Kerala Dust – Verbundenheitsgefühle

Foto: Andrin Fretz

2016 in London gegründet, haben Edmund Kenny, Harvey Grant und Lawrence Howarth als Kerala Dust im Laufe der Jahre ihre soundtechnische Emulsion aus Psychedelic Rock, Blues und Techno zu Hochglanz geschliffen. Dazu verholfen hat vor allem ihr Debütalbum „Light, West“ Ende 2020 auf Denature Records. Heute lebt die Band zwischen Berlin und Zürich. Im Februar 2023 erscheint mit „Violet Drive“ das Nachfolgewerk. Ein zutiefst europäisches Album, das zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt ist. Die drei Briten – Edmund Kenny für Gesang und Elektronik verantwortlich, Harvey Grant  an den Keyboards und Lawrence Howarth an der Gitarre – stecken ebenfalls in den letzten Vorbereitungen für eine ausgedehnte Tour, die sie im März und April durch fünf deutsche Metropolen führt. FAZEmag präsentiert die Tour und hat das Trio zum Interview gebeten.

Männer, herzlichen Glückwunsch zu eurem zweiten Album. Wie fühlt ihr euch mit dem fertigen Werk?

Edmund: Wir fühlen uns im Moment richtig gut. Wir haben unser ganzes Herzblut in diese Platte gesteckt, es hat insgesamt zwei Jahre gedauert, von Anfang bis Ende. Dabei haben wir uns vorgenommen, unseren eigenen Musikproduktionsprozess zu hinterfragen, bestimmte Dinge auseinanderzunehmen und die Songs auf eine andere Weise zu betrachten. Wenn du ein neues Album veröffentlichst, passiert etwas Seltsames: Es ist nicht mehr dein kleines Geheimnis, sondern das des Publikums, und deine eigene Wahrnehmung der Musik ändert sich dadurch komplett. Wir können es kaum erwarten, den Leuten im Frühjahr die Platte vorzuspielen, wenn sie das ganze Album gehört haben!

Für „Violet Dive“ seid ihr buchstäblich in die Geschichte eurer neuen Heimat Berlin eingetaucht.

Edmund: Harvey und ich sind 2017 nach Berlin gegangen. Ich wohne eigentlich in Zürich, aber ich habe viel Zeit in Berlin verbracht. Wir sind direkt nach unserer ersten Tour durch Mexiko in 2017 mit einem Koffer hierhergezogen. Wir kamen am 21. Dezember an, genau dann, als die Stadt am dunkelsten war. Wir hatten einen schlimmen Jetlag und wachten gegen 17 Uhr auf, als es schon dunkel war. Wir verloren uns für ein paar Monate in diesen Berliner Nächten, es wurde wild. Es war eine ganz besondere Zeit für uns, unglaublich frei von jeglichen Zwängen, einfach auf der Suche nach neuen Dingen, für die wir uns begeistern und inspirieren lassen konnten. Berlin ist vielleicht die beste Stadt der Welt, um sich in der Nacht zu verirren, mit all den verlorenen Seelen und Großstadtdichtern, die hier herumlaufen.

Was waren sowohl eure größten Freuden, aber auch Herausforderungen in Berlin?

Harvey: Die größte Freude ist sicherlich die große Anzahl an kreativen Menschen, die in Berlin ihren Lebensunterhalt verdient, oft mit ziemlich nischenhaften oder seltsamen Dingen, aber trotzdem überlebt. Es wird heutzutage unglaublich unterschätzt, dass es Menschen gibt, die von der Kunst leben können, und es ist lebenswichtig für die Menschheit, dass sie das weiterhin tun können. In den meisten europäischen Städten ist es heutzutage unmöglich, als Künstler*in zu überleben, ohne einen Vollzeitjob zu haben oder Kompromisse bei der Kunst für kommerzielle Zwecke einzugehen. Berlin als westeuropäische Stadt ist in dieser Hinsicht fast einzigartig – in Paris, London oder Barcelona ist das komplett anders, vor allem, wenn du jung bist und gerade erst anfängst. Allerdings werden auch in Berlin Künstlerinnen und Künstler aus den Vierteln verdrängt. Wenn man sich die Entwicklung in Neukölln in den letzten fünf Jahren ansieht, haben sich die Mieten fast verdoppelt und viele Künstlerinnen und Künstler sind nach Wedding oder Marzahn gezogen. Die künstlerische und kulturelle Landschaft ist das, was Berlin so einzigartig macht, und das sollte für immer erhalten werden.

So richtig kennengelernt hast du die Stadt mit dem Filmregisseur Greg Blakey während des Lockdowns, als ihr durch verlassene Straßen entlang alter verlassener Gebäude flaniert seid.

Edmund: Die Geschichte Berlins ist so reichhaltig und seltsam und es ist erstaunlich, wie viele Menschen in den letzten 80 Jahren hier gelebt haben. Ich bin mit der britischen Geschichte aufgewachsen, aber hier gibt es eine ganz andere Sensibilität. In Großbritannien wird uns erzählt, dass die Schlachten und Siege des Kaiserreichs eine siegreiche Sache sind, auch wenn es zerfallen ist und vieles davon eine ziemlich beschämende Geschichte ist. Es gibt ein tiefes Gefühl des Stolzes auf diese Dinge, während den Deutschen in der Schule eine tiefe, tiefe Scham für sie eingeimpft wird. Diese Überreste stehen einfach da, Mauerreste mitten in der Stadt, alte Autobahnen, die von den Nazis gebaut wurden, all diese Dinge, die man verrotten lässt, weil sie ziemlich beschämend sind. Sie alle tragen ein Stück Geschichte in sich, die noch gar nicht so lange zurückliegt, und die Besichtigung dieser Dinge hat den Sound der Platte wirklich beeinflusst.

Auch die Musikvideos zum Album sind z.B. an verlassenen Autobahnbrücken in Berlin gedreht worden, die während des Kalten Krieges Teil der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin war, korrekt?

Edmund: Genau, wir haben uns von der reichen europäischen Geschichte und der Trennung zwischen Ost und West inspirieren lassen. Weitere Videos wurden auch auf einem verlassenen Flugplatz gedreht, der früher eine sowjetische Kaserne war bzw. in einer alten Transformatorenfabrik in Ost-Berlin. Für die Europäerinnen und Europäer ist London ein bisschen aus dem Blickfeld geraten. Ich habe den Eindruck, dass das größere Gefühl der Verbundenheit auf dem Kontinent in der Zeit nach dem Brexit immer deutlicher wird, besonders für die im Ausland lebenden Brit*innen. Letztes Jahr waren wir auf einer Europa-Tournee in Prag, Budapest und Warschau. