Clubkultur in Leipzig – zwischen Nostalgie und frischem Wind

Als im Frühjahr dieses Jahres die Bagger auf das Gelände der Kurt-Eisner-Straße 108a anrückten, war das ein Moment der Melodramatik: Die Distillery, Ostdeutschlands ältester Technoclub, würde in wenigen Augenblicken offiziell Geschichte sein – auf dem Papier und auch physisch. Zuvor hatten sich Fans und Involvierte noch die Zeit genommen, der „Tille“ eine letzte Ehre zu erweisen – es wurden Kerzen aufgestellt, eine Trauerrede gehalten und sogar der ein oder andere Stein mit nach Hause genommen. Wenig später wurde der Club auf einem ehemaligen Gelände der Deutschen Bahn dann zugunsten einer Neubebauung in Schutt und Asche gelegt. Das war’s.

Die Distillery, kurz vor Beendigung der Abrissarbeiten. Ein Anblick, der so manchem das Herz zerrissen haben dürfte.

Nüchtern und rational betrachtet markiert das Aus der Distillery hingegen eine Zäsur. Leipzigs Szene befindet sich schon länger im Umbruch, was nicht nur anhand des Ablebens von Distillery, IfZ, mjut & Co. messbar ist, sondern auch in Form des allgemeinen Konsenses innerhalb der Subkultur, die auf eine so traditions- und ereignisreiche Geschichte mit vielen großartigen Künstlerinnen und Künstlern, Figuren und Institutionen zurückblickt. In Zeiten der Neuausrichtung passt es somit nur zu gut ins Bild, dass die Distillery in Kürze an einem neuen Ort mit neuem Konzept wiedereröffnen wird. Den Blick nach vorn gerichtet, nicht in den Rückspiegel. Progressivität ist das Stichwort.

Doch trotz vieler kreativer Köpfe und einer stetig motivierten Szene darf man sich auch in der dynamischen Großstadt in Sachsen nichts vormachen. Auch hier wüten die Auswirkungen von Corona und Inflation, von bürokratischem Irrsinn und allerlei weiteren Faktoren, die Clubs und Veranstaltenden das Leben schwer machen. War früher also doch alles besser? Wir haben mit Leipziger Branchen-Figuren und Kollektiven gesprochen, um uns ein Bild zu machen. Mit dabei sind Moon-Harbour-Mitbegründer André Quaas, Falk Wacker von „Sound of Leipzig“ und TixforGigs, Jörg Kosinski vom Leipziger LiveKommbinat, Kristin Marosi vom NachtRat, die Szene-Urgesteine DJ Filburt und Mandy Engel sowie das Kollektiv Leipzig Open Air, das sich als SocHop GbR für nicht-kommerzielle Events starkmacht.

André, beginnen wir die Runde bei dir. Vielleicht möchtest du uns mit auf eine kleine Zeitreise ins Jahr 2000 nehmen – das Gründungsjahr von Moon Harbour. Welche Clubs und welche Sounds geben den Takt im Leipziger Nachtleben vor?

André Quaas: Es fühlt sich manchmal so an, als ob es damals einige Clubs mehr gab in der Stadt. Neben der Distillery, dem Ort, an dem wir die Gründung von Moon Harbour beschlossen, gab es noch etliche weitere Clubs sowie Lagerhäuser als Off-Venues für ausgewählte Tourneen. Musikalisch lief vieles, von Deep-House, Disco und Minimal-Techno bis hin zum Club-Jazz und Drum & Bass. Insgesamt war es jedoch eine Zeit, die nach einem neuen Aufbruch verlangte.

André Quaas – Mitgründer von Moon Harbour und Times Artists

Ein Aufbruch, an dem ihr mit Moon Harbour wenig später teilhaben solltet. Zusammen mit der an ans Label angeschlossenen Bookingagentur Times Artists konntet ihr schnell eine internationale Interessensgemeinschaft generieren und große Erfolge feiern. Das tat der Leipziger Szene sicherlich gut, oder?

André Quaas: Es ging für uns tatsächlich schneller voran als gedacht und wir starteten gleich von Beginn an unsere eigenen Moon-Harbour-Abende. Zuerst ganz winzig im Cortex, dann im Kosmophon, und nach dessen Schließung waren wir für viele Jahre regelmäßig in der Distillery sowie in verschiedenen Clubs bundesweit zu Gast. Wir schöpften aus einem zuvor aufgebauten Netzwerk von Clubs, Artists, Magazin und Musik-Vertrieb und Verlag. Welchen Einfluss das letztendlich auf die Entwicklung der Szene hatte, behalte ich mir vor zu beurteilen, aber inspiriert und motiviert hat es bestimmt einige Kollegen und Mitstreiter, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Die Gründungsjahre von Moon Harbour um 1999/2000/2001 waren eine besondere Zeit, in der die Szene reifte. Irgendwie auch beeinflusst vom Millennium-Hype, dem Rückgang großer Vinyl-Verkäufe zugunsten von CDs und P2P-Plattformen sowie der großen Nachdenklichkeit mit und nach dem 11. September.

Gab es eine Zeit, die du als „Prime“ der Leipziger Technoszene bezeichnen würdest?

