Don’t Cry For Us Alemania – Sieben Jahre im Underground von Buenos Aires, Teil 1

Barem. Dilo. Franco Cinelli. Nico Purman. Alejandro Mosso. Violett. Seph. Pablo Denegri. Jorge Savoretti. Gurtz. May Segui. Ana Helder. Santos Resiak. Guti. Andres Zacco. Brandub. Leonel Castillo. Mekas. Jorge Ciccioli. QiK. Matias Muten. Andrez Gonzalez. Lega. Jonas Kopp. Lexdinamo. Ezequiel Ezley. Ronan Portela. Sebastian Cohen. Dirty Room. Lucianno Villareal. Omar Salgado. Matthias Popoff. Franco Bianco. Fase Miusic Sender. Die Liste der Namen junger argentinischer Artists, die das internationale Musikgeschehen mitbestimmen, nimmt kein Ende. Schon lange sind ihre Sounds keine Geheimtipps mehr, ihre Tracks trendsetzend und ihre Labels und Partys in Europa beliebt und freqüntiert; mittlerweile ist der Grossteil dieser Artist zumindest in den Sommermonaten in Berlin ansässig.

Dank neuer Technologien und Computersoftware wie Ableton Live, dem Internet und revolutionärer Denkansätze – viele der bahnbrechenden Netlabels, die unter der Creative-Commons-Lizenz releasen, wurden in Argentinien gegründet – schaffte es eine neue Generation von DJs und Produzenten, Standards zu setzen, eine neuartige Ästhetik zu puschen, die immer weiter Laptop-isierten Sets und Sounds auf Floortauglichkeit zu polen, die Clubs mit ihrer reduzierten Maximalität zu prägen und zu bewegen. Ein immer weiter fortschreitender Prozess. Kaum ein Völkchen ist dabei so versiert zu Gange wie die Argentinier. Und genau wie beim Fußball tauchen sie im internationalen Bewusstsein nur dann auf, wenn sie im großen Stile Leute bewegen. Dann wird gefeiert.

Fernab der Klischees

Völlig fernab von den Klischees der Verallgemeinerungen geht das Leben inner- und außerhalb von Buenos Aires weiter. Über diesen Alltag wissen nur diejenigen Bescheid, die ihn leben. Dort entsteht die Sehnsucht, die Champions hervorbringt. Dieses Bedürfnis, endlich wahrgenommen zu werden, dort Anschluss zu finden, wo man Verbindung spürt. Seit den frühen Tagen, in denen mit zwei Taperecordern aufgenommen wurde, was im Radio zu hören war. Oder die Orgel der Mutter gespielt wurde, wie bei Leonel Castillo der Fall und bei Jorge Ciccioli, der gerade aus Berlin zurückgekehrt ist, wo er mit Rrygular einige hochgelobte Gigs gefeiert hat. In einer abgelegenen Hochhaussiedlung Lugano, in der Castillo – dessen Netlabel Groovear bald als Vinyllabel ge(re)laucht wird – groß wurde, gab es keine Clubs und auch keine Connection zur elektronischen Szene, nur ein diffuses Gefühl der Sehnsucht, die sich in einer Suche manifestierte. Heute wachsen die Leute nicht mehr so auf; non-stop connected ist alles zugänglich, es sei denn, die FBI vermutet Piraterie. Das Legalitätsdilemma war in Argentinien eigentlich nie ein Thema, schon immer war alles Raubkopie oder eben direkt unter Creative Commons herausgebracht. Original Musiksoftware hat hier keiner. Und Vinyl kommt nur in klitzekleiner Quantität aus Europa und den Staaten, zu gesalzenen Preisen, die nur die Priviligierten zahlen können, wenn sie denn wollten. Das Verteilungsprinzip ist einfach: Zuerst die berühmten DJs, dann die Nobodys – der abgegriffene Rest in die Grabbelkiste.

Fiestafiesta Latina

So war DJen bis zur Einführung von Ableton Live auch eher ein Hobby der gehobenen Klasse, die „Musica Electronica“ oftmals trendige, aber geschmacklose Beschallung elitärer Bars und Nightclubs und die „Szene“ auf einen Abklatsch des internationalen Jetsets fixiert. Jahrelang dominierten so Sound und Attitüden der Progressive House- und Tranceszene. Und so lang der Blick eben auf die übergroßen Helden, die in Privatjets herumgeflogen wurden, gerichtet war, gedieh in ihrem überlangen Schatten auch nur dümmlicher Abklatsch. Es war ja zunächst auch nicht so, als ob der hochgelobte Zirkel in Europa etwas für die sogenannten Drittweltler übrig gehabt hätte. Lange Zeit dominierte in den europäischen Hauptstädten die gepflegte Sichtweise, dass „hinter dem Mond“ auch gar nichts Interessantes entstehen könne, schließlich konzentriere sich die lokale Szene ja nur auf die (schlechte) Kopie der Trends. Allenfalls „exotischen“ Tribalsound von anderswo gestattete man sich im Kontext „Sommerhits“ und im praktischen Ibizaformat. Fiesta Latina eben! Mit der zunehmenden Globalisierung wurde vieles anderes. Internationaler. Gestreamt in Realtime. Und vor allem homogener, was die Produktionstechniken anging. Das mp3-Format, in downloadbaren Varianten gerippt, kopiert, gekauft und geshared, sorgte für den Durchbruch der Rest-Welt. Gleichere Chances für alle.

