HVOB – Ein Dokument einer anderen Zeit

77 ausverkaufte Konzerte, unter anderem in Buenos Aires, New York, Mexico City und im Funkhaus Berlin, Stopps in 34 Ländern und auf vier Kontinenten: Die „Rocco“-Welttournee 2019 unterstrich einmal mehr die Rolle des Wiener Duos HVOB in der Welt der elektronischen Musik. Einer der Höhepunkte der Tournee war dabei der 13. April 2019 in London, im bis auf den letzten Platz gefüllten Electric Brixton. Der Abend war bereits im Vorfeld als Album geplant worden, mit viel Aufwand wurde er in seiner Gesamtheit aufgezeichnet. „Live in London“ ist das erste Livealbum der Band und wurde bereits am 11. März veröffentlicht. Zeitgleich mit dem Album ist eine Kurzdokumentation von Nicola von Leffern erschienen. Die Hamburger Regisseurin begleitete HVOB auf Tournee und liefert einen sehr intimen, ungefilterten Einblick in das musikalische Leben und den Tournee-Alltag des sonst öffentlichkeitsscheuen HVOB-Duos Anna Müller und Paul Wallner. Beide Werke erblickten auf dem eigenen Label Tragen das Licht der Welt.

 

Eins der wohl charakteristischsten Merkmale eines Livealbums ist selbstredend das darauf zu hörende Publikum. Ein Umstand, den man aktuell mit einer gehörigen Portion Wehmut wahrnimmt: „Es ist schon sehr emotional. Wir hatten das Album ja schon lange vor Corona geplant. Dass es gerade jetzt rauskommt, in dieser Zeit, ist also reiner Zufall. Umso mehr ist es jetzt etwas Besonderes für uns. Eine Art Dokument einer anderen Zeit, und es steckt deswegen auch voller Freude, Wehmut, aber auch Vorfreude darauf, dass wir alles das, wofür dieses Album steht, hoffentlich wieder erleben werden“, erzählt Anna Müller im Gespräch. Generell gleicht das letzte Jahr einer Art Vollbremsung für das Duo, waren die letzten Jahre doch enorm hochgetaktet: „Auf der einen Seite unglaublich intensiv, ein Abenteuer. Aber auf der anderen Seite natürlich auch permanent überm Limit, was die physische und psychische Belastung angeht. Mein Körper hat mir schon sehr deutlich gezeigt, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Er hat mich in eine Pause gezwungen, die ich sonst wahrscheinlich nicht gemacht hätte. Weil man sich einfach dieser magischen Energie, die man ja auch auf dem Album spürt, nicht entziehen will – oder nicht entziehen kann, vielleicht sogar – da quetscht man dann eben noch diese Tournee rein, diesen Auftritt, diese Reise. Auch wenn man weiß, dass es eigentlich schon nicht mehr geht. Ich persönlich habe im letzten Jahr Pause machen gelernt. Und zu akzeptieren, Kontrolle abzugeben, auf mich Rücksicht zu nehmen. Das sind alles Dinge, in denen ich eigentlich nicht besonders talentiert bin.“

Und so kann man die sage und schreibe 77 ausverkauften Shows in einem Jahr in 34 Ländern nicht anders als ein großes Abenteuer nennen. Dabei war die Band acht Jahre so gut wie permanent unterwegs: „Drei Welttourneen, dazu unser eigenes Festival ,Checkfest‘, das wir bereits in Wien, Johannesburg und dann im Rahmen der ,Rocco‘-Tournee auch in Mumbai veranstaltet haben. Ich glaube ja, im Leben geht es darum, Erlebnisse zu sammeln. Klingt banal und pathetisch zugleich, aber ich sehe das wirklich so. Die indischen Hotelpartys, die Tour in China, wo die Menschen unsere Texte auswendig konnten und jedes Lied mitgesungen haben. Oder Berlin, wo wir das Funkhaus zweimal hintereinander ausverkauft haben. Es sind tausende Momente, die sich über diese acht Jahre angesammelt haben.“ Aufgenommen wurde dabei die gesamte Tournee, es hätten also durchaus auch die Stationen in Mexico City, Kiew oder New York als Livealbum veröffentlicht werden können. Dass es London wurde, war eher eine Bauchentscheidung, erzählt Anna Müller. Generell gelten bei einem Livealbum ganz andere Kriterien: „Es geht um Gefühl, nicht um Perfektion. Eine gute Liveplatte vermittelt das Gefühl, dabei zu sein, egal, ob man es wirklich war oder nicht. Ein gutes Livealbum ist ein gemeinsames Produkt von Band und Publikum, nur dann kann diese Magie entstehen, die ein Studioalbum bei aller Perfektion eben niemals bieten kann.“

Zeitgleich mit dem Release erschien die Dokumentation von Nicola von Leffern, die dabei intime Momente sowie einen Blick in die Welt der Band präsentiert, ohne dabei allerdings den Fokus zu sehr auf die Protagonisten selbst zu legen: „Nicola ist eine fantastisch gute Regisseurin, sie begleitet uns schon viele Jahre mit der Kamera und wurde eine enge Freundin. Dann entstand der Wunsch, dass sie eine Doku über HVOB macht. Ungefiltert, ehrlich, ein künstlerischer Versuch, den Menschen, die es interessiert, einen Blick in unsere Welt zu geben und damit einen neuen Zugang zu unserer Musik zu öffnen, eine neue Perspektive. Aber, ganz wichtig, fernab von diesem Personenkult, der immer mehr um sich greift, der immer verrückter wird, der mich unglaublich nervt, weil er die Musik, das, worum es geht, in den Hintergrund drängt. Nicolas Doku entsteht mit einem ziemlich hohen Anspruch: die Musik durch die Menschen, die sie machen, auf einer neuen Ebene und mit filmischen Mitteln zu erzählen. So könnte man das sagen.“

Aktuell arbeitet HVOB bereits intensiv an einem neuen Studioalbum für 2022, bis dahin gelte es, die Zeit mit all ihren Herausforderungen sinnvoll zu nutzen, was nicht immer mit Handlungen oder Aktivitäten verbunden werden muss: „Diese Auszeit ist unfreiwillig, und gerade uns Musikern hat sie in eine existenzielle Ungewissheit aufgezwungen. Niemand von uns hat eine Ahnung, wann wir wieder unserem Beruf nachgehen dürfen. Aber darüber zu verzweifeln, bringt niemandem etwas. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Wir haben jetzt das, was wir die vergangenen acht Jahre nicht hatten: Zeit. Und wir haben die Freiheit zu entscheiden, wie wir damit umgehen. Ich habe da für mich einen recht guten Weg gefunden. Ich verbringe, soweit es möglich ist, Zeit mit Familie und Freunden, mache viel Musik, lasse viel von dieser Zeit auch in aller Ruhe einfach vergehen. Tempo rausnehmen ist ohnehin etwas, was ich über die letzten Jahre ein bisschen verlernt hatte. Unser altes Leben wird ja wiederkommen. Und ein bisschen ist unser Livealbum schon auch ein Statement in diese Richtung. Es jammert nicht über das, was einmal war, sondern es soll Vorfreude machen auf das, was wiederkommen wird.“

 

Aus dem FAZEmag 110/03.2021
Text: Triple P
Foto: Nicola von Leffern
www.instagram.com/hvob_official