Wer es weit bringen will, der muss auch ab und zu Halt machen, einen Blick zurückwerfen, nach links und rechts. Es gilt, Energie aufzutanken, die Ziele neu auszurichten, Chancen und Risiken zu erkennen, sich aber auch über bisherige Erfolge zu freuen. Wir haben mit DJ und Produzentin Anna Reusch das Jahr Revue passieren lassen und unter anderem erfahren, dass sie ein großes Herz für kleine Clubs hat.
Bin ich auf dem richtigen Weg? Bin ich zufrieden mit dem, was ich erreicht habe? Würde ich alles wieder genauso machen? Anna Reusch ist sich sicher – sie würde. „Dieses Jahr habe ich so viel gespielt wie noch nie zuvor und bin überglücklich und so dankbar. Hin und wieder hätte etwas weniger Kater am nächsten Tag vielleicht nicht geschadet, aber summa summarum war 2017 ein hervorragendes Jahr.“ Viele Gigs zu spielen, bringt auch viele Vorteile, unter anderem erweitert ein DJ so seinen persönlichen Erfahrungsschatz. „Ich bin routinierter geworden, was jedoch an der Nervosität vor einem Gig nicht wirklich etwas geändert hat; ich habe lediglich an Ruhe und Gelassenheit gewonnen. Eigenschaften, die mir vor allem beim Beginn eines Sets helfen, falls es zwischen den Leuten und mir nicht sofort funken sollte. Auch meine Stammclubs weiß ich dadurch immer mehr zu schätzen, weil ich mich dort einfach sofort wie zu Hause, sicher und frei fühle. Das trifft vor allem auf das Rhein-Main-Gebiet und mittlerweile auch auf Köln zu.“
Die Clubkultur liegt Anna Reusch allgemein sehr am Herzen. Nicht zuletzt wegen des anhaltenden Festival-Hypes haben es viele Clubs nicht leicht, Schritt zu halten und gleichzeitig kostendeckend zu arbeiten. Gerade die sehr kleinen Locations tun sich da besonders schwer. Die Dame aus dem Erzgebirge startete deshalb bereits im September die „200+1 Clubtour“. „Ich mag gerade die kleinen, intimen Clubs sehr gerne und deren regelrechtes Aussterben macht mich sehr betroffen. Bei der eigentlichen Tour wird dem Club dann neben einer bereits fertigen Grafik auch ein großes Goodie-Paket zur Verfügung gestellt. Darin sind Klamotten, Vinyl, Sticker, Beutel und andere Merchandise-Artikel enthalten, die man ansonsten nirgends kaufen kann. Der Club darf diese Sachen verlosen und hat somit noch eine weitere Möglichkeit, seine Party zu promoten. Die Tour findet logischerweise auch nur in recht kleinen Clubs statt, in denen man nicht einfach für die Gäste spielt, sondern mit den Leuten gemeinsam feiert, abtaucht, träumt. Als DJ fühle ich mich gerade dort besonders wohl und bekomme im Vergleich zu großen Bühnen immer direktes Feedback.“ Die Tour läuft noch bis März nächsten Jahres und spätestens dann muss sich Anna Reusch erneut an die großen Bühnen der Festivals gewöhnen, denn auch dort trifft und hört man sie immer häufiger. „Ich durfte diesen Sommer auf großen Festivals wie dem Parookaville oder Homerun zur Primetime spielen. Davon hätte ich vor nicht allzu langer Zeit nicht zu träumen gewagt. Wenn dann ein Veranstalter zu mir auch noch sagt, dass ich ein ‚Wunschbooking’ sei, dann freut mich das zwar riesig, aber so richtig glauben kann ich es noch immer nicht. Insgesamt war die Gastfreundschaft bei all meinen Gigs, egal ob kleiner Club oder großes Festival, immer super und auch die Gäste waren durch die Bank weg sehr herzlich. Ich bin oft mit dem Gedanken nach Hause gefahren, dass Techno lebt. Anders als noch vor zehn Jahren, aber trotzdem so, dass ich mich zu 100 Prozent damit identifizieren kann.“
Wer so viel unterwegs ist wie gefragte DJs, der muss auch bewusst auf seine Gesundheit achten. Gerade in der Zeit um den Jahreswechsel gewinnt dieses Thema wieder verstärkt an Aktualität. „Ehrlich gesagt habe ich das lange etwas belächelt“, gesteht Anna, „mittlerweile kann ich das allerdings voll und ganz nachvollziehen. Meine Auszeit nahm ich mir schon im September, da hatte ich drei Wochen spielfrei und bis dahin schon knapp 50 Gigs hinter mir. Am letzten Augustwochenende war ich mehrfach gebucht, sowohl Club als auch Festival, und war außerdem mit dem Auto unterwegs. In dieser Nacht musste ich dann tatsächlich rechts ranfahren, weil ich einfach nicht mehr konnte und mir die Augen zufielen. Das ist mir vorher noch nie passiert.“ So kam der spielfreie September mit regelmäßigen Schlafenszeiten wie gerufen. „Das Auflegen an sich macht mir ja nichts aus, aber den Rhythmus jedes Wochenende über den Haufen zu schmeißen, stellenweise noch mit Alkohol zusammen, das ist das eigentlich Zermürbende. So weit, dass ich aber richtig entgiften muss, bin ich (noch) nicht, habe ich doch aktuell so viel Freude an dem, was passiert, und jede Menge liebe Menschen um mich.“
Es bringt also so manchen Vorteil, einen gut gefüllten Booking-Kalender zu haben, doch neben dem bereits erwähnten Schlafdefizit sind auch andere Nachteile nicht weit, geht das doch auch meistens zulasten der Studio- und Produktionszeit. Auch Anna Reusch hatte nach ihrer EP auf bouq und dem Remix für Wally Lopez kaum noch Gelegenheit für ausgedehnte Studiosessions. Was dieses Thema betrifft, ist sie jedoch voller Motivation und Zuversicht: „Im nächsten Jahr werde ich hier wieder deutlich präsenter sein, habe ich doch bereits tolle und interessante Anfragen von anderen Künstlern und Labels bekommen.“ In den nächsten Monaten jedenfalls wird es für sie mindestens genauso spannend weitergehen wie zuvor. „Es sind viele neue Clubs, Städte, Länder und Festivals im Kalender notiert, auf die ich schon sehr gespannt bin. Im April geht es dann zum World Club Cruise, und das wird mit ziemlicher Sicherheit ein einmaliges Erlebnis. Ich freue mich sehr auf 2018!“
Aus dem FAZEmag 070/12.2017
Text: Julian Haussmann
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