Chris Lehmann – Release-Marathon

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Ob mit Live-Instrumenten, analogen Effekten und gepaart mit einem Hauch Oldschool-Beats – die Marschrichtung in seinen Tracks und auf der Bühne ist eindeutig – vorwärts, hypnotisch, impulsiv. Der „Lehmann-Sound“ ist mittlerweile zum Markenzeichen des Sachsen geworden, der nicht nur auf seinem eigenen Label Sinope Recordings veröffentlicht, sondern im Laufe seines Schaffens schon diverse Labels in seiner Diskografie aufnehmen konnte, darunter Dreizehn Schallplatten, Eclipse Recordings, DSR und viele mehr. 131 Releases, 71 Remixe, zwei Alben und 35 EPs kann Lehmann bis dato verzeichnen. Dass Lehmann sein Studio nicht selten von innen sieht, wird er in den nächsten Wochen mehrmals unter Beweis stellen. Drei Alben sind geplant, das erste trägt den Titel „A Dark World“ und erscheint auf Room 307 Recordings. Darüber hinaus feiert sein Label, auf dem schon Künstler*innen wie Shadym, Hannes Matthiessen, Effektkind und mehr gesignet wurden, die 50. Katalognummer. Wir haben ihn zum Interview getroffen.

Chris, lass uns am Anfang starten. Dein erster Clubbesuch war 1993 – erzähle uns deine Geschichte.

Mein Name stammt von Chris Normen, dem Leadsänger von Smokie, ab. Das ist die Lieblingsband von meinem Vater. Er selbst spielt Workstation und Gitarre, meine Schwester Piano. Also kann man quasi sagen, dass ich recht musikalisch aufgewachsen bin. Und in der Tat war 1993 ein recht wichtiges Jahr. Als gebürtiger Sachse erlebte ich den Mauerfall mit und die neu gewonnene Freiheit. Genauso war auch das Gefühl mit dieser neuen Musikrichtung Techno, die damals neu und total aufregend war. Es gab keine Flyer, nur das Münztelefon und eine Nummer, die man anrief, um zu erfahren, wo der nächste Rave stattfand. Meist war dies Sonntagmittags in einer verlassenen Fabrik der Fall. Hier konnte man die Freiheit beim Tanzen ausleben, „in Trance tanzen“ nannten wir es. „James Brown is Dead“ war mein absoluter Lieblingstrack damals. Das waren meine ersten Berührungen mit Techno. In der Schule spielte ich damals schon den DJ, was aber mit Kassetten nicht so wirklich funktionierte bzw. eine enorme Herausforderung darstellte.

Wie entstand die Idee, selbst aktiv zu werden und fünf Jahre später die ersten Plattenspieler zu kaufen?

Meine Familie musste leider damals einen Neuanfang in Rastatt starten, da es  in meiner ehemaligen Heimat unmöglich war, Arbeit zu finden. Und genau dort lernte ich im Club Garage viele neue Freunde kennen. 13 Freunde gründeten damals das Kollektiv A.E.P. aka Alternative Excess Project. Hier entstanden die ersten Techno-Partys, und die waren richtig wild. Einige Freunde konnten schon richtig gut mit Platten auflegen, und das wollte ich dann auch lernen. Also kaufte ich mir 1998 zwei 1210er und ein Gemini-Mischpult. Wir verbrachten sehr viele Nächte in Kellern bei Freund*innen, um diese Kunst zu perfektionieren. Im Club, auf einem Festival oder zu Hause mit Kopfhörern dem Alltag für einen Moment entfliehen und positive Energie aufsaugen durch Musik, war schon immer und ist nach wie vor essenziell wichtig. Oder aber auch all den Frust wegtanzen. Ich möchte, dass die Gäste mit einem Lächeln nach Hause gehen – das ist mein Anspruch als DJ.

Du hast gerade deine Heimat angesprochen, wie hat sich diese auf dich bzw. deinen Sound ausgewirkt?

Ich denke, da wir oft in Frankfurt in legendären Clubs wie dem Omen, Dorian Gray oder dem U60311 feiern waren, ist das die härtere Seite von mir, die Techno lebt und liebt. In Stuttgart waren wir auch oft im alten M1, und das wiederum ist dann die Liebe zu melodischem House und Techno. Ich liebe auch Trance, den altehrwürdigen Sound of Frankfurt oder beim Hessentag in seiner alten Form, heute auch als Neo-Trance bekannt. In einigen Produktionen hört man diese Einflüsse von mir. Oder wie mein Kumpel Zeljko immer sagt: „Haste wieder einen Rückfall gehabt.“ (lacht) Vor allem meine Reisen beeinflussen mich immer. Mexiko, Kuba, Guatemala usw.; hier entstehen viele Projekte am Computer, die ich anschließend im Studio vollende.

