„Die Welt in Scherben“ – die Kolumne von Marc DePulse

Marc DePulse – aus dem Leben eines DJs: „Die Welt in Scherben“

Meine interessanteste Reise im Jahr 2023? Ganz klar: Israel. Das Foto zeigt mich am Strand von Jaffa, als die Welt noch in Ordnung war. Ich war dort im März, hatte in Tel Aviv und Eilat gespielt und auf dem Weg dahin das Tote Meer und die unfassbaren Weiten der Mondkraterlandschaften von Mitzpe Ramon gesehen. Ich war fünf Tage umgeben von tollen Menschen, grandiosem Essen, einzigartiger Landschaft und Kultur. Ganz zu schweigen von zwei überragenden Partys. Feiern, als gäbe es kein Morgen mehr.

Doch das war einmal. Über ein halbes Jahr später ist jenes „Morgen“ ungewiss. Ich verfolge die Nachrichten mit Schrecken und aus einer ganz anderen Perspektive. Es macht schon einen großen Unterschied, wenn man Land und Leute kennt, anstatt es nur aus den Nachrichten zu hören. Ich mache mir große Sorgen um meine Freunde, stehe mit ihnen im Austausch, fühle mich aus der Ferne aber auch hilflos.

Bei all der Tragik ist es beinahe unangenehm festzustellen: Es ist ein weiteres Land, das uns aus beruflicher Sicht für längere Zeit wegbricht. Und damit reiht sich Israel in eine immer größer werdende Anzahl an Ländern ein, die für elektronische Musik ein großes Potenzial darstellen, aber derzeit nicht zu bereisen sind: Russland, Ukraine, Belarus, Serbien, Kosovo, Armenien, Aserbaidschan, Syrien, usw. Wo und wann hört es bitte auf?

Ich bin am prunkvollen Flughafen von Donezk (Ukraine) gelandet, wenige Monate bevor er in Schutt und Asche lag. Ich stand vor Gebäuden in Charkiw und Kiew (ebenfalls Ukraine), die es heute nicht mehr gibt. Mit selbiger Symbolik: Ich habe am Hafen von Beirut (Libanon) gespielt, als alles noch schön war. Ich habe in der Türkei aufgelegt, als der Kurs zum Euro noch 4:1 stand und internationale Acts noch bezahlbar waren. Ich hatte zudem Anfragen aus Damaskus (Syrien). Klingt verrückt? Fand ich auch. O-Ton: „Da fliegst du bis Beirut und machst die Strecke über den Berg mit dem Auto.“ 24/7-Security wurde versprochen, mit deutschen Sponsoren vor Ort geworben. Während das Auswärtige Amt zur dringenden Ausreise warnt, lockten hohe Gagen zum Abenteuer-Trip.

Man vergisst beinahe unter all diesen neuen Eindrücken, dass wir ja einen großen Krieg quasi vor der Tür haben: Russland und Ukraine. Ich habe beide Länder oft bereist, habe dort viele Freunde. Alle verurteilen den Krieg, alle wünschen sich ein friedliches Ende. Doch wie gehe ich damit richtig um? Den einen unterstützen, den anderen ausgrenzen? Das fühlt sich nicht richtig an.

Inmitten des Krieges flattern beinahe wöchentlich Booking-Anfragen aus der Ukraine oder Russland herein. Logisch: Die Menschen wünschen sich in Zeiten des Krieges Abwechslung, sehnen sich nach frischen Gesichtern hinter den Decks. Soweit die Theorie. Wie sähe es am Beispiel Kiew in der Praxis aus? Eine Zugreise von rund 25 Stunden, wenn man in Berlin startet. Eine ungewisse Fahrt ins Kriegsgebiet in einem beweglichen Ziel? Und im Club? Mal eben schnell in den Bunker huschen, wenn die Sirenen heulen? Puh! Gibt es einen Preis, ab wann man darüber nachdenkt? Ab wann kann man die Verantwortung für sich und seine Familie übernehmen? Wo heute der Himmel noch blau ist, kann sich das Blatt innerhalb von Minuten wenden. Und Russland? Auch hier locken Mondpreise, „unannounced“ Partys werden angepriesen, damit man als europäischer DJ sein Gesicht wahrt. Unabhängig von einer extrem komplizierten Reise sollte man das moralisch vertreten können. Letzteres Beispiel ist wie die Indien-Tour zu Covid-Lockdown-Zeiten. Einige Artists haben die Reise angetreten, gepostet hat niemand etwas davon. Das Gleiche passiert gerade wieder.

Während wir jetzt also die Anfragen aus Belgrad und Tel Aviv aus dem Kalender radieren, poppt plötzlich ein Land wie China auf, entdeckt Techno für sich, bucht europäische Acts. Trotz einer schwierigen wirtschaftlich post-pandemischen Phase. Oder wollen wir über die arabischen Länder reden, die sich dem Westen immer weiter öffnen, neben Fußballern auch immer mehr elektronische Musik importieren? Bricht man es rein aus wirtschaftlicher Sicht herunter, könnte man sagen: Eine Tür schließt sich, die nächste öffnet sich. Doch auf rein menschlicher Ebene tut dieser Satz sehr weh.

Einmal mehr grüßen wir aus unruhigen Zeiten. Aber auch einmal mehr verbindet und heilt uns die Musik. Und mit diesen Worten schicke ich ganz viel Kraft und Liebe raus und wünsche mir Frieden auf der ganzen Welt. Wünschen darf man ja wohl noch.

Aus dem FAZEmag 141/11.2023
Text: Marc DePulse

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