John Digweed – Vier

Vor allem in Zeiten elektronischer Medien und sozialer Netzwerke gründen sich nicht wenige DJ-Karrieren auf einen Hype. Die Laufbahn von John Digweed hingegen basiert schlichtweg auf Substanz. Mit 15 in seiner Heimatstadt Hastings – einer kleinen Stadt an der südlichen Küste Englands – mit Musik angefangen, blickt der heute 53-jährige Brite auf eine glorreiche Karriere, die im Vergleich zu der vieler Kollegen weit davon entfernt ist, vom Zahn der Zeit zernagt zu werden. Vor allem im Genre des Progressive House gilt Digweed als einer der erfolgreichsten Akteure. Diesen Ruf erlangte er unter anderem durch Veröffentlichungen wie die legendären Mix-Compilations „Northern Exposure“, die zusammen mit Alexander Paul Coe – besser bekannt als Sasha – entstanden sind, einen Track auf dem Soundtrack für „Trainspotting“ oder Hits wie „Heaven Scent“. Aber auch als Schauspieler und Radiomoderator der eigenen Sendung „Transitions“, die sich schnell zur Speerspitze der Dance-Sendungen Englands erhob, konnte Digweed Erfolge feiern. Sein Label Bedrock, bereits 1998 mit Nick Muir gegründet, ist seit Jahren einer der schillerndsten Sterne am Label-Äther. Nun hat der Brite in neunmonatiger Arbeit das 45 Tracks umfassende Compilation-Projekt „Quattro“ fertiggestellt, eine Werkschau des Labels mit Tracks von Newcomern und altgedienten Label-Akteuren. Veröffentlicht wird das Werk am 1. Mai als 4-fach-CD und 5-fach-12Inch-Vinyl und selbstredend auch als Download. Dabei spielt der Name des Projektes keine außer Acht zu lassende Rolle. Die Compilation splittet sich klanglich in vier Teile, die jedoch eins gemein haben: Sie vereinen beachtenswerte Vertreter der elektronischen Klangwelt auf einem Album. Ein Interview.

John, schwierige Zeiten im Moment. Wie geht es dir?

Mir geht es gut, danke. Ich hoffe, alle, die das hier lesen, sind auch wohlauf, sind vernünftig und zeigen Mitgefühl für ihr Umfeld. Dies ist bei Weitem der seltsamste Moment in meinem Leben und die Handlungen der Menschen in dieser Zeit werden sich darauf auswirken, wie lange dieses Virus unser aller Leben noch beeinflussen wird. Das relativiert plötzlich viele Dinge.

In der Tat. Lass uns über Positives sprechen. Herzlichen Glückwunsch zu deiner neuen Veröffentlichung, einem atemberaubenden 4-CD-Projekt mit 45 exklusiven Tracks. Wie ist diese Idee entstanden?

Es gab eigentlich keinen Masterplan, um ehrlich zu sein. Es sollte ursprünglich „Bedrock 21“ heißen und im letzten Jahr als Doppel-CD veröffentlicht werden, wobei die Remixe und Originaltracks die Grundlage des Albums bilden sollten. Mein Partner Nick Muir und ich hatten bereits an einem Projekt gearbeitet und ich überlegte, wo es am besten veröffentlicht werden sollte.

Neun Monate hast du daran gearbeitet. Erzähl uns vom Prozess sowie den Höhen und Tiefen während dieser Zeit.

Nun, die Zeit schritt recht schnell voran und plötzlich merkten wir, dass es zu spät werden würde, das ursprünglich geplante Projekt 21 zu veröffentlichen. Wir wollten nichts überstürzen, nur um irgendetwas vor Weihnachten herauszubringen. Also fing ich an, mehr Ambient-Versionen einiger Titel zu organisieren, und ehe ich mich versah, hatte ich Musik für ganze drei Alben. Das Projekt von Nick und mir als vierten und letzten Teil hinzuzufügen, erschien uns logisch, da es die bereits vorhandene Musikatmosphäre wirklich sehr gut ergänzte. Ich hatte während der gesamten Zeit nicht viele Tiefpunkte, da diese ja meist nur durch Zeitdruck entstehen. Von dem hatte ich mich ja glücklicherweise zuvor gelöst. Die Philosophie lautete also ungefähr: Es wird fertig sein, wenn es fertig ist. Ursprünglich sollte alles ungemischt herauskommen, aber auf einem langen Flug dachte ich: „Mal sehen, ob ich einige dieser Tracks zusammenbringen kann.“ Es war erstaunlich, wie sich z. B. „Tempo“ und „Redux“ zusammenfügen ließen. So, als wären die Tracks prädestiniert dafür.

„Quattro“ erscheint auf deinem Label Bedrock, seit vielen Jahrzehnten ein ikonisches Label in der Szene. Würdest du sagen, dass dieses stilistisch vielfältige Album die Label-Philosophie seit dem Start 1998 widerspiegelt?

Ja. Denn ich wollte schon immer ein Label haben, das großartige Platten aus jedem Genre herausbringt und sich stilistisch nicht in nur eine Schublade stecken lässt. Und ich denke, dieses Album fasst diese Intention mit der großen stilistischen Vielfalt sehr gut zusammen. Und auch wenn wir, was den Sound angeht, so breit aufgestellt sind, gibt es dennoch einen für das Label typischen Sound, wie ich finde. Und dort fügen sich die 45 neuen Titel wunderbar ein. Es war uns schon immer wichtig, tiefer zu graben und uns leidenschaftlich für das zu engagieren, was wir tun, ohne dabei Chartpositionen oder Verkaufszahlen im Kopf zu haben.