Mittlerweile bist du einige Jahre aktiv – was waren bislang deine Meilensteine? Sowohl in Sachen Shows als auch Releases unter anderem.

Mein erstes Release hatte ich 2014 bei Sound of Techno, dem Label vom De Hessenjung. Alex ist einer meiner wichtigsten Weggefährten und Freunde. Viele Ideen waren damals noch nicht umsetzbar. Deswegen habe ich eine Ausbildung als Audio-Designer bei Michael Kohlbecker von Eternal Basement bzw. Harthouse in Frankfurt durchlebt. Die Resultate wurden immer besser und die Labels, auf denen ich veröffentlichen konnte, dadurch größer. So z.B. Dreizehn Schallplatten, Eclipse Recordings, DSR Records, Ithica Records, Dolma Records und Frequenza, nur um einige zu nennen. Auch durfte ich schon mit Künstler*innen wie Niereich, Shadym, Tony Romanello, Aikai uvm. arbeiten. Auf einmal war das alles normal und komisch zugleich. Gigs in Clubs wie dem Butan in Wuppertal, dem Gotec Karlsruhe, Studio Saglio Straßburg, Douala Ravensburg und das Salt & Pepper in Pforzheim waren schon besondere Momente.

Auch dein eigenes Label hat schon eine nennenswerte Historie. In diesem Monat feiert Sinope die 50. Katalognummer – erzähle uns mehr zur Historie und zur Philosophie des Imprints.

Sinope Recordings hat es sich zur Aufgabe gemacht, jungen aufstrebenden Künstler*innen die Chance zu bieten, ihre Musik auf allen digitalen Plattformen zu veröffentlichen. Es ist ein Independent-Label, das sowohl Techno, Hard-Techno und Melodic-Techno vereint und verfolgt. Künstler*innen wie Shadym, Hannes Matthiessen, Effektkind, Windeskind, Zeltak, Toxic D.N.A uvm. haben bereits bei uns veröffentlicht. Unser Credo ist, dass wir die Tracks veröffentlichen, wenn sie passen – ohne zu schauen, wie viele Follower*innen auf Instagram vorhanden sind.

Die Zeit in der Pandemie hast du recht produktiv genutzt – gewähre uns doch einen Einblick.

Alles beginnt immer mit „Halt mal mein Bier“ (lacht). In der ersten Pandemie-Woche habe ich vom Balkon aus gestreamt und dabei fast 700 Zuschauer*innen erreicht. Nach einer Woche waren es unglaubliche Zahlen im viertstelligen Bereich. Es tat gut, Menschen dort draußen etwas Positives zu geben und für einen Moment die Querelen rund um die Pandemie zu vergessen. Dann lernte ich Dominik Türschmann kennen – ein Dank geht an Britty Paula – der gerade ganz frisch im Salt & Pepper TechnAID gegründet hatte und Woche für Woche Livestreams ausstrahlte. Hier kam es zu den ersten professionellen Livestreams, zu denen ich Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen hatte. Einen großen Dank auch an Dominik, der mich immer wieder motivierte, nicht aufzuhören, Musik zu machen. Wir haben sogar vom Gasometer in Pforzheim und Germersheim an der Fronte Lamonte gestreamt. Generell ging es in dieser Zeit Schlag auf Schlag. Room 307 klopfte an der Tür, Alem ist mittlerweile ein sehr guter Freund und Kollege, der mich ebenfalls zu Podcasts und einem Screengreen motivierte. Auch die ersten Releases auf dem tollen Label waren schnell im Kasten. Der Sampler Vol.1 war also quasi nur der Anfang. Room 307 ist mittlerweile ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Künstler*innen aus der ganzen Welt, die sich unterstützen und gegenseitig helfen. Da leistet Alem immer wieder großartige Arbeit. Im Douala streamten wir mit der Old-Room-307-Crew ganze 23,5 Stunden live. In Belgien habe ich einen Stream bei Moonrocks Schallplatten aufgenommen, der im Nachgang in Brasilien bei Vector Radio Expansion ausgestrahlt wurde. Der Gründer Dennis Engelhardt und ich sind mittlerweile nicht nur Kollegen, sondern richtige Freunde geworden.

Du bist damit Teil von zahlreichen Kollektiven und Brands – wie unterscheiden sich diese in deinen Augen und was macht den Spirit des jeweiligen Brands aus?