André Quaas: Vor einigen Jahren hat die Distillery einen Film produziert, in dem das recht gut beschrieben wurde: die Gründung und der Aufbruchsrausch der Szene Anfang der 90er-Jahre und eine gewisse Primetime Mitte/Ende des Jahrzehnts, als es täglich spannende Musikveranstaltungen- und Stile zu entdecken gab. Es gab endlos viele Projekte ohne allzu viele Regeln, Bürokratie und Geschäftssinn, allerdings auch ohne Lobby oder Schutzmechanismen. Echte Strukturen etablierten sich erst in den 00er-Jahren, und Mitte der 2010er begann dann wieder eine Zeit des großen Club-Hoppings. Wer wollte, konnte zahllose Clubs fließend nacheinander besuchen: Distillery, IfZ, So&So, Conne Island, Villa Hasenholz, Superkronik, Elipamenoke, Ortloff, Pferdestall und das mjut. Dazu gab es verschiedene kommerzielle Anbieter.

Der Außenbereich des Elipamanoke. Der Club legt Wert auf ein diverses Programm und hat gerne mal bis in den frühen Vormittag geöffnet.

So eine reichhaltige Clubkultur war doch sicherlich auch ein enormer Pull-Faktor für junge Leute, oder?

André Quaas: Leipzig bietet eine hohe Attraktivität als Stadt zum Wohnen oder auch nur auf einen gelegentlichen Besuch. Nachdem die Stadt in den 90er-Jahren um etwa Hunderttausend Einwohner schrumpfte und ganze Wohnviertel abgerissen wurden, legte sie seit den Nuller Jahren wieder massiv zu und drehte den Trend. Speziell die Musik hat hier eine sehr lange Tradition und einen hohen Stellenwert. Viele der neuen Bewohner kommen zum Studieren oder für einen Job in einer der größeren Firmen oder Institute oder einfach nur für ein Kulturwochenende oder für den Sommer am See. Das alles beflügelt auch das Nightlife nachhaltig.

Natürlich kommen wir nicht umhin, auch über die Distillery zu sprechen, die seit dem 31. Mai 2023 Geschichte ist …

DJ Filburt: Ein Ort, der mich in vielerlei Hinsicht geprägt hat. In guten wie in schlechten Zeiten.

DJ Filburt

Wie groß ist das Loch, das der Abriss in der Leipziger Clubszene hinterlässt?

DJ Filburt: Man merkt schon, dass etwas fehlt. Doch das Rad wird sich weiterdrehen und neue Dinge werden sich entwickeln. Von Stillstand kann man nicht reden. Eher ist gefühlt gerade alles in einem Wandel. Aber ich bin gespannt, wie es weitergeht, wenn sie wieder aufmacht.

Noch in diesem Jahr soll es angeblich so weit sein. Können wir dir etwas zum Konzept und der Philosophie des MH7 entlocken?

DJ Filburt: Da müsst ihr mit Steffen Kache reden. Aber es ist gut, dass sich etwas Neues entwickelt, da die Distillery ihre feste Position hatte und die Stadt über die Jahrzehnte prägte. Damit geht natürlich eine Erwartungshaltung einher.

Die Backstage-Tür der alten Distillery. Was hier hinter passiert ist, könnte vermutlich ganze Bücherregale füllen.

Dein persönlicher Ausblick auf die Zukunft der Leipziger Szene?

DJ Filburt: Mit fast 30 Jahren innerhalb dieser Szene habe ich einige Aufs und Abs erlebt. Viele Clubs gibt es nicht mehr. Aber es gab immer Idealist*innen, die Lust hatten und immer noch haben, etwas zu machen und Neues zu gestalten. Wir haben Glück, dass jedes Jahr immer wieder neue junge Leute von außen nach Leipzig kommen. So wird es auch weitergehen, da bin ich mir ganz sicher.

Neben der Distillery ist auch das mjut mittlerweile Geschichte. Zudem verkündete das Institut fuer Zukunft (IfZ) sein Aus zum Jahresende. Der Abgang erfolgt in … sagen wir … etwas unrühmlicher Manier. Was war da los?

Falk Wacker: Ich persönlich habe den Eindruck, dass sich die Gewichtung zwischen der eigentlichen „Partynacht“, worum es doch in einem Club hauptsächlich geht und gehen sollte, völlig verschoben hat. Gefühlt gibt es Themen, die mittlerweile mehr Raum einnehmen als eben die „Party“.

Falk Wacker

André Quaas: Das IfZ war ein enorm beeindruckender Club in einem einzigartigen Baudenkmal der Stadt und mit inhaltlich sehr vielfältigem Programm und Kooperationen. Ähnlich vielfältig war meines Wissens die interne Struktur. Man versuchte, diese so offen und demokratisch wie möglich zu gestalten, mit einer gewissen Transparenz als Identität. Dadurch gelangten die Themen und Meinungsverschiedenheiten allerdings auch nach außen. Ich schätze, das gibt es auch anderswo, nur handelt man dort so etwas eher intern ab. Das Besondere an solchen Szene-Projekten wie dem IfZ ist auch, dass sie es sich nie einfach machen. Das ist doch sehr respektabel.

Das Institut für Zukunft. Einer der prestigeträchtigsten Clubs der Stadt schließt zum Jahresende.

