Clubbing in der Ukraine – Ein Reisebericht von Jordi Lloveras

Es ist ein flirrend heißer Sommerabend in Kiew. In einigen Stunden soll ich hier zum ersten Mal  auflegen. Yana von DJ Boutique, die vor Ort alles organisiert hat, hat vorher noch einen Termin mit einem befreundeten Veranstalter in einem Club. Ob ich Lust hätte, sie zu begleiten? Klar, warum nicht. Und so sitze ich kurze Zeit später auf einem niedrigen Ledersofa und wundere mich. Wundere mich über die Musik, einen für mich ziemlich undefinierbaren Elektropop, der von zwei weiß gekleideten und sorgfältig frisierten DJs mit großem Elan und großer Geste in dem noch fast völlig leeren Laden zusammengemischt wird. Wundere mich darüber, dass außer den DJs hier auch sonst fast alles weiß zu sein scheint. Das Ledersofa, auf dem ich sitze. Das Plexiglastischchen davor. Die von innen beleuchtete Bar. Die Wände. Die Decke. Der aufwendig verspiegelte Eingangsbereich. Sogar die Tanzfläche, Herrgottnochmal! Und es ist hell. Sehr hell. Aus Deutschland kenne ich es, dass sich die Augen in den allermeisten Läden erst mal eine Weile ans Halbdunkel gewöhnen müssen. Hier muss man beinahe aufpassen, dass man nicht von den Halogenstrahlern geblendet wird, die jede Nische des kleinen Clubs sorgsam ausleuchten. Was zum …?

Aber der Club füllt sich schon um Mitternacht, und mit dem Eintreffen der Gäste wird klar, dass man nicht hier her kommt, um in gnädiger Dunkelheit auf der Tanzfläche sein Make-Up zu ruinieren. Stattdessen schreiten fast nur perfekt gestylte Paare die Stufen vom Foyer herunter und werden vom Personal und den anderen Gästen freundlich begrüßt. Ich habe keine Ahnung von der Mode- und Modelszene, aber einige der Mädchen hier sind wahrscheinlich gerade auf Titelblättern. Mit ihren hohen Absätzen sind sie meist auf Augenhöhe mit ihren Begleitern oder überragen sie noch. Die jungen und nicht mehr ganz so jungen Männer haben sich mehrheitlich für einen unauffälligen Business-Look entschieden. Trotzdem oder gerade deshalb vermutet man den einen oder anderen um die Ecke geparkten Sportwagen oder Schlüssel zum Luxuspenthouse in den Hosentaschen. Und während ich noch etwas ungläubig das Defilee der Schönen und Reichen betrachte, schießt mir der Satz durch den Kopf, den ich von befreundeten DJs, anderen Reisenden und Einheimischen schon einige Male gehört hatte: „Only in Ukraine …“

Während wir in Deutschland jahrelang gebannt nach London, New York oder Chicago geschaut haben, hat sich in Osteuropa fast unbemerkt eine ganz eigene Clublandschaft entwickelt, die sich im internationalen Vergleich nicht zu verstecken braucht. Festivals wie Sziget in Ungarn, Exit in Serbien oder vielleicht noch Sunwaves in Rumänien sind einigen dem Namen nach schon geläufig. Dass es aber Clubs gibt wie den Kristal Glam Club in Bukarest oder das Arma 17 in Moskau, die Woche für Woche die großen Namen der elektronischen Musik zu Gast haben und von denen heimkehrende Künstler meist mit glänzenden Augen und in Superlativen schwärmen, hat sich noch nicht wirklich herumgesprochen. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass z.B. ein Ricardo Villalobos im Arma 17 auch gerne mal Sylvester feiert, dann wird klar, in welcher Liga diese Clubs spielen.