Die sogenannten Drittweltler

Auch wenn Südamerika, ein riesiger Kontinent, immer noch verallgemeinernd im Bewusstsein der Menschen auftaucht, tut sich etwas: Es wird allmälig anerkannt, dass Mexiko nicht Peru ist. Uruguay nicht Kolumbien. Brasilien eine mega Wirtschaftskraft. Argentinien gigantisch. Chile ja schon lang Exportschlagerland in Sachen Minimalien. Hinzu kommt auch das Bedürfnis etablierterer Artists aus europäischen und nordamerikanischen Kreisen, das Weite zu suchen. Und dort, in mystischen Locations mit die Fantasie anregenden Namen wie Rosario, Guayaquil oder Quito, neue Sounds zu finden. In die lokale Szene einzutauchen und dort Talente zu entdecken, mit denen man dann Compilations zusammenstellt und Remix-Projekte anleihert. Austausch. Neubelebung. Einer der Ersten, der in Argentinien fündig wurde, war Someone Else aus Philadelphia, Foundsound-Label und Unfoundsound-Netlabel-Gründer, der ein neues Talent nach dem nächsten zu seinem ersten Hotshot-Release bringt, zum Beispiel Barem, Omar Salgado, Santos Resiak und Pablo Denegri. Dann die berüchtigte „Postoffice Special Argentina Madness“-Telegraph-Records-Compilation. Und das in Argentinien gegründete und dann nach Berlin verlagerte Label Airdrop, das nach wie vor am fleißigsten diggt und neben Andres Zaccos Greener Records nun auch Groovear unter den Fittichen hat. Und natürlich der argentinische Produzent, Live-DJ und Labelchef Dilo, dessen gemütliches Igloo-Label seit der Gründung für ein wohliges Klima in der Eiswüste Argentinien sorgt, in dessen Infrastruktur sonst kaum ein Independent-Label gedeihen kann.

Neubürgerträume

Mittlerweile ist Dilo in Berlin eingebürgert: Ich bleibe, denn hier kann ich so vieles verwirklichen. In Argentinien ging es nicht mehr voran, ich war dort quasi Zweitliga, obwohl ich auch für die Championleague spielen kann. Hier jamme ich mit Nico Purman, Tolga Fidan, Simon Beeston, Justin Nabbs, Mikael Stavostrand und fühle mich einfach wohl. Beim Feiern habe ich Console von The Notwist, einer meiner Lieblingsbands, kennengelernt, der mir dann einen Remix gemacht hat für meine Band Monotax. Und nun bald erscheint mein neues Solo-Album, auf dem mein absoluter Lieblingsact einen Remix für mich angefertigt hat. Ein Traum geht für mich in Erfüllung. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Muss er auch nicht. Der Fall Dilo ist klar. Seitdem er als Fünfzehnjähriger in einer Band sang und Gitarre spielte – seine Idole sind die Beatles – hatte er stets Europa im Blick. Berlin als Ziel. Dort ist er nun angelangt, und Argentinien hat ein Talent weniger. Musiker-Braindrain. Denn derweil wird die Lücke zwischen dem realen Argentinien und der gegenwärtigen Situation der dortigen Musikszene, und den Künstlern, die dieses Land derzeit hervorbringt, immer größer. Musiker wie Santos Resiak und Dirty Room, die ihre Familie besuchen kommen, spielen in Buenos Aires auf kleinen Labelpartys und mit Freunden.

Maradonagold

„In den Clubs verkennt man die Situation total“, sagt Dilo: Da wird wahres Talent nicht anerkannt, der Künstler nicht gefördert. Eben auf zweite Klasse gesetzt, obwohl man es auch besser machen könnte. Eine Ausnahme machen die Provinz Santa Fe und die Stadt Rosario, wo auch schon Bruno Pronsato Inspiration fand und mit Cassius-Remixer Franco Cinelli kollaborierend Minimalmusikgeschichte schrieb; die Szene blüht, und qualitativ anspruchsvolle Partys werden in tollen Locations direkt am Fluss Parana gefeiert. Es geht also doch; eine Alternative zu überfüllten Mainstreamsponsor-Strandpartys, auf denen Menschen halbtot getrampelt werden, wie neulich bei David Guetta der Fall. Mit dabei neben Franco Cinelli und Jorge Savoretti auch Andres Zacco, dessen Greener-Sound unter anderem von Swayzak geremixt wurden, die ja auch schon „Snowboarding in Argentina“ waren. Hier findet man mehr Freiheit, als den Portenios, den Bewohnern von Buenos Aires, vergönnt ist. Dank einer rigiden Politik gibt es in der Hauptstadt nur sleazige Mainstreamclubs (und illegale Undergroundpartys). Und Cocoliche. Seit sieben Jahren hält der berüchtigte Keller im Zentrum von Buenos Aires die Alternativ-Standarte hoch; zwischen Chaos und Katastrophe feiern und spielen hier die interessantesten Musiker, in diesen Tagen zum Beispiel Marc Houle, Per Grindvik, Pacou und Alex Bau. Und schwärmen von den berüchtigten Exzessen, der blinkenden Decke, den wilden Argentiniern. Manch einer fällt hier in die klassische Falle, genau wie Maradona. Doch die Party geht weiter. Und die anfängliche Euphorie weicht einem bedrängenden Gefühl der Unausweichlichkeit … aber eben immer noch einer Akzeptanz der Dinge, die immer noch unverständlich sind.

 

 Katrin Richter @ Planetkat