Hatis Noit – Die Zauberkraft der menschlichen Stimme

Foto: Özge Cöne

Mit großer Vorfreude blicken wir dem Debütalbum der japanischen Gesangskünstlerin Hatis Noit entgegen, das uns die unvergleichbare Kraft der menschlichen Stimme aufzeigt. „Aura“, das fast ausschließlich aus Gesangsaufnahmen besteht, markiert zwar einerseits den Karrierestartschuss dieses fernöstlichen Stimmwunders, kann in gewisser Hinsicht aber auch als End-Destination einer Reise betrachtet werden, die einst mit einem musikalischen Moment des Erwachens während einer Pilgerreise begann …

Im zarten Alter von 16 Jahren fand sich Hatis Noit – ein Kunstbegriff, der der japanischen Folklore entliehen ist und den „Stiel einer Lotusblüte“ bezeichnet – pilgernd zu Buddhas Geburtsstätte in Neapel wieder und verbrachte die anschließende Nacht in einem Frauentempel. Der sanfte Gesang einer buddhistischen Nonne, der am Folgemorgen ertönte, berührte die Japanerin derart, dass sie nach diesem Erlebnis entschied, selbst Sängerin zu werden: „Obwohl sie allein im Raum sang, ohne Instrumente oder Chor, war ihre Stimme so beeindruckend, dass ich sie bis heute nicht vergessen habe. […] Mir wurde klar, wie schön es ist, dass wir so ein großartiges Instrument in unserem Körper besitzen“, erklärt Hatis Noit, für die Glaube schon immer ein bedeutsamer Aspekt war, auch wenn sie sich selbst keiner Religion zugehörig fühlt: „Ich glaube nicht an eine bestimmte Religion, obwohl ich dank meines Heimatlandes Japan generell stark vom Buddhismus und Shintoismus beeinflusst und inspiriert bin. Ich glaube daran, dass wir in allem das Wirken von Geistern und etwas Großartiges finden können – vor allem in der Natur, einschließlich der Menschheit.“

Vom Spirituellen inspiriert ist daher auch „Aura“, das auf ihre 2018er-Debüt-EP „Illogical Dance“ folgt und von verschiedensten Einflüssen geprägt ist: von Gagaku – der höfisch-klassischen Musiktradition Japans – von Folk und verschiedenen Operntraditionen, über bulgarische und gregorianische Gesänge bis hin zu Pop- und Avantgarde-Sänger*innen. All diese Inputs komprimiert Hatis Noit zu transzendental angehauchten Klang- und Gesangskompositionen, die faszinierenderweise einzig und allein auf ihrer wundersamen Stimme basieren. Bezüglich der Nachbearbeitung der Stücke erklärt sie uns: „In der frühen Phase des Mischens klangen alle Gesangselemente, die im Studio aufgenommen wurden, ziemlich tot oder künstlich, wenn man digitale oder sogar analoge Halleffekte verwendete. Als Sängerin, die gerne live auftritt, suchte ich nach einem Sound, der uns näher an einen Veranstaltungsort, einen physischen Raum bringt. Auf Anregung des Erased-Tapes-Produzenten Robert Raths beschlossen wir also, alle Gesangsdateien in eine wunderschöne Kirche im Osten Londons zu bringen. Als wir das Material in diesem physischen Raum mit seiner natürlichen, organischen Atmosphäre erneut abspielten, war das der Moment, der alles zum Leben erweckte.“

Zum Leben erweckt die Japanerin aktuell auch endlich wieder die vielen Bühnen dieser Welt, die sie während der Corona-Pandemie so schmerzlich vermisst hat. Neben etlichen geplanten Festival-Shows rund um den Globus durfte Hatis Noit am 18. Juni bereits in den Gärten der Welt im Rahmen der Berliner Kiezsalon-Reihe auftreten.

„Worte können niemals all das beschreiben, was wir fühlen. Wie soll man das Gefühl in Worte fassen, das wir haben, wenn wir als Neugeborene in den Armen der Mutter liegen – und ihre Haut an unserer Wange spüren? Gewiss spüren wir ihre Wärme und Feuchtigkeit, ein Gefühl der Liebe, das von ihr ausgeht, aber es ist extrem schwer, dies wirklich in Worte zu fassen. Musik ist eine Sprache, die diese Empfindung, dieses Gefühl, diese Erinnerung an Liebe übersetzen kann.“ — Hatis Noit

„Aura“ ist am 24. Juni via Erased Tapes erschienen.

Aus dem FAZEmag 125/07.2022
Text: Hugo Slawien
Foto: Özge Cöne
www.hatisnoit.com