Jörg Kosinski: Was exakt geschehen ist, lässt sich objektiv kaum feststellen, weil sich die Positionen in der Wahrnehmung vermischt haben und jede:r und seine/ihre Katze eine ausgeprägte Meinung dazu haben. Aber Streitigkeiten haben sicher nicht geholfen. Eine finanzielle Schieflage und zu wenige neue und alte Gäste nach Corona sind ein handfestes Problem, denn ohne ausreichend Einnahmen läuft es eben objektiv nicht.
Auch wenn die Leute, die schon immer vom Spielfeldrand gemeckert haben, jetzt mit Häme um sich werfen, geht hier einfach ein sehr wichtiger und ungewöhnlicher Ort und Community verloren. Das sollten die Leute anerkennen und die Gäste sollten in den letzten Monate würdig Abschied nehmen.

DJ Filburt: Es ist natürlich bedauerlich, dass sie die Probleme nicht überstanden haben und weiter existieren können. Auf der anderen Seite haben sie zehn Jahre lang die Szene geprägt – auch außerhalb Leipzigs. Das sollte man auch mal positiv bewerten.

Das Zuhause der neuen Distillery: der sogenannte „Kopfbau“ an der Messehalle 7, in den der Club einziehen wird.

Parallel erfreut sich die Szene allerdings auch an vielen Neuerungen. Ein kleiner Überblick?

Jörg Kosinski: Tatsächlich gibt es am Standort des mjuts ein tolles neues Angebot: das DUQO. Insgesamt muss man dieser Tage wohl etwas verrückt sein, um einen Club eröffnen zu wollen und es dann noch durchzuziehen. Erwähnenswert ist noch das Tanklager West, ein zukünftiges Kulturzentrum, auf dem gleichzeitig der Club „ost:end“ beheimatet ist. Die Verantwortlichen engagieren sich sehr und wollen langfristig etwas aufbauen.
Scheinbar erlangt auch der Vorplatz des Völkerschlachtdenkmals zunehmend Beliebtheit bei auswärtigen Veranstaltenden von Techno-Großevents, wie zuletzt u.a. mit Amelie Lens (2023) und erst kürzlich mit Solomun (2024). Sicherlich auch ein etwas zweifelhafter Trend, aber es kommt scheinbar bei den eventorientierten Zielgruppen an.

Jörg Kosinski

Falk Wacker: Es gibt auch immer noch einige kleine Off-Locations, Block-Partys aka Street-Raves oder wie neulich erst eine Party im Botanischen Garten. Es geht also noch was!

André Quaas: Da schließe ich mich an. Die Schließungen waren zwar eine Zäsur, aber ich bin optimistisch. Es bietet sich die Chance und der Platz für neue Projekte von denselben Crews. Leipzig ist bekannt für kleine undergroundige Projekte ohne viel Pomp. Diese kommen und gehen. Ob als Club oder in temporär eher ungeordnetem Rahmen oder einfach nur im Sommer im Park, an den großen Seen oder am Elsterflutbecken. Es gibt kreative Projekte u.a. im Umfeld vom Gleisdreieck, ost:end oder Neue Welle oder auch dem Pittlerwerk. Leipzig bietet noch immer viel Raum und Platz und die Offenheit für unabhängige Kollektive und Crews – wenn auch heute aufgrund von Verdichtung nicht mehr ganz so zentral in der Stadt wie früher.

Bei einer derart hohen Diversität an Clubs und Kulturstätten bedarf es einer Reihe an Organen zur Unterstützung dieser Orte. Dazu gehören in Leipzig etwa das LiveKommbinat, der Kulturkataster und der NachtRat. Da kann man sich eigentlich nicht beklagen, oder?

Jörg Kosinski: Ja, es gibt hier wirklich – ganz typisch Leipzig – eine Menge Engagement und viele Initiativen. Die Genannten sind sicher super Beispiele, aber da gibt es natürlich noch mehr. Was dabei aber immer wieder auffällt, ist der Mangel an Geld. Im Vergleich zu anderen Städten in Deutschland wird schnell klar, dass hier einfach viel weniger finanzielle Mittel für Unterstützungs- und Vernetzungsangebote zur Verfügung stehen. Das führt dazu, dass vieles auf ehrenamtlicher Basis und irgendwie „nebenbei“ gemacht wird. Und das kann auf Dauer – gerade aufgrund der Bedeutung für die Stadt – natürlich nicht nachhaltig sein. Hier können wir nicht auf besseres Wetter warten.

Du und Jörg seid schon lange in zwei dieser Institutionen involviert – dem LiveKommbinat Leipzig e.V. Und vom Livekommbinat ging auch der Kulturkataster aus. Wo liegen die Tätigkeitsfelder?