Bei Room 307 tummeln sich viele Produzent*innen, von denen ich immer wieder etwas Neues lerne. Es herrscht viel Erfahrung, die mir hilft, den richtigen Weg einzuschlagen. Als ich privat komplett am Boden war, half mir Dominik Fritsch dabei, Ablenkung zu finden. Danke, dass ich ein Teil davon sein darf. Durch diese Umstände privater Natur veränderte ich mich auch auf der Bühne und wurde zu einer Art Dark Angel – ich fing an, mich zu schminken vor den Auftritten. Dark Spirit besteht übrigens aus mehreren Kollektiven und alle arbeiten zusammen. Danke an Marko von „Hannover ist Techno“, der mich als ersten Headliner in Deutschland im Juli 2021 wieder vor rund 400 Gästen hat spielen lassen. Der Moment, endlich wieder vor Publikum zu spielen, war so heftig, dass ich die eine oder andere Träne vergossen habe. Ich kann mir ein Leben ohne die Bühne nicht vorstellen. Leon mit seinen Endless Raving Partys ist auch von großer Bedeutung. Der Name für das Projekt entstand, als er den Remix von Dennis Bauer hörte, den er für mich produziert hatte. Im Allgemeinen liebe ich die vielen kleinen Kollektive, die in der Zeit entstanden sind. Plan A Rave in Karlsruhe zum Beispiel ist ebenfalls bedeutend.

In diesem Jahr werden gleich drei Alben von dir erscheinen, was dürfen wir erwarten?

Im Mai gibt es das erste Album mit dem Titel „A Dark World“ mit acht Tracks, das bei Room 307 erscheint. Techno und Acid stehen dabei im Fokus, treibend, impulsiv und dreckig. Wir veröffentlichen sogar auf CD. Das zweite Album ist mit Dennis Engelhardt zusammen entstanden und umfasst sechs Tracks. Hier geht es in die Richtung Meldodic-House und Techno. Engelhardt & Lehmann ist ein zweites Projekt, das hier quasi richtig an den Start geht. Veröffentlicht wird es auf Heimatliebe Records. Der dritte Longplayer heißt „Transfer“ und ist quasi inmitten der Corona-Zeit entstanden. Hier gibt es einige experimentelle Tracks zu hören, zwölf an der Zahl, und Sinope ist das Label dazu. Drei Tracks davon wurden schon ausgekoppelt.

Auch in Sachen Shows hat sich dein Kalender wieder gut gefüllt. Was ist dort geplant?

Dark Spirit hat im Cube in Lahr eine Heimat gefunden. Dort wird es richtig heiß am 6. Mai mit Zeus und Fappe & Bru. Und die nächsten Events mit dieser Crew sind ebenfalls schon geplant. Die erste Label-Record-Nacht ist geplant; und hier konnten wir einen großen internationalen Act buchen. Ende Mai steht das Grashüpfer Festival bei Karlsruhe an und ein Tiefdruck Rave in Bruchsal. Eine Rückkehr nach Hannover zu „Hannover ist Techno“ im September ist fix und das Schimmerlos in Regensburg ist auch in Planung mit Florian Binaural. Ich denke, Dominik Türschmann wird mich auch auf ein Bierchen ins Salt & Pepper einladen (lacht). Ein Termin in Liverpool ist gerade ebenfalls ein Thema, hoffen wir, dass das klappt. Österreich und Schweiz sind in Planung; und so wie es aussieht, auch ein Livestream in Kroatien. Da ich zum Großteil nur noch eigene Produktionen spiele, werden diese Sachen zu noch besondereren Momenten.

Was hast du außerdem für dieses Jahr sowie danach geplant?

Etliche Releases sind geplant. Engelhardt & Lehmann wird sich via Livestream vorstellen und dabei ebenfalls nur eigene Produktionen spielen. Der Ort für die Aufnahme wird noch mal das toppen, was wir bisher gemacht haben. Der Umzug mit meiner Herzensdame, die mich komplett in allen Belangen unterstützt, was nicht immer einfach ist, in eine gemeinsame Wohnung mit größerem Studio. Einige CDs werden gepresst, ich bin recht frisch bei Alienator Bookings. Mittlerweile gehört Daniela Kaiblinger auch zu meinen längsten Weggefährten. Dazu zähle ich auch Kim Damien mit seinem Label Kulturgut Records, wo es ebenfalls eine neue EP von mir geben wird. Ein Fotoshooting mit besonderer Maskerade wird gerade geplant. Viele Dinge, die 2023 geplant sind, bleiben noch im Geheimfach. Ich freue mich auf alles, was da kommt.

Aus dem FAZEmag 123/05.22
Text: Matt Eagle
Credit: MDD Pictures
www.instagram.com/chrislehmann.official