auf der Pydna gehört und noch immer ein erstklassiges Design bietet, eine erstklassige Anlage bereithält und ein erstklassiges Lineup auffährt.
Kurz nach drei. Jetzt ist es dann aber doch mal an der Zeit, das House of House aufzusuchen. Moonbootica legen gerade eine Scheibe auf, die mich regungslos (vor Begeisterung!) dastehen lässt. Nicht zuletzt die Lichtinstallation mit 340 höhenverstellbaren LED-Kugeln über der Tanzfläche sorgen bei Yannick, Marcel und mir für „Ahs“ und „Ohs“ und „Wows“.
Bei all dem Enthusiasmus, der unser Herz für elektronischen Sound höher schlagen lässt, haben wir doch glatt die Zeit vergessen. Denn eigentlich war unser Plan, von Beginn an bei Paul van Dyk zu sein, der auf dem Open Air Floor spielt. Beziehungsweise spielte! Ihn haben wir leider komplett verpasst. Ebenso das Feuerwerk, das wir nur aus der Ferne bestaunen konnten.
Es mag der fünfte oder sechste Track gewesen sein, als wir bei Ferry Corsten aufschlagen und uns in Trance versetzen lassen. Zusammen mit dem Rest unserer Truppe. Die hat sich vollzählig an unserem Treffpunkt, der Mixery-Bar, eingefunden. Ferry spielt eine gelungene Mixtur aus Titeln seines neuen Albums „Blueprint“, top-produzierten, neuen Vocal-Trance-Tracks und das Neueste an Neuem in Sachen Progressive. Der letzte Beat des Rotterdamer DJs soll auch der letzte Beat für unsere Tanzbeine auf der diesjährigen Nature One sein. Da wir am Sonntagmorgen einigermaßen fit und natürlich nüchtern die Heimfahrt antreten wollen, sagen wir um 4:30 Uhr „good-bye Nature One 2017“.

Fünf Stunden später: Zelte, Schlafsäcke & Co. sind in den Autos verstaut, der Müll ist in den Containern gelandet und die fünf Euro Pfand zurück in unseren Portemonnaies. Und ein wehmütiger Augenblick ist gekommen. Hier und jetzt heißt es nicht nur „good-bye Nature One 2017“. Es heißt auch „good-bye lovely friends“. Es wird unendlich lange 362 Tage dauern, bis sich unsere Partytruppe in genau dieser Konstellation wiederfindet. Wiederfindet auf den Wiesen und Feldern, die ab morgen wieder den Hunsrück-Kühen gehören. Denn: They call it home.

Text: Torsten Widua
www.torstenwidua.de
Anmerkung des Autors: Alle Personen sind frei erfunden. Alle Fakten sind authentisch.

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