Acid Arab – Next Level

Foto: Philippe Lévy

Gegründet wurde Acid Arab nach einem Zusammentreffen von Pierre-Yves Casanova, Nicolas Borne, Hervé Carvalho, Guido Minisky und Kenzi Bourras vor zehn Jahren im transkulturellen Schmelztiegel von Paris. Mit ihrem wilden Stil-Mix vereinen sie westliche elektronische Musik mit Sounds und Vocals aus Regionen wie Nordafrika, dem Nahen Osten, der Türkei und präsentieren diese in einem neuen Zeitgeist. Genau mit dieser Mixtur haben Acid Arab in den vergangenen Jahren Kultstatus in und außerhalb der Szene erlangt. Nach ihrem von Kritiker*innen frenetisch gefeierten Album „Jdid“ in 2019 und Hunderten Shows auf dem gesamten Erdball macht die fünfköpfige Combo nun mit „٣ Trois“ den Hattrick in Sachen Langspielern voll. Das Ergebnis sind zehn Dancefloor-Hits, die am 3. Februar auf Crammed Discs erscheinen werden. Und auch hier hat das französisch-algerische Kollektiv zahlreiche Kollaborationen umgesetzt, darunter mit  Wael Alkak, Cem Yıldız, Ghizlane Melih, Khnafer Lazhar, Sofiane Saidi, Fella Soltana sowie Cheb Halim & Rachid Taha aus Nordafrika, Syrien und der Türkei. Von algerischer Gasba-Musik, anatolischem Trance, synthetischer Dabke bis hin zu bionischem Raï reicht die Stilpalette auf dem neuen Album.

Boys, es ist mehr als drei Jahre her, seitdem wir letztmalig miteinander gesprochen haben. Es scheint, dass die Welt im Herbst 2019 noch eine andere war. Wie ist es euch ergangen?

Hervé: „Uns ging es großartig. Seltsamerweise haben wir einige Aspekte der Pandemie genossen, denn so konnten wir mehr Zeit mit Freund*innen und Familie verbringen. Außerdem haben wir es geschafft, auch in diesen zwei dunklen Jahren einige Partys zu feiern. Unsere Fête de la Musique in Paris im Juni und in Marseille im August 2020 werden uns noch lange in Erinnerung bleiben. Wir haben auch eine spezielle Live-Show für das sitzende Publikum entwickelt, als überall Hygienevorschriften vorgeschrieben waren. Wir traten mit der fantastischen libanesischen Illustratorin Raphaëlle Macaron auf, die live zeichnete, während wir quasi improvisierte Versionen unserer Lieder vortrugen. Es war also einiges los.

Gratulation zu eurem dritten Album. Wann wurde die Idee zu „٣ (Trois)“ geboren?

Guido: Nach den aufeinanderfolgenden Lockdowns und drei Jahre nach „Jdid“ war es für uns selbstverständlich, wieder ins Studio zu gehen und an einem neuen Album zu arbeiten. Die Ideen kamen dabei nach und nach.

Hervé: Wir haben rund ein Jahr mit ein paar wenigen Unterbrechungen im Shelter Studio daran gearbeitet. Das neue Album geht, wie wir finden, in jeder Richtung tiefer als die letzten beiden. Tiefer in Sachen Songs: Von den zehn Tracks würde ich neun als Songs betiteln. Tiefer in Sachen Zusammenarbeit: Es gibt mehr Sänger*innen und vor allem mehr Musiker*innen. Aus Algerien, der Türkei, Palästina, Syrien und Paris. Außerdem geht es tiefer in den Dancefloor, denn mehr Titel sind genau für diesen Zweck konzipiert.

Auf „Jdid“ hattet ihr bereits mit vielen Künstler*innen aus der ganzen Welt zusammengearbeitet. Es scheint, als seien Kollaborationen noch ein großer Teil eurer Identität.

Guido: Definitiv, genau das sind sie! Zusammenarbeit bedeutet Begegnung, und die Begegnung zwischen Kulturen ist der Kern unseres Projekts. Gemeinsam sind wir stärker, das ist unsere Philosophie. Die erneuten Kollaborationen mit Cem Yıldız und Sofiane Saidi waren eine Selbstverständlichkeit für uns und eine sehr angenehme Sache. Das Gleiche gilt für Wael Alkak, mit dem wir nach zehn Jahren der Freundschaft endlich wieder zusammenarbeiten konnten. Es war uns eine Ehre, mit Ghizlane Melih, Cheb Halim, Khnafer Lazhar und Fella Soltana zu arbeiten. Sie alle kamen über Kenzis algerische Verbindungen an Bord. Kenzi singt sogar auf dem Titel „Emo“, was großartig ist. Und zu guter Letzt sind wir von Rachid Tahas posthumer Gabe total begeistert. Diese Interaktionen sind pure Magie für uns.