Jörg Kosinski: Ich bin im Ehrenamt Vorstandsmitglied im LiveKommbinat Leipzig. Als Verein stehen wir in ständigem Austausch mit den 17 Spielstätten, die bei uns Mitglied sind, und besprechen Alltägliches im Betrieb, Herausforderungen und mögliche Lösungen. Es geht viel um das Tagesgeschäft, aber auch um die größeren strukturellen Fragen, die die Clubszene betreffen. Nach außen hin agieren wir durch verschiedene Aktionen. Zum Beispiel organisieren wir jährlich eine Bustour, bei der wir Menschen aus Verwaltung und Lokalpolitik direkt an die Orte der Kultur bringen, damit sie die Szene besser verstehen und wir gemeinsam ins Gespräch kommen. Außerdem arbeiten wir eng mit Verbänden und Netzwerken aus dem Kulturbereich zusammen und stehen regelmäßig im Dialog mit Lokalpolitiker*innen. Dabei bringen wir uns aktiv in die Diskussionen ein, und wir sind auch Ansprechpersonen für Medienanfragen. Ein konkretes Beispiel unserer Arbeit ist die Kooperation mit TixforGigs, einem Leipziger Ticketing-Dienstleister. Gemeinsam haben wir den „Clubeuro“ eingeführt – eine Option, bei der Clubgänger*innen und Konzertbesucher*innen mit dem Kauf eines Tickets gleichzeitig die Leipziger Spielstätten bzw. das LiveKommbinat unterstützen können. Aktuell begleiten wir die Durchführung der ersten Leipziger Club- und Spielstättenstudie. Erwähnenswert ist noch das interaktive Dokumentationsprojekt „Lost Clubs Leipzig“.

Außenbereich und Gebäude des ehemaligen mjut bleiben in den Händen der Subkultur. Kürzlich ist hier das DUQO eingezogen und verspricht einen spannenden Mix aus Bar- und Clubbetrieb.

Falk Wacker: Durch meine Arbeit als Social-Media- bzw. Marketingmanager bei TixforGigs bin ich sozusagen die Schnittstelle zwischen dem LiveKommbinat und TixforGigs. Davon profitieren letztlich alle Parteien in Form von kürzeren Wegen und einer verbesserten Zusammenarbeit. Mit meinem privaten Projekt „Sound of Leipzig“ berichte ich außerdem über die Leipziger (+ Umgebung) Clubkultur und kann dadurch Einblicke und Wahrnehmungen aus einer Art „Besucher-Perspektive“ schildern. Das kann sehr hilfreich sein.

Und der Kulturkataster?

Jörg Kosinski: Der Kulturkataster war von der Idee her ein Versuch, Clubs und Livemusikspielstätten wortwörtlich auf die Karte der Verwaltung und der Entscheidungsträger*innen zu bringen. Auf diese Weise sollten die Clubs sichtbarer und bei Planungen rechtzeitig mitbedacht werden. Schutz schaffen, damit Clubs nicht einfach übersehen werden. Mittlerweile ist der Kulturkataster eigentlich eine digitale Karte, auf der verschiedene Kulturorte eingetragen sind. Die wird öffentlich und innerhalb der Verwaltung genutzt. Das Problem ist leider, dass der Kulturkataster im Moment kein verbindliches Instrument ist. Das heißt, die Schutzfunktion durch die Sichtbarkeit wird noch nicht voll ausgeschöpft.

Kaum jemand verfügt über einen derartigen Überblick auf die Strukturen und Entwicklungen der Leipziger Szene wie ihr. Könnt ihr ein paar der wichtigsten Veränderungen der letzten Jahre einmal für uns zusammenfassen?

Jörg Kosinski: Die Stimmung hat sich auf jeden Fall verändert. Sie ist nicht mehr so aufgekratzt wie noch in der letzten Dekade, aber auch nicht mehr so leicht begeisterungsfähig.

Auf der positiven Seite steht, dass viel mehr Wert auf den Schutz und die Bedürfnisse der Gäste gelegt wird – ja, Awareness wirkt. Die Zeiten haben sich geändert, und die Gäste brauchen heute offensichtlich genau solche Angebote im Umgang miteinander. Unterm Strich ist das eine positive Entwicklung.

Auf der negativen Seite stehen die steigenden Kosten – für alles. Ob es der Betrieb, das Programm oder das Personal ist: Alles wird anhaltend teurer. Das hat natürlich Konsequenzen: Das Geld ist knapp, also wird weniger experimentiert. Die Leute sind auch wählerischer geworden, sie suchen sich ihre Angebote bewusster aus. Dazu kommt der steigende Verwertungsdruck, der selbst die letzten Ecken ehemaliger Industriebrachen betrifft – das spürt man immer wieder.

Ein weiterer positiver Trend ist die musikalische Vielfalt. Es ist mittlerweile fast selbstverständlich, dass man an einem Abend in einem Club die unterschiedlichsten Genres hören und ein vielfältiges Publikum antreffen kann. Das finde ich richtig gut. Auch die Szene selbst ist diverser und jünger geworden – zumindest aus meiner etwas nicht mehr ganz so jungen Perspektive. Zudem ist der Gesamteindruck aus den 2000er und 2010er Jahren heraus gesehen nicht mehr so stark männlich und konkurrenzbetont.

Was immer besser laufen könnte, ist die Zusammenarbeit und das Miteinander zwischen den verschiedenen Crews, Szenen, Clubs und Kollektiven. Da gibt es noch Luft nach oben, wenn man sich mal andere Städte anschaut – Grüße gehen hier nach Chemnitz.

Falk Wacker: Die Leute gehen weniger feiern! „Techno“ hat sich seit mindestens den letzten 3-5 Jahren massiv zu einer Art „Lifestyle“ entwickelt, natürlich nicht nur ausschließlich in Leipzig. Dabei spielen Social Media – vor allem TikTok und Instagram „Influencer“ – eine, nicht gerade im positiven Sinne, extreme Rolle. Gefühlt feiern die Leute mittlerweile mehr in kleineren, privateren Kreisen.

