Grandbrothers – Die Verlängerung des menschlichen Körpers und seiner Fähigkeiten

Mensch, Maschine, Menschmaschine? Wer spielt eigentlich den Flügel? Eindeutig zu beantworten war und ist das bei Erol Sarp und Lukas Vogel – besser bekannt als Grandbrothers – nicht. Ein Computer sowie eine selbstgebaute, über die Jahre verfeinerte Apparatur wurden ins Spiel gebracht, um das Instrument, um das sich bei den beiden Künstlern alles dreht, zu betätigen. Wodurch der Flügel somit auch schnell zu einer Art Cembalo oder gleich zu einer Drummachine werden konnte. Nach seinem Debüt-Album „Dilation“ im Jahr 2015 sowie dem Follow-up „Open“ in 2017 auf City Slang befreit sich das Duo auf seinem anstehenden dritten Langspieler „All The Unknown“ von den selbstgewählten Beschränkungen seines früheren Set-ups und stürzt sich nun in neue unbekannte Abenteuer. Pianist Sarp und Produzent bzw. Audio-Softwareentwickler Vogel, die sich vor fast zehn Jahren während ihres Studiums in Düsseldorf kennenlernten, führen uns in eine weite und offene Klangwelt ihrer kompositorischen Möglichkeiten. Aufgenommen wurde ein Großteil des Werks – das am 15. Januar via City Slang als CD, Vinyl und digital erscheint – nicht im gemeinsamen Studio in Bochum, sondern in der Fattoria Musica in Osnabrück. Dort standen gleich zwei Flügel und ein Klavier zur Verfügung. Das Resultat? Eine elektronischere Gangart und zugleich die Verlängerung des menschlichen Körpers und seiner Fähigkeiten. Damit richten Grandbrothers ihren Fokus etwas mehr vom Konzert hin zu wahren Dancefloor-Attitüden, ohne jedoch dabei an Komplexität und Tiefe zu verlieren. Wir haben die beiden gesprochen.

 

Erol und Lukas, Glückwunsch zum neuen Album. Wie fühlt ihr euch mit dem Resultat?

Lukas: Danke! Wir sind sehr zufrieden mit dem, was daraus geworden ist. Wir saßen rund zwei Jahre dran und haben viele Ideen gesammelt und zum Teil wieder verworfen. Der 15. Januar kann jetzt gar nicht früh genug kommen.

„All The Unknown“ ist euer dritter Langspieler. Wie unterscheiden sich die drei Werke in euren Augen von einander bzw. wie habt ihr euch selbst entwickelt?

Erol: Dieses Mal haben wir mit dem Konzept gebrochen, dass alles immer im Moment entstehen muss. Unter anderem war das der Tatsache geschuldet, dass wir nicht mehr so nah beieinander wohnen und lernen mussten, mit der Situation umzugehen. Wir haben viel mehr produziert und es uns erlaubt, auch mit von uns bereits aufgenommenen Samples zu arbeiten, sodass es Stellen gibt, an denen beispielsweise vier Klaviere gleichzeitig zu hören sind, die man alleine nicht spielen könnte. Das hat im Produktionsprozess viele Ideen freigesetzt und neue Möglichkeiten für Arrangement und Komposition gegeben.

Würdet ihr sagen, das Album würde ohne die Corona-Pandemie etwas anders klingen?

Erol: Die Tage, bevor der erste Lockdown im März ausgerufen wurde, waren wir noch im Studio, um das Album aufzunehmen. In den Wochen danach ist eine Tour in Frankreich ausgefallen. Dafür hatten wir dann mehr Zeit in der Postproduktion. Das hat dem Album auf jeden Fall gut getan. Wir selber vermissen das Unterwegssein und Konzerte zu spielen schon sehr, konnten die Zeit aber auch sonst für viele Dinge, die mit einem Album einhergehen, nutzen – wie etwa Fotos zu machen, Interviews zu geben und Videos zu drehen bzw. zu erstellen sowie für die Vorbereitung der Liveshow. Wir sind quasi in den Startlöchern und freuen uns, wenn es wieder losgeht.

Auf dem neuen Album befreit ihr euch von euren selbstauferlegten Beschränkungen der beiden Vorgänger-Alben. Wie entstand die Intention dazu?

Lukas: Wir versuchen immer wieder, neue Wege zu ergründen und in der Kreation von Musik mit Dingen zu experimentieren, die wir vorher noch nicht gemacht haben. Der Computer bzw. das Produzieren am Computer hat eine sehr zentrale Rolle gespielt, wodurch wir viel mehr Möglichkeiten hatten, beispielsweise was den Rhythmus und Sound von Beats betrifft. Wir haben wirklich sehr viel im Detail gearbeitet und zum Beispiel stundenlang am Sound einer Bassdrum geschraubt. Das haben wir vorher in dem Ausmaß nicht getan. Auch das gleichzeitige Abspielen von mehreren Klavier-Layern hat geholfen bei dem Wunsch, die Stücke etwas dichter zu gestalten als die alten.

Ihr klingt nun wesentlich elektronischer als zuvor. In einer Presse-Ankündigung sagt ihr: „Wir wollten die schöne und romantische Klaviermusik hinter uns lassen.“ Erzählt uns mehr dazu.