Womit wir bei unserer nächsten Frage wären. Könnt ihr uns die Geschichte zum Titel mit Rachid Taha, der im September 2018 verstarb, erzählen?

Hervé: Wir hatten das Glück, gegen Ende seines Lebens mit Rachid befreundet zu sein. Das geschah ebenfalls über Kenzi, der damals auch sein Keyboarder war, als er anfing mit uns aufzutreten. Nach einem Abendessen in Belleville gingen wir gemeinsam zu Gilb’R’s Haus, dem Chef von Versatile. Das war das Label, welches unsere ersten EPs veröffentlichte, bevor unsere Beziehung zu Crammed Discs begann. Schon lange wollten wir Rachid dazu bringen, auf einem House-Track zu singen und eine algerische Crooner-Version von Moodyman zu sein (lacht). Irgendwann in dieser Nacht, nach vielen Drinks, spielten wir einen Instrumental-Track und er fing an zu improvisieren, während wir seine Stimme mit unserem Smartphone aufnahmen. Wir bewahrten die Datei sehr kostbar auf, verwendeten sie aber nie. Ein paar Jahre später konnten wir ihm endlich Tribut zollen, indem wir diese Recordings auf einem Track verwendeten, den wir mit Zustimmung von Rachids Sohn eigens dafür geschrieben hatten. Wir sind sehr stolz darauf und gerührt von dem Ergebnis.

Acid Arab wird jetzt zehn Jahre alt. Wie, würdet ihr sagen, hat sich euer Projekt seit eurem Start weiterentwickelt?

Guido: Es hat sich extrem weiterentwickelt. Am Anfang war es eine Art Partykonzept, aber wir wollten diesen besonderen Vibe sehr schnell auf richtige Tracks übertragen. Dann haben wir angefangen, mit zwei Freunden, Pierrot und Nico, zusammenzuarbeiten. Und jetzt sind wir ein fünfköpfiges Kollektiv mit vielen Fans und Freund*innen, einem Label, einer Agentur, einem Management, touren durch die ganze Welt und veröffentlichen dieser Tage unser drittes Album. Dafür sind wir sehr dankbar. Außerdem haben wir viel über die Kultur gelernt, die wir mit unserer Musik, unseren Gigs und Partys feiern wollen. Wir sind sehr vorsichtig damit, wir versuchen, sie zu ehren und niemals zu verraten.

Hervé: Wir achten darauf, von einem Album zum nächsten keine identische Formel zu wiederholen. Es ist die Beziehung zu den Gastmusiker*innen, die uns den Antrieb zur Ausweitung des Konzepts gibt.

Als wir uns das letzte Mal unterhielten, war Kenzi noch ziemlich neu im Projekt und ihr sagtet, dass ihr euch eurer Identität und eures Konzepts als Projekt ziemlich sicher geworden seid im Laufe der Zeit. Wie haben sich diese Emotionen entwickelt?

Guido: Kenzi ist mittlerweile ein festes Mitglied der Band und nicht mehr wegzudenken. Er ist unser Star auf der Bühne. Wenn er bei unseren Shows anfängt zu spielen, rastet die Menge aus. Was das Projekt angeht, hat sich nichts geändert. Wir sehen uns immer noch als „Westler“, die versuchen Musik zu machen, indem sie die eigene Kultur und das eigene Know-how mit Kulturen aus Nordafrika, dem Nahen Osten, der Türkei und mehr vermischen. Es ist ein wildes Potpourri.

In den nächsten Wochen geht ihr erneut auf große Tournee, mit dabei sind zahlreiche Termine in Deutschland und Österreich. Worauf freut ihr euch besonders?

Hervé: Wir freuen uns sehr auf das Album-Release und die Tour-Termine, ja. Wir haben intensiv an unserer neuen Show gearbeitet, sowohl musikalisch als auch visuell und wir können es kaum erwarten, sie mit dem Publikum zu teilen. Wir sind sehr gespannt auf die Reaktion der Leute. Nach Deutschland zu kommen, ist immer eine fantastische Erfahrung, so viel Energie und gute Stimmung, dass wir uns wie zu Hause fühlen.

Was sind eure weiteren Pläne für 2023?

Guido: Sehr viel touren, unsere La-Hafla-Resideny ausbauen, die bald wieder im Gretchen in Berlin stattfindet.

Hervé: Weiterhin neue Musik machen und Produzent*innen, die wir bewundern, bitten, einige unserer Tracks zu remixen (lacht).

Acid Arab in Deutschland & Österreich
27.01.2023 Mannheim, Alte Feuerwache
28.01.2023 München, Rote Sonne
02.02.2023 Wien, Grelle Forelle
03.02.2023 Berlin, Gretchen
04.02.2023 Hamburg, Knust
05.02.2023 Düsseldorf, Zakk

 

Aus dem FAZEmag 131/01.2023
Text: Triple P
Foto: Philippe Lévy
www.instagram.com/acid_arab