Achrome von Orchestral Tools – modular und immer dabei

Oft sind es eher die Tracks, von denen man nicht genau weiß, wie sie entstanden sein könnten, die die Zuhörer*innen besonders mitreißen. Die Chancen, dass man nicht genau erkennt, woher die Klänge stammen und man gerade deswegen fasziniert ist, stehen bei dem folgenden multi-sampled Instrument ziemlich hoch: Achrome von Orchestral Tools. Es ist in drei Worte gefasst: brodelnd, elektronisch und experimentell. Seinen Ursprung hat es in den Modular-Synthesizer-Wänden des deutschen Sounddesigners und Komponisten Max Knoth.
Und es ist völlig in Ordnung, wenn der Name elektronisch-tanzbarer Musik geneigten Produzent*innen noch nicht bekannt ist. Denn Max‘ Arbeit ist oft im Hintergrund großer Kino- und TV-Produktionen verortet, wo er mit Komponisten wie Danny Elfman (Batman), Ryūichi Sakamoto (The Revenant) oder Alan Silvestri (Forrest Gump) zusammenarbeitet. Seine Perspektive verbindet die eines Engineers mit der eines Komponisten, sodass ein sampled Instrument von ihm sehr technoid und durchdacht, aber eben auch cinematisch und elegant im weiteren Sinne klingt.
Für Producer elektronischer Musik jeglicher Couleur besteht die Chance mit Achrome, tief in Max‘ Studio einzutauchen und die Welt seiner Module von Make Noise, Intellijel oder Qubit zu erforschen. Und damit dem eigenen Dancefloor-Material einen unverbrauchten, experimentellen Touch zu geben.

Übrigens sehr ungewöhnlich für die Berliner Sample-Schmiede Orchestral Tools: Eigentlich ist das Team um die beiden Chefs Jan und Hendrik eher im klassischen Orchestra-Bereich zu Hause. Damit prägen sie aktuell round about jeden Hollywood-Film. Doch nicht zuletzt die neue Sample-Reihe Fabrik erkundet aus Composer- und Sounddesigner-Sicht das elektronische Spektrum mit ungewöhnlicher Hardware, Fieldrecordings und Synthesizern. Ist Achrome erst einmal im hauseigenen SINE-Player geladen, wird eine grundsätzliche Ordnung der Sample-Instrumente klar: Konkrete und Abstrakt. Im Konkrete-Ordner dreht sich alles um eher unverarbeitete, klarere Klangwelten, während im Abstrakt-Ordner hörbar eine Kaskade an Effekten benutzt wurde. Dadurch sind die Presets dieser Kategorie noch deutlich bewegter, mit einem Hang zum Atonalen. Die beiden Überordner sind in weitere Instrument-Kategorien unterteilt: Dots, Lines, Patterns, Lines, Collages, Planes und Noises. Allein diese Einteilung nach Zuständen und Bewegungsenergie der einzelnen Sounds statt nach herkömmlichen Instrumenten-Namen macht Lust auf den ersten Ton. So etwas macht bei komplexen Modular-Patches einfach mehr Sinn.
Dazu kann man sich direkt etwas unter Patterns, Dots oder Collages vorstellen. Denn: Bei Lines meint Orchestral Tools harmonisch spielbare, tonale Patches, die durch eine gewisse Rauheit und analoge Wärme überzeugen. Planes sind etherale und raumfüllende Flächen, die alleine schon Inspiration für mehrere Tracks sind.

Dots sind rotierende Einzel-Events, die keinen durchgehenden Rhythmus haben, sondern aus einzelnen Punkten bestehen, die in ständiger Bewegung zueinander stehen. Pattern ist das Percussion-Paket von Achrome, gespickt mit cinematisch brodelnden Technoloops auf jeder Taste. Diese sind synchron zum Tempo eures Projekts. Der Grundsound hier geht in Richtung Aphex Twin, Jon Hopkins oder auch Modeselektor. Ihr könnt hier die gesamte Klaviatur nutzen, um den passenden Schnipsel für euren Groove zu erwischen.
Die letzten beiden Kategorien sind Noise und Collages: Noise sind selbsterklärend geräuschhafte Klangspektren. Doch für Max Knorr und die Fabrice-Serie ist es auch selbsterklärend, dass hier besonders interessante Sound-Strukturen herausdestilliert wurden: elektrische Spulen, Telekommunikation und schnelle modulare Noise-Patches erwarten hier den geneigten Soundbastler. Letztendlich sind „Collages“ aber die komplexeste Klangverflechtung, die aus ineinander verschlungenen Harmonien, Geräuschen und pulsierenden Microgrooves bestehen. Quasi eine Kombination aus verschiedenen Modular-Synthesizer-Patches, die zusammen nochmal eine neue Ebene bekommen.

Womit wir direkt beim Soundeindruck sind: Ja, dieses Pack ist sehr experimentell. Und es gibt manche Patches, die so sehr für sich selbst stehen, dass man eigentlich wenig dazu addieren kann oder will. Aber die allermeisten Sounds lassen sich ohne viel Phantasie in treibenden Peak-Time-Techno, blubbernden Keta-Minimal, mäandernden Dub-Techno oder spacigen House verwenden. Achrome gibt genau die Würze dazu, die einem nur Modular-Synthesizer geben können.
Ich habe es als große Bereicherung empfunden, die Sounds zu nutzen und dabei auch immer wieder mit dem mitgelieferten Reverb zu spielen, denn: Ganz ohne Reverb hören wir kristallklare, ultranahe Sequenzen. Doch Orchestral Tools liefert als zweite Hörposition seinen Hardware-Hall mit, der Produktionen einen riesigen Raum aufzieht. Hier sind wir ganz schnell beim Soundtrack einer verlassenen Industrieruine. Somit gibt Achrome eine sehr Techno-kompatible Richtung vor, die es lohnt auszutesten.

Aus dem FAZEmag 138/08.2023
Text: Bastian Gies
www.orchestraltools.com

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