Aber es gibt auch kleine „Nischen“, die sich wunderbar etabliert haben, zum Beispiel die „Polyesterclub“-Partyreihe mit Funk- & Soul-Musik oder die „ItaloFundamentalo“-Crew, die sich Italo-Disco-Musik verschrieben hat. Weiterhin haben sich ein paar „Garten“-Konzepte entwickelt. Ich denke dabei ans duqo oder die Neue Welle mit ihren Außenbereichen, die im Sommer, auch über die Woche und am Wochenende, mit musikalischer Untermalung ein kleines, entspanntes „Ausklangsprogramm“ bieten.

Viel besser, auch dank vielfältigen Engagements, ist die Zusammenarbeit mit Behörden und der Verwaltung. Als LiveKommbinat versuchen wir natürlich, unseren Beitrag dazu zu leisten.

Jemand, der sich sehr engagiert und couragiert für die Belange der Leipziger Subkultur einsetzt, bist auch du, Mandy – eine echte Ur-Leipzigerin, die zum Abschied der Distillery die Trauerrede hielt. Welchen Background hast du?

Mandy Engel: Ich bin tatsächlich seit meiner Geburt in der Szene „verwickelt“. Meine Mutter war in den 80er-Jahren im Eiskeller (heute: Conne Island) und nach der Wende bis heute im ANKER e.V., einem soziokulturellen Zentrum und überregional bekannter Livemusikstätte, tätig. Mein Vater war zu Lebzeiten Gitarrist und Sänger. Ich konnte also gar nicht anders, als in der Szene zu landen.

Aktiv eingestiegen bin ich dann mit der Pressearbeit für diverse Clubs. So habe ich die Spielstätten nicht nur in meinen Sendungen als Radiomoderatorin gehighlightet, sie vernetzt und ihnen Platz und Gehör verschafft, sondern später auch selbst für die Clubs gearbeitet – zum Beispiel fürs DRUNK Mag der Tille.

Das Conne Island im namensstiftenden Stadtteil Connewitz. Es fungiert als selbstverwaltetes Jugend-Kulturzentrum.

Doch das ist längst nicht alles …

Mandy Engel: 2018 haben wir zu dritt die sehr erfolgreiche Drum ’n‘ Bass-Crew toBASSgo gegründet, mit eigener Residency in der Distillery und mehrfach mit Awards ausgezeichnet. Angesichts der doch recht kleinen Szene erfüllt mich das mit unfassbarem Stolz.

Man findet dich zudem häufig auf Demos und Podiumsdiskussionen, bei denen du mit Redebeiträgen gastierst. Wofür machst du dich stark?

Mandy Engel: Vor allem dafür, dass wir ein Miteinander brauchen, Meinungen aushalten müssen und entschlossen rassistischen und menschenverachtenden Aussagen oder Handlungen entgegentreten müssen. Auf diese Weise gelangte auch das Engagement „Our Bodies, Not Yours“ zu großer Aufmerksamkeit. Ein Leipziger DJ hatte damals hunderte Alltagsfotos von Frauen geklaut und sie auf einer Pornoplattform weltweit zur Ansicht geteilt. In diesem Zusammenhang wurde auch die Petition zum Upskirting unterstützt, die in einem Gesetz mündete, dies unter Verbot zu stellen.

Mandy Engel. Credit: Hagen Wolf

Du setzt dich vehement für die Queer-Community und FLINTA+-Personen ein. Hast du den Eindruck, dass sich die Community von der Politik verstanden fühlt?

Mandy Engel: Es gibt einen Anfang, aber die Community ist noch lange nicht vollständig integriert. Zwar sind wir zum Beispiel mit dem bundesweiten Selbstbestimmungsgesetz einen großen Schritt weitergekommen, aber auf Landes-, regionaler sowie lokaler Ebene sind für die Projekte innerhalb der Community kaum noch Gelder vorgesehen. Erst in diesem Jahr gab es eine große Zäsur, als der RosaLinde e.V., Gründerin des CSD in Leipzig vor mehr als 30 Jahren sowie landesweite Vorreiterin in Sachen LGBTQ+ Rechte, nicht weiter gefördert wurde. Es gibt viele Beispiele.

In Leipzig haben wir das Glück, dass es viele Kollektive sind, die zunehmend inklusiver und diverser werden. Das ist eine wunderbare Entwicklung und ein Zeichen, dass die Szene hier, trotz vieler Bedrohungen, schon immer durch ein Miteinander und eine Kämpfernatur geprägt war. Eines davon ist equalize e.V., eine Initiative, die FLINTA+-Personen eine Möglichkeit der Entwicklung und eigenen Entdeckung in einem absolut sicheren Raum gibt. Es gibt viele niederschwellige Workshops und Kollaborationen.

Deine Lieblingsclubs der Stadt?

Mandy Engel: Alle, die irgendwie noch überleben und mit Herzblut dabei sind. Die, die sich gegen Hürden entgegenwerfen und dann vielleicht sogar etwas Spaß dabei haben. Alle, die Inklusion und Safe Space auf ihrer Agenda haben. Die sich auch trauen, lokale und Nachwuchs-Acts zu buchen. Auch wenn ich natürlich selbst als Veranstalterin weiß, wie schwer es ist, das zusammen zu stellen. Aber wir werden besser. Ich vertraue sehr darauf!

Kristin, kommen wir auf dich und den NachtRat zu sprechen. Welche Aufgaben erfüllt er?

