Mit seinen melodischen Hymnen wie „Materium“ oder „Divergent“ sowie mit seinem 2012 erschienenen Album hat Alex Niggemann sich sowohl national als auch international bereits einen Namen gemacht. Der in Düsseldorf geborene DJ, Produzent und Labelbetreiber bewies schon früh in seiner Karriere ein außerordentliches Gespür für atmosphärischen Vibe und Emotionalität in seiner Musik. Durch sein damaliges Studium gelangte er nach Berlin, wo der frisch gewordene Vater längst Fuß gefasst hat und nicht nur im Watergate ein gern gesehener Gast ist. Nun durfte sich Niggemann für das neueste Balance-Mix-Album verantwortlich zeigen und steht somit in einer Reihe mit Namen wie Danny Tenaglia, Agoria, Radio Slave oder James Holden. Ein Gespräch über erfüllte Träume und neue Pläne.
Alex, ich höre in deinem neuen Mix auf Balance einen gewissen Purismus raus. Schon melodiös, aber etwas subtiler, als ich es heute von dir gewohnt bin. Generell finde ich, dass er sich von deinem gewohnten Stil unterscheidet. Wie spiegelt der Mix in deinen Augen dich und deine Werke wider?
Ich finde schon, dass der Mix das widerspiegelt, was ich auch produziere. Also, die ersten vier oder fünf Tracks passen schon in die Richtung, die ich beispielsweise für das Label Last Night On Earth gemacht habe. Sehr deep und in einer gewissen Art und Weise von der Melodie getrieben. Die Tracks danach gehen eher in die Richtung, die ich mit meinem Label repräsentiere. Halt dieser eher nach vorne gehende Techno. Am Ende wird es fast schon Ambient-Techno. Für mich war es wichtig, dass von allem etwas im Mix vorhanden ist. Wenn du an ein Acht-Stunden-Set von mir denkst, ist all das nun untergebracht in eineinhalb Stunden. Aber daher finde ich deine Aussage sehr interessant. Es ist schon immer was anderes, wenn Außenstehende deine Arbeit bewerten.
Bewerten ist vielleicht falsch gesagt, aber die Tracklist ist auch sehr abwechslungsreich und enthält u. a. Namen wie Etapp Kyle, Andrea Oliva oder Phase. Also Künstler, deren Tracks man nicht unbedingt mit „Easy-Listening“ oder Melodien assoziiert. Du scheinst schon mit einem hohen Anspruch an die Sache herangegangen zu sein.
Das sowieso. Anfangs habe ich mich richtig gestresst, da ich mit der Trackauswahl nicht zufrieden war und wirklich etwas Besonderes machen wollte. Natürlich habe ich mich gefragt, ob dieser oder jener Name wirklich passend ist. Im Endeffekt sagte ich mir, dass es total egal ist. Es ging mir darum, ob der Track in den Mix passt und er die richtige Message und Atmosphäre transportieren kann. Aber in gewisser Weise hast du schon Recht. Wenn da jemand wie Phase am Ende des Sets steht und ein Andrea Oliva am Anfang, werden sich sicherlich viele, die die Tracklist studieren, fragen, wie das zusammenpasst. Und wenn du den Mix durchhörst, fragst du dich am Ende, an welcher Stelle es eine großartige Veränderung gab, obwohl du von A nach Z geführt wurdest. Es war meine Intention, eine sukzessive Steigerung zu integrieren, die nicht bewusst wahrgenommen wird.
Wie bist du bei der Auswahl der Tracks denn vorgegangen?
Als erstes habe ich ganz normal angefangen, Tracks zu selektieren, und hatte am Ende 300 bis 400 Tracks zusammen. Ich habe sowohl aus Promos als auch aus Platten und Tracks ausgewählt, die ich über die letzten drei Jahre gekauft habe. Dann habe ich immer weiter nach Themen selektiert. Wie möchte ich gerne anfangen? Wie soll der Aufbau strukturiert sein und wie soll der Schluss sein? Gegen Ende musste ich dann entscheiden, was wirklich in den Mix soll. Und hier wurde es schwierig. Ich vergleiche das gerne mit der Arbeit von Jogi Löw: Ich habe ein Team für die WM aufgestellt, musste dabei aber jede Position doppelt besetzen, weil ich nicht wusste, welcher Track am Ende lizensiert werden kann. Daher brauchte ich immer ein passendes Äquivalent, das einen Titel im Zweifelsfall ersetzen kann.
Von 400 Tracks auf insgesamt 19. Wie viel Zeit hat das Projekt in Anspruch genommen?
