Der gläserne Gast – die Kolumne von Marc DePulse

Marc DePulse – aus dem Leben eines DJs: Der gläserne Gast

Staatsdiener, Kontrollorgane und Datensammler würden sich die Hände reiben, Partygäste vermutlich eher die Augen: Mit dem Perso oder via Fingerabdruck in den Club, quasi eine Stechkarte der Feiernden, um die komplette Überwachung auf allen Ebenen zu vollziehen. GPS 2.0 – immer genau wissen, wer wann wo ist, frei zugänglich für Instanzen, mit denen wir in der Freizeit nichts zu tun haben wollen. Zugegebenermaßen ein komischer Traum, aus dem ich da letztens erwacht bin, aber spätestens seit der Polizeidebatte zur Fusion ist das gar nicht mehr soweit her geholt. Big brother is watching you, möchte es zumindest gern.

„Guten Tag, Personenkontrolle. Darf ich bitte mal in Ihre Tasche schauen?“ Nun ist es ja gang und gäbe, bei Großveranstaltungen etwas genauer unter die Lupe genommen zu werden. Klarnamenpflicht auf der Gästeliste, personalisierte Tickets, verschärfte Einlasskontrollen. Mal die Arme heben um abgetastet zu werden. Den Damen den Lipgloss aus dem Täschlein fingern, dem DJ versehentlich die Grasschatulle aus dem Rucksack schütteln, das Sprengstoff verdächtige Taschentuch aus der Hosentasche zaubern. Nirgendwo sonst wird man bis aufs Unterhemd gefilzt, selbst man schon gar keins mehr an hat. Schlussendlich auch noch kurz den Ausweis zücken? Anno 2019 kein Neuland mehr.

Bei Veranstaltungen unterliegt man in Deutschland im Vergleich zum Ausland strengsten Vorschriften. Den Maßnahmenkatalog also einmal bedingungslos umsetzen, heißt: Brandschutz, Fluchtwege, getrennte WCs, Sanitäter, Security, Lautstärkenbegrenzung, Sperrstunde. Und das alles nur auf genehmigten Flächen. Sicherheitskonzepte, wie es das Amt gern will – und damit wohl nicht genug? Geht es nach den Silberlocken der Obrigkeit sind Benimmregeln und Restriktionen am liebsten noch auszuweiten und von exekutiver Gewalt knallhart umzusetzen. Schließlich möchte man die unbändige Jugend auf Schritt und Tritt verfolgen und sie nach Bedarf maßregeln. Kontrollierte Exzesse, betreutes Raven. Uniformierte Aufpasser installieren, wo keine benötigt werden. Denn die Gegenseite versteht es eher als Provokation, als dass sich ein Gefühl von Sicherheit breit macht. Eine Zielgruppe durch Kontrolle zu beherrschen ist diktatorisch, beinahe mittelalterlich.

Unsere Szene versteht sich als freiheitsliebende Gemeinschaft, die sich ihren eigenen Bewusstsein erweiternden Kosmos geschaffen hat und darauf aufbaut. Die Musik als Soundtrack für ungehemmtes Feiern. Kunst und Expression, um sich von den Zwängen des Alltags zu lösen. Doch allein der Gedanke, dass man an seinem Lieblingsort beim Ausleben seines kühnsten Schabernacks beobachtet oder gar gehindert wird, hinterlässt kein Gefühl der Freiheit. Es killt die Stimmung, schließlich möchte man unter sich bleiben, in Ruhe gelassen werden. Dieser Eingriff in das freie Leben fühlt sich irgendwie so an, wie wenn dein Vermieter jeden Abend für fünf Minuten vorbeikommen möchte, um auf deinem Balkon eine zu rauchen. Er dürfte es, aber gäbe es einen Anlass?

In Zeiten von Videoüberwachung und Cookies macht man sich ohnehin gläsern, auch wenn man das gar nicht will. Bekommt man doch auf sämtlichen Webseiten plötzlich Urlaubsangebote en masse angezeigt, obwohl man nur kurz nach einer Flugreise gesucht hat. Aktivitäten werden verfolgt, offline wie online. Allein das Wissen würde erschrecken, wie viele Kameras mein Gesicht heute Mittag auf dem Weg in die Innenstadt aufgezeichnet haben. Doch man lernt sich mit der Zeit aus diesem Netz zu befreien, die Präsenz zu ignorieren.

Die Unbeschwertheit wird man freien Menschen nie nehmen können, erst recht nicht, wenn sie sich für Werte und Rechte so stark einsetzen. Natürlich hat man bei Events nie alle Pappenheimer im Blick und Zwischenfälle wird man nie gänzlich vermeiden können. Was hilft? Miteinander sprechen, sich gegenseitig helfen und auf sich und seinen Nebenmann Acht geben. Dann kann das Wir-Gefühl wachsen und man gemeinsam eine unvergessliche Zeit genießen. Ganz ohne Big Brother.

 

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Foto:
 Jörg Singer/Studio Leipzig