Kristin Marosi: Der Leipziger NachtRat ist ein ehrenamtliches Gremium aus Vertreter*innen der Szene, Verwaltung und Interessensgruppen (z.B. Kreatives Leipzig, Drug Scouts, Leila, LiveKommbinat, Polizei). Er vereint Akteur*innen der Nachtkultur, wie z.B. Clubs, Livemusikspielstätten und kulturelle Institutionen, um den Austausch von Ideen und Lösungen zu fördern. Gemeinsam unterstützen wir Projekte zur Sicherung der Nachtkultur, etwa durch Open-Air-Flächen, und dienen als Schnittstelle zur Politik, um sicherzustellen, dass die Interessen der Szene in der Stadtentwicklung berücksichtigt werden. Wichtig ist vor allem, das Bewusstsein für die Bedeutung der Nachtkultur zu stärken.

Kristin Marosi

Die Institution ist noch relativ neu. Wie notwendig war ihre Etablierung und welche Erfolge konntet ihr bisher verzeichnen?

Kristin Marosi: Die Gründung des NachtRats war unbedingt notwendig, um Eindrücke zu gewinnen und wichtige Akteur*innen zusammenzubringen. Vorher fehlte in Leipzig eine zentrale Anlaufstelle für die Nachtkultur, die durch steigende Mieten, Gentrifizierung und ähnlichen Faktoren einem hohen Druck ausgesetzt ist. Das hat eine koordinierte Antwort erfordert. Wir evaluieren unsere Arbeit ständig und passen Konzepte an.
Erfolge, die wir bisher verzeichnen konnten, sind zum Beispiel die Unterstützung bei der Studie zu Club- und Livemusikspielstätten, deren Erkenntnisse die Grundlage unserer Arbeit bilden, die Entwicklung eines Leitfadens zum Gefahrenschutz der Gäste – vor allem: Spiking – und Kampagnen zur Aktivierung von Wähler*innen. Darüber hinaus hat die erste Mitteldeutsche Nachtkulturkonferenz (MiNa) in Leipzig stattgefunden und geht auf eine Idee aus dem NachtRat zurück.

Was sind eure langfristigen Ziele mit dem NachtRat und wo liegen die größten Hürden?

Kristin Marosi: Wir streben an, die Leipziger Nachtkultur langfristig durch die Etablierung stabiler Strukturen zu sichern. Wir wollen und müssen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur*innen und Institutionen weiter intensivieren, sowohl lokal als auch überregional. Unser Ziel ist es, die Interessen der Nachtkultur in die städtische und regionale Politik einzubringen und klarzumachen, welchen wichtigen Mehrwert sie für die Leipzigerinnen und Leipziger, aber auch für Tourist*innen und Unternehmen sowie deren Arbeitskräfte, generiert.

Unsere größte Hürde sind die begrenzten finanziellen Mittel. Die Koordinierungsstelle, die maßgeblich zur Umsetzung von Projekten und zur Funktion des NachtRats beiträgt, läuft zum Ende des Jahres aus. Ein rein ehrenamtliches Gremium in diesem Umfang kann schwerlich arbeitsfähig sein bzw. nur auf Minimalmaß funktionieren und schon gar keine großen Projekte umsetzen. Wir sind also auch von politischen Entscheidungen abhängig, die häufig nicht im Einklang mit unseren Zielen stehen.

Als Vermittlungsglied zwischen den Clubs und Spielstätten hast du sicher einen ziemlich guten Überblick über den internen Zusammenhalt der Szene. Wie sieht’s denn aus? Betrachtet man die Geschehnisse hinter den Kulissen des IfZ, scheint dieser ja zumindest teilweise zu bröckeln. Ein Youtuber sprach zuletzt gar vom „Scheitern der linken Praxis“ im Hinblick auf das Clubsterben…

Kristin Marosi: Der Zusammenhalt innerhalb der Szene ist grundsätzlich stark, vor allem während der Pandemie ist man nochmal ein Stück weiter zusammengerückt. Es gibt immer Herausforderungen und unterschiedliche Meinungen, insbesondere in Bezug auf spezifische Themen oder Konflikte. Es ist wichtig, dass wir im Dialog bleiben und gemeinsam nach Lösungen suchen, um die Probleme zu bewältigen und den Zusammenhalt zu stärken. Das funktioniert in den verschiedenen Interessenvertretungen. Das LiveKommbinat Leipzig e.V. beispielsweise ist die Interessenvertretung der Clubs- und Livemusikspielstätten. Zu den mittlerweile 17 Mitgliedern zählt auch das IfZ. Meine Aufgabe ist der Austausch zwischen Verwaltung, Politik und Akteuren. Wir versuchen, mehr als nur die Clubs- und Spielstätten im Blick zu haben, was gut sichtbar wird in der Vielzahl der unterschiedlichen Mitglieder des NachtRats.

Jörg Kosinski: Hat er Recht mit seiner Kritik der „Bubble“? Das überzeichnete und stellenweise doch ziemlich cringe Video zeigt einen maximal vergrößerten Ausschnitt der ‚Szene‘ (Trademark) – und das ist in Ordnung. Sich selbst nicht immer zu ernst zu nehmen und ab und zu den Spiegel vorgehalten zu bekommen, tut sicherlich auch mal gut.

