Ableton Live 11 „Comping“: Born in Flamez – ein Erlebnisbericht

 

Während das Upgrade von Live 9 auf Live 10 für mich keine wesentlichen Neuerungen brachte – ich war eher von neuen Editier-Funktionen überfordert –, fährt das neue Upgrade wirklich jede Menge neue Features für alle möglichen Anwendungsarten auf. Ein für mich wesentliches Feature dabei ist das sogenannte „Comping“.

 

Seit ungefähr sieben Jahren nehme ich in meinem Bedroom-Studio meine Vocals auf. Ich bin ein ungeduldiger Mensch und ich liebe es nicht besonders, einen großen Haufen Vocals cleanen zu müssen. Leider gehört es zu meiner musikalischen Praxis, dass ich viele Extra-Harmonien zur Main-Line aufnehme. Ich bin einfach gerne mein eigener Chor. Das heißt aber auch, extra viele Vocals anhören, cleanen und mich durch Tausende von Takes wühlen. Vor allem weil Ableton Live bis jetzt bei Aufnahmen in ein und dieselbe Spur aufgenommen hat und das im Editing extrem mühsam war. Ständig musste ich Loops hin und her schieben, die Audiospur kopieren, weiter nach hinten schieben, um einen anderen Take zu hören, oder neue Spuren machen, copy/pasten etc.

Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass ich mir manchmal nur die letzten zwei Takes angehört habe und mir daraus etwas zusammengesucht habe, weil ich mir die Mühe ersparen wollte, alle Takes anzuhören. Aus anderen DAWs weiß ich, dass diese multiple Take-Lanes haben und somit die Möglichkeit, die Takes in aller Ruhe anzuhören ohne dabei neue Spuren aufzunehmen oder aufmachen zu müssen, um dann einen Take nach dem anderen zu hören. Das ist vor allem sehr hilfreich, wenn Mensch dazu tendiert, einzelne Parts eines Tracks, z. B. die Strophe oder Ad-libs, etc. an einer Stelle im Loop aufzunehmen. Obwohl ich Cubase besitze, war ich immer zu faul, extra für die Vocals eine andere DAW zu öffnen, darin an den Takes zu arbeiten und diese dann in Ableton Live zurückzuimportieren. Jetzt endlich scheint es, dass Live meine Stimme gehört hat – und wahrscheinlich die vieler anderer – und verspricht mit Comping in Live 11 ein Gegenmittel: Multiple Take Lanes, die unter dem Main-Take erscheinen und per Stift-Symbol in die Main-Lane übernommen werden können – oder per Befehl oder copy/paste/drag and drop in die Main-Lane übernommen werden können. Ein großes Geschenk an ungeduldige Produzent*innen wie mich! Na, mal schauen, ob Comping hält, was es verspricht.

 

Zunächst unterscheidet sich optisch nichts zu Live 10, ich schalte eine Spur scharf und nehme mehrere Takes auf. Mir scheint, es sieht genauso aus wie vorher: dass ich alles in eine Spur aufnehme. Beim Rechtsklick mit der Mause in die Spur, in die ich aufgenommen habe, erscheint jedoch eine Option: „Show Take Lanes“ (oder auf Deutsch „Take-Lanes anzeigen“). Nun kann ich alle meine Takes wunderbar übereinander geordnet ansehen und über Klick auf das Lautsprecher-Symbol in der rechten Leiste getrennt voneinander anhören.

Jede Spur, die ge-armed wird, nimmt automatisch in sogenannte Take Lanes auf, wenn ein Loop-Bereich ausgewählt wurde. Das geht sowohl bei Midi als auch bei Audio. Ich persönlich finde die Stift-Variante die angenehmste, so kann ich am schnellsten mit dem Cursor als Stift einen Bereich markieren, den ich in die Main-Line übernehmen möchte.

Wenn ich das gleiche mit Midi probiere, zeigt sich relativ schnell: Comping lässt sich super als kreatives Tool einsetzen. Ich tendiere beim Einspielen von Midi-Takes auf meinem Keyboard dazu, eine kurze Hook mehrere Male hintereinander zu spielen und dann zu einer anderen zu wechseln. Im aktuellen Track hatte ich auf einen reinen Beat gesungen, d. h. ich wusste nicht in welcher Tonart mein Track ist. Dies kommt in meiner Praxis häufiger vor, erst durch das Einspielen von Midi-Takes kann ich im Nachhinein die Tonart bestimmen, meist suche ich dabei auf den Tasten ein wenig herum, bis ich die Tonart identifizieren kann. So entstehen jetzt in meinem eingespielten Midi-Track einige „happy accidents“: Ich kann Teile von Hooks ganz einfach kombinieren und schauen, was sich daraus für andere Lines ergeben. Daraus entstehen ungewöhnliche Melodieführungen und ich habe im Nullkommanichts ein Intro zusammengebaut. Die spielerische Möglichkeit aus eingefahrenen Melodiefindungsstrukturen auszubrechen, gefällt mir sehr.

Das Einzige, was mir beim Comping negativ auffällt, ist das ich, während ich neue Take Lanes aufnehme, nicht vorherige anhören kann und somit Harmonien direkt aufnehmen kann und dann aus den unterschiedlichen Harmonien neue Melodien bauen kann. Dies ist nur möglich, indem ich einen neuen Audiotrack aufmache und dann in diesen aufnehme – copy/paste über beide Audiotracks geht aber. Ich persönlich empfinde das als Umweg – aber er liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache. Wenn ich jetzt das neue Spectral-Resonator-Tool dazunehme, kann ich die eingespielten Midi-Melodien als Modulations-Signal für mein Audio benutzen. Dafür muss ich das Tool in den Midi-Mode stellen und als Quelle den Synth/Sampler etc. auswählen, mit dem ich gerade meine Hooks eingespielt habe – hier Reaktor 6.

Ich kann also meine Vocals als Basis-Soundmaterial für jede beliebige per Midi eingespielte Melodie nehmen. Das erinnert an Vocoder-Tools, trifft es aber nicht ganz, denn der Spectral Resonator klingt ganz anders und arbeitet anders, denn er basiert auf Fourier-Transformations-Algorithmen und die addierten Klangfarben und Texturen klingen anders, verwaschener, noch mehr besonders als typische Vocoder-Sounds. Die verschiedenen Klangfarben, die mit den vier verschiedenen Variationsmöglichkeiten erzeugt werden können (None/Chorus/Wander/Granular), machen klar, dass dieses Sound-Design-Modul ziemlich vielzeitig auf verschiedensten Instrumenten einsetzbar ist. Ich habe das Gefühl, dass es besonders meinem Wunsch, einen Chor aus meiner Stimme zu erzeugen, viele neue Variationsmöglichkeiten verschaffen wird. Aber subtil auf Drums angewandt ist das Tool bestimmt auch genial und es lassen sich hier sicher Sophie(RIP)-eske metallische Drumsounds herauszaubern. Ich kann es kaum erwarten, es auszuprobieren.

In meinem herunterladbaren Ableton-Live-Set habe ich die „Comping“-Funktion angewendet.
Download: https://www.dropbox.com/sh/d71nsblz6fxuuk9/AAANSqJVFbNcBUVm-X93lsNEa?dl=0

Wenn ihr noch kein Ableton Live benutzt, könnt ihr euch hier eine 90-Tage-Testversion runterladen: www.ableton.com/de/trial

 

 

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