Elektronische Musik ist in Osteuropa und gerade in der Ukraine im Mainstream angekommen. Taxifahrer wechseln wie selbstverständlich zwischen CDs von russischen Funpunk-Kapellen und Mixen von Stephan Bodzin oder Oliver Huntemann hin und her. „Where are you from? Germany? Very good. Olivär Chuntemann – very good.“ Und auch in den Großraumdiskotheken läuft elektronische Musik, allerdings mit ganz eigener Prägung. Uplifting Trance und melodischer Progressive House kommen in den Kiewer Vergnügungstempeln wie Saxon oder Arena besser an als minimalistisches Geklacker und reduzierter House Berliner Prägung. Es muss halt ordentlich rappeln. Dafür feiern die Kids dann auch jeden Break und jeden Trommelwirbel mit erhobenen Händen und überbordendem Enthusiasmus. Knapp bekleidete Gogos, die sich weniger lasziv als energisch in Pose werfen, gehören hier wie selbstverständlich dazu. Und auch im DJ Pult finden sich neben den Residents und Lokalmatadoren regelmäßig sogenannte Glamour-DJanes, die sich im Laufe ihres Sets meist eines Teils ihrer Kostüme entledigen.

Der Arena Club hat einem ganzen Häuserblock seinen Namen gegeben, den er sich mit mehreren Restaurants, einem Stripclub und einem Einkaufszentrum voller winziger Shops teilt. Die Außenfassade des Arena Komplex gleicht der von Pariser Wohnhäusern entlang der großen Boulevards und passt damit gut ins Kiewer Straßenbild. Durch zwei große Tore gelangt man ins Innere, ein großes Atrium, das in seiner Betontristesse ein wenig an Sowjetzeiten erinnert. Und genau gegenüber vom Eingang des Arena befindet sich ein weiterer Club, der auch sonst nicht gegensätzlicher sein könnte.

Das Mantra bietet gediegenes Entertainment für Erwachsene. Tagsüber ein schniekes Restaurant mit sehr guter Fusion-Küche und einer umfangreichen Weinkarte, fläzt man sich hier auf bequemen Sofas und bewundert das in warmen Farben gehaltene asiatische Dekor. Abends wird das Restaurant zum Lounge-Bereich und die Türen zum Dancefloor werden geöffnet. Auch hier wieder: viel edle Hölzer, eine durchdachte Lichtregie und ganz viel Wohlfühlatmosphäre. Und im langen, warmen ukrainischen Sommer wird die Außenterrasse kurzerhand zum Dancefloor umfunktioniert. Betreiber und Resident DJ Serge Proshe steht, wenn er nicht gerade selber auflegt, meist abseits vom Trubel, beobachtet das Geschehen mit Argusaugen und dirigiert seine Mitarbeiter: Da ist eine Pfütze auf dem Boden, an dem Tisch will jemand bestellen, der Scheinwerfer dort blendet die Gäste. Aber wer die Schickeria der Stadt an sich binden will, muss sich eben Mühe geben. Und nur die Schickeria findet vor den strengen Blicken des Selectors an der Tür des Mantra Gnade – wer nicht dazu gehört, kommt hier nicht rein. Die, die es geschafft haben, genießen dafür den Abend in vollen Zügen. Hier steht man nicht vornehm herum, hier wird gefeiert. Da darf bei den Ladies auch schon mal die Frisur verrutschen. Ein bisschen wenigstens.

Ein krasser Gegenentwurf zum Mantra und fast noch angesagter ist der Boom Boom Room, der  auch genau so gut Berlin Room heißen könnte. An der Toreinfahrt eines Bürogebäudes mitten in der Innenstadt weisen nur sechs rot leuchtende Punkte den Eingeweihten den Weg nach drinnen. Über eine schmale Wendeltreppe gelangt man in die erste Etage. Und dann: ein geräumiger Loft, weiße Wände, Teppichboden, ein DJ-Pult an der Stirnwand, Boxen auf Stativen, eine große Bar am Rand, ein paar Strahler – fertig. Auf der Tanzfläche die gleichen Hipster, Designstudenten und Szenegänger, wie man sie auch in Berlin, Hamburg oder London sehen würde. Die Musik: frisch aus den Charts von Davide Squillace oder Jamie Jones. Nichts wirklich Neues also. Und doch – irgendwas ist anders. Weil die Leute hier anders sind. Weil man auf ein Lächeln meist auch ein Lächeln zurück bekommt. Weil die Wodkagläser größer sind. Weil man hier nicht bis Montagmittag auf Sparflamme feiert, sondern nur eine Nacht lang – aber dafür richtig.