Man darf sich das wirklich nicht so vorstellen, wie wenn man einen normalen Mix oder Podcast erstellt. So ein Podcast beinhaltet ja oft die neuesten Tracks, die du dann – wie im Club – zusammenmischst. Ich habe ja auch eine Menge Titel, von denen ich mir vorstellen kann, sie im Club zu spielen. Aber ich entscheide spontan, welche es werden. Bei diesem Mix wusste ich schon recht früh von dem Projekt und konnte dementsprechend früh mit der Selektion beginnen. Dann musste ich noch entscheiden, an welcher Stelle welcher Track stehen soll. Die Arbeit am Mix selbst hat dann ungefähr zwei Wochen gedauert. Also betrug der Arbeitsaufwand inkl. Planung für diesen Mix im Endeffekt mehr als zwei Monate. Das ist schon nicht wenig Arbeit.
Ist ein derartiger Aufwand heutzutage noch gerechtfertigt? In Zeiten von SoundCloud, Mixcloud etc. hauen einige alle zwei Wochen einen Mix raus. Differenzierst du trotzdem noch zwischen klassischen Mixmedien und dem Onlinependant?
Also, für mich ist ein Podcast eher eine Aneinanderreihung von Tracks und hat nichts mit einem Mixtape zu tun. Oder diese Live-Mixe aus dem Club, das ist ja auch noch mal so eine andere Welt. Nach meinem Verständnis ist der Punkt bei so einer Balance-CD, dass du sie gerade nicht im Club hörst, sondern eher auf der heimischen Anlage, wo du dich einfach treiben lassen kannst. Oder du hörst sie im Auto. Der Fokus liegt auf dem präzisen Durchhören. Ich kenne das selbst, denn ich habe auch viele Podcasts abonniert. Aber die laufen dann Freitagabend, im Hintergrund, wenn ich Freunde zu Gast habe. Bei so einem Mixtape oder einer Mix-CD, wie ich sie noch von früher kenne, mit denen ich groß geworden bin, hört man anders hin. Es wird eine Reise für den Hörer kreiert, der oftmals gar nicht merkt, dass bereits eine Änderung passiert oder passiert ist. Oder ob ein Track läuft oder zwei Tracks gleichzeitig laufen. Im Club und beim Podcast kündigen sich die Tracks immer auf verschiedene Weise akustisch an. Ob der Track nun seit zwei Minuten schon im Mix sitzt, hörst du bei einem Mixtape nicht so raus, wenn du die Tracks nicht kennst. Was den Stellenwert betrifft, ist es jedoch schwierig, das zu sagen. Da gebe ich dir Recht. Es ist alles so schnelllebig geworden, sodass mehr auf Quantität geachtet wird als auf Qualität. Aber du kannst es mittlerweile auch mit dem Stellenwert von Vinyl vergleichen. Das ist meiner Meinung nach sehr ähnlich, das liegt auch an der Evolution der elektronischen Musik. Ein bisschen schade ist es schon, dass es nicht mehr viele dieser Reihen gibt. Mitte der Neunziger bzw. Anfang 2000 gab es die ja noch zuhauf. Außer Fabric, Balance und Watergate fällt mir da spontan nicht mehr viel ein, wo ich sagen könnte, dass die Leute darauf gucken. Umso bedeutender ist es daher für mich, so eine CD machen zu dürfen. Wenn du dir anschaust, wer schon alles so einen Balance-Mix abgeliefert hat (Anm. d. Red.: u. a. James Holden, Magda, Stacy Pullen oder Radio Slave) – da sehe ich meinen Namen schon ganz gerne in der Historie! Für mich fühlt sich das wie ein Ritterschlag an.
Das klingt, als ob du schon länger einen positiven Bezug zu Balance hast.
Die erste Balance, die mich wirklich positiv überrascht hat, war die von James Holden. Wie cool und wie anders dieser Mix einfach zu seiner Zeit war. James Holden war ein riesiger Held für mich und ich war noch ein kleiner Typ, dessen Traum es war, öfter mal hinter dem DJ-Pult zu stehen. Seit ich Musik produziere und professionell mit dem Business zu tun habe, ist die Balance-Serie für mich etwas, zu dem ich aufschaue.
Und nun veröffentlichst du auf dem Label nicht nur ein Mix-Album, sondern demnächst auch noch eine EP namens „Hurricane“. Was hat es damit auf sich?