Lukas: Wir haben über die Jahre immer mehr gemerkt, wie sehr uns Konzerte in Clubs mit tanzendem und energetischem Publikum befeuern. Dieses Gefühl und die Tanzbarkeit von Stücken wollten wir noch weiter ausreizen. Das heißt nicht, dass es keine ruhigen und schönen Stellen auf dem Album gibt, aber es überwiegt ganz klar die Tendenz Richtung Club, ja.

Wie fühlte sich diese vermeintlich kreativere Freiheit für euch an?

Erol: Ob das auch wirklich alles klappt, was wir uns vorgenommen haben, sehen wir erst, wenn wir wieder vor Leuten spielen. Das war immer so ein Wunsch, der, manchmal vielleicht im Verborgenen, in uns drin steckte und dem wir jetzt mit diesem Album nachgehen konnten. Das hat vor allem viel Energie beim Komponieren und Proben freigesetzt, weil man sich im Kopf schon ein bisschen ausmalt, wie sich das live dann anfühlen kann.

Es gab bei den Aufnahmen auch recht unkonventionelle Methoden – ein Buch lag auf einer Saite oder ihr seid mit einer Kette an der Stege entlang gelaufen.

Lukas: Wir suchen immer wieder Ausdrucksmöglichkeiten und Wege, dem Flügel Klänge zu entlocken, die wir bisher nicht benutzt haben. Im Gegensatz zu der von uns für das erste Album gebauten Apparatur sind wir, was direkte Klangverfremdung – sogenanntes „Prepared Piano“ – im Instrument angeht, keine Pioniere. Das haben Leute wie John Cage und Hauschka schon lange vor uns gemacht. Wir wollten das einfach einmal für uns ein wenig ergründen und am Ende, vor allem mit der Hinzunahme von Effekten am Computer, schauen, was wir da erreichen und wie wir unseren Klangkosmos erweitern können. Gerade auf der perkussiven Ebene ist da viel mehr möglich gewesen. Bisher war es so, dass nur die Hämmerchen den Beat machten, jetzt haben wir aber beispielsweise, wie du schon erwähnst, ein Buch auf die Saite gelegt, diesen Krach als Basis für eine Snare genommen oder sind mit einer Kette die Stege entlang geratscht und haben daraus einen Shaker- oder Hi-Hat-Sound kreiert. Das war dann unser Sound-Baukasten.

Ihr wohnt in Berlin, respektive Bochum, aufgenommen wurde das Album in Osnabrück. Erzählt uns von dem Prozess mit all seinen Hürden und besonderen Momenten in der Fattoria Musica.

Erol: Die Aufnahmen zu den Alben fühlten sich bisher immer ein bisschen an wie Urlaub. In dem man aber knallhart arbeitet. Wir haben es immer so gemacht, dass wir uns für ein paar Tage – in diesem Fall zehn – weggesperrt und im Studio dann rund um die Uhr aufgenommen haben. Das schlaucht an manchen Tagen natürlich ganz schön und kann teilweise auch zu kleineren Spannungen führen. Besondere Momente entstehen meistens immer dann, wenn wirklich alles zusammenkommt. Wenn man zum Beispiel die Klavier-Parts an einem schön klingenden Flügel einspielt und man das Instrument dann so richtig an seine Grenzen treibt und plötzlich eine Energie und ein Volumen ausgelöst werden, die wir bei uns im Proberaum am kleineren Flügel in der Form so nicht haben. Ganz besondere Momente sind natürlich auch immer, wenn ein Stück abgehakt werden kann.

„Goat Paradox“ klingt nach einem „kleinen musikalischen Gag“, wie ihr es nennt. Wie entstand das Stück?

Erol: Der ist aus der Situation im Studio mit den beiden Flügeln und dem Klavier entstanden. Die Instrumente standen dort so nah beieinander, dass ich Flügel und Klavier gleichzeitig spielen konnte. Die Methode nennt sich quasi „Phasing“, wenn auf zwei Instrumenten dieselbe repetitive Melodie gespielt wird, ein Instrument sich dabei aber in zunehmendem zeitlichem Abstand von dem anderen fortbewegt. Ich habe dann also begonnen, die linke Hand um eine Sechzehntel zu verschieben, während ich das gleichzeitig spielte, dadurch entstand dieser Echo-Effekt.

Einem Album folgt in der Regel eine Tour. Aktuell nicht vorstellbar. Wie sehen die kommenden Wochen und Monate für euch aus bzw. was steht auf der Agenda?

Lukas: Momentan sehnen wir uns dem 15. Januar entgegen. Dann und wirklich dann ist das Album draußen und man kann nichts mehr verändern. Parallel wird gerade an einer Tour für den Herbst/Winter 2021 gearbeitet und auch sogar schon für das Jahr danach. Im März stehen noch vier Konzerte auf der Agenda, bei denen man aber schauen muss, wie sich die Dinge entwickeln, ja. Und damit wir dann, spätestens aber im November, startklar sind, bereiten wir gerade alles für die Liveshows vor und proben. Ein paar Remixe stehen in den Startlöchern und jeden Tag telefonieren bzw. zoomen wir mit diversen Leuten, weil um das Album herum noch viele Dinge entschieden werden müssen. Ist also viel los gerade!

 

 

 

Aus dem FAZEmag 107
Text: Triple P
www.facebook.com/grandbrothers
Foto: Toby Coulson