Ob es an der Mentalität der Ukrainer liegt, an der angespannten wirtschaftlichen Lage, oder einfach nur an der Tatsache, dass House und Techno hier immer noch den Nimbus des Exotischen haben und man nicht schon morgens beim Bäcker einem Produzenten oder DJ auf die Füße tritt – Fakt ist, dass die Stimmung auf Partys meist etwas ausgelassener oder sogar wilder ist als in vergleichbaren Clubs hierzulande. Vielleicht kann eines der bemerkenswertesten Events der internationalen Festivalszene deshalb auch nur hier funktionieren. Die Rede ist von Kazantip.

An einem entlegenen Sandstrand der Halbinsel Krim am schwarzen Meer entsteht jedes Jahr für mehrere Wochen die selbsternannte Republik Kazantip, ein Zufluchtsort für Tausende Hedonisten, Freaks und Musikliebhaber aus allen Ecken des ehemaligen Sowjetreiches und zunehmend auch aus Westeuropa, den USA und anderen Teilen des Erdballs. Selbst weit gereiste Feierveteranen bekommen bei dem Wort „Kazantip“ einen leicht verklärten Gesichtsausdruck, sprechen von „Fusion Festival mit 30 Grad im Schatten“ und von „Burning Man am Strand“. Die Macher von Kazantip reagieren allergisch auf die Bezeichnung „Festival“. Für sie und für viele ihrer Gäste ist Kazantip viel mehr als das: eine Parallelgesellschaft, ein paradiesischer Ort, an dem die „Bürger“ der Republik glücklich und unbeschwert sein können, jeder auf seine Weise. Die wichtigste Regel lautet: Sei, wer du sein willst und tu, was du tun willst. Wer diese Regel nicht befolgt, ist ein Idiot und selber schuld.

Dass man hier an einem besonderen Ort ist, merkt man schon beim Betreten des Geländes. Jeder der insgesamt 17 Dancefloors ist ein kleines Schmuckstück. Der Stone Floor schimmert in der Sonne wie ein ausgehöhlter Stein mit einer Haut aus spiegelndem Aluminium. Der Water Floor hebt sich weit draußen aus dem flachen Wasser empor und ist nur durch einen langen Steg mit dem Land verbunden. Der Heaven Floor erinnert mit seinen niedrigen Sandsteinmauern und den Aufbauten aus weißer Plane an ein überdimensionales Beduinenzelt. Und überall auf dem Gelände finden sich surreale Skulpturen Konstrukte aus Stein, Metall und Holz.

Mit Einbruch der Dunkelheit öffnen die Dancefloors und eine Vielzahl von Lasern, Beamern und Strahlern tauchen das gesamte Areal in ein unwirkliches Licht. Neben internationalen Größen wie Richie Hawtin, Armin van Buuren, Marco Carola, Sven Väth oder Carl Cox spielt hier auch die Elite der ukrainischen Szene. Namen wie Nastia, Kon, Joss, Ruslan Mays, iO, Goshva, Sunchase, San Diego Boys, Vova KLK, Timur Basha oder Tolya Tokyo sind in Deutschland zwar noch weitgehend unbekannt, in einigen Fällen dürfte sich das aber ziemlich bald ändern. Die eigentlichen Stars von Kazantip sind aber nicht die berühmten DJs, sondern die von absurd bis umwerfend aufgestylten Gäste. Und während ich an einer der vielen Strandbars einem mitgereisten Freund zuhöre, der halb stolz, halb peinlich berührt seine Eskapaden vom Vorabend beichtet, schlendern ein Mann im selbstgeschneiderten Superheldenkostüm und eine Latexdomina laut lachend an uns vorbei. Und zum wiederholten Male ertappe ich mich bei dem gleichen Gedanken wie an meinem ersten Abend in Kiew: „Only in Ukraine …“

Links
Mantra Party Bar
Boom Boom Room
Sky Art Café
Forsage
Feeleed
Kazantip

Jordi Lloveras