Aber wenn der Spaß vorbei ist, stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt mit der Erkenntnis? Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Dinge schleichend zum Schlechteren verändern, und das ist das, was mir das Lachen nimmt: weniger Solidarität, mangelnde Aufmerksamkeit (und Zeit!) füreinander, das ständige Zeigen mit dem Finger auf andere, zugleich ein wachsender Druck zur Verwertung. Wenn, wie der Autor meint, eine bestimmte linke Praxis gescheitert sei, dann kann sie sich vielleicht auch verändern. Weniger Selbstdarstellung, mehr Miteinander – das wäre sicher kein falscher Schritt.

Falk: Wacker Yep, zum Teil hat er Recht, aber er ist „Youtuber“, klar nimmt er sich ein Thema vor, das schön polarisiert, das wusste er definitiv. Hab eigentlich mehr „Aufmerksamkeit und Gegenwind“ drum herum erwartet, aber es hielt sich in Grenzen.

Zurück zur Politik: Nach der vergangenen Kommunalwahl hat sich in Leipzig ein neuer Stadtrat gebildet. Was sind eure Erwartungen und wie bewertet ihr die bisherige Kulturpolitik der Stadt?

Mandy Engel: Finanzielle Unterstützung und Stadträte, die an die Szene glauben und sie wirklich unterstützen – auch über die Parteigrenzen hinaus. Wir brauchen ein Leipzig, das sich nicht nur mit der Szene schmückt – und damit sogar Werbung betreibt, sondern sie auch supportet. Wir brauchen fähige Personen in den Ämtern, die unseren Bedürfnissen nachkommen. Außerdem benötigen wir in diesem Zuge eine überarbeitete Antragskultur. Das muss endlich entstaubt und niederschwellig umgesetzt werden.

Jörg Kosinski: Leipzig hatte traditionell keine Koalitionen im Stadtrat, was die Dinge natürlich etwas anders macht. Aber die frühere „linke“ Mehrheit ist Geschichte und jetzt müssen neue Mehrheiten erst einmal mühsam gefunden und ausgelotet werden – besonders wegen der vielen neuen Stadträt*innen. Die Erwartung ist schon, dass sie verstehen und schätzen, welche große Rolle Kultur in allen Formen und Farben für die Leipziger*innen einnimmt.

Kristin Marosi: Ich erhoffe mir vor allem eine verbesserte finanzielle Unterstützung: Mittel für die Nachtkultur und speziell für Projekte, die diese erhalten bzw. für die (Nacht-)Kultur selbst. Außerdem wünsche ich mir langfristigere Planungsmöglichkeiten und Schutz der Freiräume, das gilt sowohl für kleine Gestaltungsräume, Spielstätten, Theater etc. als auch für etablierte bzw. größere Veranstaltungsstätten wie den Erhalt der Räume des IfZ im Kohlrabizirkus, für den weiteren Clubbetrieb oder die Messehalle 7, in der die Distillery sich ihr neues Zuhause erschafft. Gerade in schwierigen Zeiten für die Demokratie sind Kulturbetriebe, deren Orte zentral sind, für den Austausch und das soziale Miteinander wirklich essenziell. Es ist wichtig, dass der Stadtrat eine echte Offenheit gegenüber der Nachtkultur und der freien Szene zeigt und die Bedeutung dieser Kultur für die jüngeren Generationen anerkennt. Die Nachtkultur spielt eine zentrale Rolle in der kulturellen Identität der Stadt.

Jörg Kosinski: Insgesamt habe ich das Gefühl, dass Kultur in Zeiten multipler Krisen nicht mehr als ausreichend bedeutend wahrgenommen wird, um entsprechende städtische Ausgaben zu rechtfertigen. Das erschwert es natürlich ungemein, Räume für die nächste Generation und den Nachwuchs zu schaffen. Und das ist definitiv der falsche Weg. Wer mal eine persönliche Krise erlebt hat, weiß, dass es genau anders läuft: Kultur, Gemeinschaft und kreative Ausdrucksmöglichkeiten helfen uns, in dieser verrückten Zeit nicht den Verstand zu verlieren. Dafür braucht es nun mal auch die Möglichkeiten in einer großen Stadt. Die Erwartungen sind also momentan eher gering, aber der Bedarf ist groß. Jetzt ist sicherlich der Moment, aufzustehen und dafür zu sorgen, dass trotzdem etwas passiert.

André Quaas: Neben der Hochkultur wie Oper, Gewandhaus, Theater erfährt zwischenzeitlich auch die Subkultur etwas mehr Gehör als früher. Es gibt z.B. den Tag der Kultur im Stadtrat. Manche Clubs werden als erhaltenswerte Kulturstätten anerkannt und unterstützt. Jedoch, während die Hochkultur mit mehreren hundert Euro pro verkaufter Karte gestützt wird, wäre auch noch mehr Support für die Subkultur wünschenswert. Es sollte motivierten Crews und Kollektiven etwas leichter gemacht werden, neue Räume zu schaffen bei weniger restriktiven Auflagen. Außerordentliche Erwartungen habe ich da aber keine. Dafür gibt es mittlerweile Verbände wie die Livekomm oder die Clubstiftung, die das sicherlich besser ausformulieren und auch noch besser gehört werden können.