Welche Weichen stellt dieses Release in deinen Augen für die Zukunft von Bedrock?

Jedes Release ist anders und gerade in der jetzigen Zeit ist Spontaneität ein wichtiger Faktor. Es ist also meine Aufgabe, neue Titel zu finden, die mir gefallen, und sie der Welt zugänglich zu machen.

Der vierte und letzte Teil des aktuellen Release trägt den Titel „Juxtaposition“ und ist äußerst experimentell. Erzähl uns mehr dazu aus der Sicht des Master-Produzenten!

John und ich haben neben unseren tanzbaren Sachen immer auch Material geschrieben, das nicht unbedingt für die Tanzfläche gedacht ist. Auch das Label hat bekanntermaßen eine lange Geschichte mit Ambient-Projekten. Es ist etwas, was wir gerne machen und was die Leute, die das Label kennen, zu schätzen wissen. Vor einigen Jahren haben wir zum Beispiel das Album „The Traveler“ veröffentlicht, das Kultstatus erlangte. Dann gab es die „Electronica“-Scheibe vom „Versus“-Album und wir erstellen oft Reprise-Mischungen der Originaltracks, die wir gemacht haben. Daher war es für uns ganz natürlich, eine Reihe von Ambient- und Downtempo-Songs zu schreiben und sie auf „Quattro“ einzubauen. Ursprünglich wollten wir eine Reihe von Melodien mit sommerlicher Stimmung, die man wunderbar hätte am Tag hören können. Aber wir stellten schnell fest, dass das Material für unseren Geschmack etwas zu fröhlich klang, also fingen wir wieder von vorne an und machten die Stimmung dunkler. Plötzlich begannen die Stücke besser zu fließen und die Ideen sprudelten nur so aus uns heraus – am Ende hatten wir mehr Material, als auf eine Scheibe passt, also wählten wir ein Set aus, das scheinbar glücklich beieinander lag. Das heißt nun „Juxtaposition“. Wir sind wirklich glücklich damit und es scheint ganz zufällig die seltsamen und schwierigen Zeiten, in denen wir uns im Moment befinden, perfekt widerzuspiegeln.

Das Werk erscheint in einem speziell gestanzten Slipcase inklusive besonderer Box mit CDs sowie Vinyls mit 20 der insgesamt 45 Titel. Erzähl uns mehr zum Paket.

Diese Art von Box wurde ursprünglich für das Album „Live in Tokyo“ eingeführt und hat eine erstaunliche Reaktion hervorgerufen. Wir arbeiten eng mit Malone Design zusammen, der seit Beginn des Labels die gesamte künstlerische Gestaltung für uns übernommen hat – wir beide haben eine Vorliebe für Peter Savilles Designarbeit. Die insgesamt fünf Vinyls erscheinen in limitierter und signierter Auflage mit ebenfalls eigens designtem Case. Alle Details sowie Bilder gibt es unter www.bedrockshop.com.

Bedrock ist dafür bekannt, immer wieder unbekannte, aufstrebende und talentierte Künstler zu featuren. Wem wird diese Ehre auf „Quattro“ zuteil?

Es gibt einige wirklich großartige Künstler, die exklusive Titel für die Compilation beigesteuert haben. Künstler wie Lopezhouse, Miles Atmospheric, Mordisco, London Acid und DJ Sadie haben neben den etablierten Künstlern und Produzenten herausragende Produktionen geliefert, die alle in einem umfangreichen und kohärenten Format zusammenkommen, das einzigartig ist und hoffentlich genauso aufregend für die Leute wie für uns.

Hand aufs Herz: Was ist dein Geheimnis, dass du nach so langer Zeit noch immer mit der gleichen Leidenschaft ans Werk gehst?

Ich liebe neue Musik und neue Künstler – das ist es, was mich Tag für Tag antreibt. Zum einen wollte ich als DJ schon immer neue Musik in meinen Sets spielen. Zum anderen kann man als Label-Betreiber versuchen, Hits zu veröffentlichen oder einfach nur Musik, die man liebt und die einen berührt – und dabei hofft man, dass die eigene Intuition mit der Reaktion der Tanzfläche übereinstimmt.

Viele Menschen sind verständlicherweise mit dem sich derzeit entwickelnden globalen Pandemie-Szenario beschäftigt. Wie passt du dich an die Situation an, sowohl als Mensch als auch als Künstler?

Ich denke, in der jetzigen Situation geht es vor allem darum, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt, und zu versuchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Um die Menschen um mich herum sicher zu halten und gleichzeitig möglichst anderen auf sichere Art und Weise zu helfen. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Szene wieder auf die Beine kommt, und wir alle sollten uns zunächst darum bemühen, den Planeten richtig zu gestalten. Ich habe mit einigen wöchentlichen Live-Streams von DJ-Sets über meine Facebook-Seite begonnen, um mich fit zu halten und meinen Fans ein wöchentliches Update meiner Lieblingstitel zu geben. Was das Label und all die anderen dort draußen betrifft, so können die Fans die Künstler unterstützen, indem sie Musik kaufen oder streamen und Merchandise-Artikel erwerben, da die Leute ihre Jobs innerhalb der Branche verlieren werden, wenn diese Einnahmen wegbrechen. Botschaften sind gut, aber das Verhalten der Menschen ist jetzt das, worauf es ankommt. Wenn sich alle weltweit zusammenschließen und an einem Strang ziehen, werden die Dinge für uns alle besser werden. Davon bin ich überzeugt.

 

Aus dem FAZEmag 098/04.2020
Foto: Dan Reid
Web: www.facebook.com/djjohndigweed
Text: Triple P

Hier könnt ihr „Quattro“ kaufen: www.johndigweed.com/quattro