Dillon – Wohltuender Schmerz

Foto: Simon Habegger

Erschaffen in vollständiger Isolation, präsentiert uns die brasilianische Wahlberlinerin Dominique Dillon de Byington – kurz: Dillon – ihr neuestes BPitch-Album „6abotage“, das sie in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Alexis Troy (bekannt für seine Kollaborationen mit den Rappern Kollegah und RIN) aufnahm. Ihren bis dato letzten Langspieler hatte die in São Paulo geborene Sängerin und Pianistin 2017 mit „Kind“ veröffentlicht, auf dem es inhaltlich vor allem um ihr persönliches Wachstum und ihre Entwicklung als Künstlerin ging. „6abotage“ ist so gesehen das Resultat ihres individuellen Reifeprozesses, der nicht nur thematisch, sondern auch musikalisch neue Wege einleitet. Uns gegenüber hat Dillon nun Details zur Entstehung des Albums offenbart.

„6abotage“ mag in der Theorie die Thematik der Stunde in Dillons Alltag sein und doch ist die 34-Jährige mit ihren Gedanken derzeit ganz woanders: „Mir geht es gut, doch die Weltlage bricht mein Herz“, sagt sie und erklärt im gleichen Atemzug: „So viel Ungerechtigkeit und Krieg lässt alles andere oft nur nebensächlich wirken. Ich bin sehr froh, dass ,6abotage‘ nun draußen ist, arbeite am nächsten Release und bin Teil der ,Hamlet‘-Inszenierung am Thalia Theater in Hamburg, für das ich 2020 die musikalische Leitung übernahm.“  Man merkt, dass sich die Südamerikanerin irgendwie ablenken will von all dem Graus, der sich auf unserem Planeten derzeit ereignet. Auf der LP, die sie selbst als „Liebesbrief, Hilfeschrei und Konsequenz in einem“ beschreibt, verarbeitet sie all ihr hochsensitives Gedankengut zu einem konzeptionellen Gesamtwerk, das bedeutend zugänglicher ist als ihre vorherigen Alben. „Es ist freizügiger und direkter, ohne inhaltslos oder oberflächlich zu sein“, so Dillon über ihr vielleicht kühnstes bzw. mutigstes Projekt.

„6abotage“ lebt von einem ambivalenten Spannungszustand: Hochempfindliche Lyrics treffen auf die legeren Beats von Alexis Troy, mit dem sie eine Art Ausflug wagt: weg von der Pop-Musik, hin zu einer Art Electro-R ’n’ B, der den aktuellen Zeitgeist mit einer haargenauen Präzision trifft. Die Symbiose zwischen Troy und Dillon – man spürt sie von Track zu Track – und es wird deutlich, dass hier niemand Kompromisse eingehen musste. „Das Album klingt zu einhundert Prozent wie Dillon und zu einhundert Prozent wie Alexis Troy. Es atmet, lebt und gedeiht, weil wir uns den Raum gegeben haben, das Gleiche zu tun“, schwärmt Dillon, die bekannt für ihre autobiografische Arbeitsweise ist: „Sich durch meine Alben zu hören, bedeutet, sich durch meine Erlebnisse, mein Leben zu hören.“

Und genau das tun wir, liebend gerne und immer wieder aufs Neue: Stück für Stück, Takt für Takt, Zeile für Zeile. „6abotage“ mag verwundet und verzweifelt klingen, doch es ist auch beruhigend, hingebungsvoll und vor allem ein musikalisches Fünf-Sterne-Erlebnis, das wir Dillons fragiler, zauberhafter Stimme, eingebettet in die entschlossenen, fast schon cinematischen Beats von Alexis Troy, zu verdanken haben. Auf die finale Frage nach ihren restlichen Jahresplänen und möglichen Vorsätzen für 2023 entgegnet sie abschließend: „Ich habe keine. Ich versuche, im Hier und Jetzt zu leben und jeden Tag eine bessere Version von mir sein zu können.“ Das mag plausibel klingen, wir möchten aber dennoch bezüglich der Pläne widersprechen, denn Dillon befindet sich momentan auf großer Tour. Noch in diesem November ist sie unter anderem in Hamburg, Köln, Leipzig, Berlin und München zu sehen. Genauere Informationen erhaltet ihr hier im Heft.

„6abotage“ ist am 14. Oktober via BPitch erschienen.

Aus dem FAZEmag 129/11.2022
Text: Hugo Slawien
Foto: Simon Habegger
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