Wenn Jörg von der „nächsten Generation“ und dem „Nachwuchs“ spricht, seid sicherlich auch ihr gemeint, Kiri, Justus, Steven, Oli und Chris. Mit eurer Ende 2022 gegründeten SocHop GbR habt ihr ein interessantes Projekt gestartet, das vor allem Open-Airs und nicht-kommerzielle Events supportet. Was genau ist die Intention dahinter?

SocHop: Mit unserer Arbeit möchten wir einen Beitrag zu Stärkung, aber auch zur Anerkennung unserer Kulturszene in den Teilen der Bevölkerung leisten, die in ihrem Alltag weniger darin involviert sind. Außerdem wollen wir für verschiedenste Kollektive oder Bands ein niederschwelliges Angebot schaffen, eigene Veranstaltungen durchzuführen oder mit uns zusammenzuarbeiten. Wir versuchen, mit unseren Open-Air-Partys dazu beizutragen, der Bedeutung reeller sozialer Kontakte und des sozialen Austauschs wieder eine höhere Priorität zukommen zu lassen. Auch aus diesem Grund sind unsere Open-Airs kostenlos.

Das Team von Leipzig Open Air – von links nach rechts Chris, Steven, Oli, Kiri, Justus

Der Zugang zu Freiflächen ist ja bekanntlich ein leidiges Thema. Auch in Leipzig?

SocHop: Es gibt hier über zehn verschiedene potenziell durch die Stadt freigegebene Freiflächen, auf denen die Durchführung von Open-Airs möglich ist. Leipzig ist in dieser Hinsicht also sehr fortschrittlich. Das Ganze kann online kostengünstig beantragt werden, allerdings sind die bürokratischen Hürden ziemlich hoch. Das schreckt viele Organisatoren sichtbar ab – nicht zuletzt wegen der kostenintensiven Auflagen. So müssen beispielsweise sowohl die sanitären Anlagen als auch die Stromversorgung selbstständig und auf eigene Kosten bereitgestellt werden.

Der Wille einzelner Beschäftigte der Stadtverwaltungen und Behörden, uns zu unterstützen, wird oftmals durch ein ausgeprägtes Informations- und Kommunikationsdefizit zwischen diesen und Kulturschaffenden gedämpft. Schriftliche Genehmigungen erreichen die Veranstalter*innen häufig erst wenige Tage im Voraus, was eine erhebliche Unsicherheit auslöst und ein hohes finanzielles Risiko birgt.

Nicht zuletzt aufgrund von steigenden Eintritts- und Getränkepreisen in Clubs und auf Festivals sollte man doch eigentlich davon ausgehen, dass sich nicht-kommerzielle Veranstaltungen und Open-Airs einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Stimmt das?

SocHop: Grundsätzlich sind in Leipzig mit der Freigabe der Freiflächen viele illegale Open-Air-Partys verschwunden. Hierdurch wurde der Teil der Szene stark eingegrenzt, der sich absichtlich abseits der Normen aufhält. Dazu kommt, dass sich elektronische Tanzmusik mit dem Ende der Corona-Pandemie zusehends von der Subkultur in den Mainstream bewegt hat, was wiederum das Interesse an sämtlichen Veranstaltungen dieser Art ankurbelt. Selbstverständlich haben auch die gestiegenen Eintrittspreise, die auch auf die teilweise obszönen Gagen mancher DJs zurückzuführen sind, ihren Einfluss. Nur denken wir, dass durch den Schritt in den Mainstream jetzt auch die Menschen an elektronischer Musik interessiert sind, denen ein Clubbesuch aus verschiedensten Gründen nicht zusagt oder beispielsweise finanziell nicht möglich ist. Open-Airs bedienen dieses gestiegene Interesse, nicht nur in Leipzig.

Der Westhafen – eine der gefragtesten Open-Air-Venues der Stadt.

Abschließend noch eine Frage in die Runde: Leipzig braucht mehr …?

Jörg Kosinski: Miteinander, Nachtbusse und Straßenbahnen – und, ganz profan, mehr Moneten.

Falk Wacker: Lockerheit, Coolness, Risikobereitschaft, Veränderungswillen und jüngere Leute in den Verwaltungen. Außerdem: mehr House- und Disco-Musik. Bringt Minimal zurück!

Mandy Engel: Mehr Miteinander, zum Beispiel zwischen Anwohnern und Clubs/Freiflächen. Mehr Verständnis. Mehr Räume für echte Inklusion.

Kristin Marosi: Finanzielle Unterstützung. Denn steigende Mieten, höhere Kosten für Veranstaltungsplanung, Löhne und Bookings sowie wachsende Lebenshaltungskosten, bei gleichzeitig sinkenden Reallöhnen, könnten die Vielfalt der kulturellen Angebote einschränken.

DJ Filburt: House 🙂

André Quaas: Mut und Inspirationen zur Realisierung von Projekten, die die Subkultur fördern.

SocHop: Zugeständnisse an die Kultur- und Subkulturszene, um das zu erhalten, was diese Stadt lebenswert macht und gegenüber anderen Städten auszeichnet.

Aus dem FAZEmag 152/10.2024
Text: M.T.
Credits: Christian Modla, Hagen Wolf
Web: www.livekommbinat.de, www.nachtrat-leipzig.de, www.instagram.com/andrequaas, www.instagram.com/kleine_made, www.instagram.com/djfilburt, www.instagram.com/sndoflpzg, www.instagram.com/leipzig_openair