Richtig. Auf dem Mix befindet sich ja bereits der Clubmix von „Hurricane“, der außer den Vocals fast nur aus Drums besteht. Das Original dazu ist im Endeffekt anders als das, was du auf dem Mix hörst. Du könntest es unter Electronica einordnen oder auch als ein wenig „poppiger“ bezeichnen. Es war schön, gleich die Möglichkeit zu bekommen, neben dem Mix, der meine Sets repräsentiert, etwas zu veröffentlichen, das grundsätzlich aus meinem Musikspektrum rausbricht. Hätte ich die EP beispielsweise bei mir auf AEON oder bei Poker Flat veröffentlicht, würden sich viele fragen, was das mit Alex Niggemann zu tun hat. Bei Balance weißt du, dass sie auch speziellere Sachen veröffentlichen. Das wollte ich gleich für die Musik nutzen, die ich mache, um meinen Horizont zu erweitern beziehungsweise weit zu halten. Wenn du dein Leben lang Techno produzierst, obwohl du auch anderes gelernt hast oder kannst, dann stehst du irgendwann da wie ein Gaul mit Scheuklappen. Dann müssen die Hi-Hats so und die Drums genau so klingen. Wenn ich dann einen anderen Stil produziere, dient mir das im Umkehrschluss wieder als Inspiration für meine Techno- und House-Produktionen.
Und das Projekt wird dann unter dem Namen „The Shadow Self“ laufen?
Genau! Das ist ein Projekt, das ich zusammen mit dem Sänger Fabian mache. Diese Möglichkeit bei Balance ist ein super Start dafür. Trotzdem dürfen die Leute ruhig wissen, dass es auch von mir kommt. Es wird auf der EP noch einen weiteren Track geben, den ich zusammen mit Fabian Burkhardt produziert habe. Zu den Club-Remixen aber darf bzw. will ich noch nichts verraten. Das bleibt eine Überraschung.
Gerade bei eher poppigen Sachen könnte man meinen, gewisse Hardliner vor den Kopf zu stoßen.
Pop ist es für den, der Moderat und James Blake auch als Pop bezeichnet. Aber ich muss mit diesem Projekt ja auch nicht die gleichen Leute erreichen. Ich bin Künstler und natürlich interessiert es mich, was die Leute am Ende des Tages denken. Aber wenn ein Fan den Niggemann jetzt nicht mehr „cool“ findet, weil er ein Electronica-Projekt startet, dann geht mir das am Allerwertesten vorbei. Ich möchte mich und das, was ich mag, verwirklichen. Wenn es Leute gibt, die meine Musik toll finden, kaufen und meine Gigs besuchen, dann ist das der Bonus, den ich dafür bekomme. Du wirst nie allen alles recht machen können und immer Leute haben, die du vor den Kopf stößt. Wenn ich zurückblicke auf meine ersten Produktionen auf 8bit, dann hat sich mein Stil seitdem auch verändert – da sind über die Zeit sicherlich auch Fans abgesprungen. Auch als Künstler machst du Entwicklungen durch. Aber ich bin einfach nur froh und dankbar, dass ich meine Träume verwirklichen und davon Leben kann. Viele haben diese Möglichkeit nicht.
Wie steht es überhaupt um dein eigenes Label AEON?
Das wächst und gedeiht! Wir sind erst im dritten Jahr und haben schon Katalognummer 26 erreicht, 2016 bereits sehr viele ausverkaufte Label-Shows gehabt und uns einen ziemlich guten Künstlerstamm aufgebaut. Denis Horvat und Speaking Minds sind ja nur zwei, die dazugehören, und es kommen immer wieder neue Künstler wie TVA oder Bastinov dazu, die jetzt ihre EP rausgebracht haben. Im Endeffekt bin ich froh, dass ich mit AEON eine Plattform habe, auf der ich zu 100 % das veröffentliche, was ich will, und neue Ideen vorantreiben kann.
Und wie sieht es eigentlich mit einem neuen Album aus? Vor zwei Jahren hast du bereits erwähnt, dass du daran arbeitest.
Es wird auf jeden Fall höchste Zeit und ich habe das Projekt nicht aus den Augen verloren! Eigentlich habe ich mir vorgenommen, es dieses Jahr anzugehen. Da mein Studio und damit mein Equipment aber leider unter Wasser standen, muss ich nun alle etwas vertrösten. Zumindest wird – neben den anderen Projekten – im Januar noch eine neue EP auf AEON erscheinen.
Aus dem FAZEmag 057
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Text: Janosch Gebauer
Foto: Neda Rajabi
www.alexniggemann.com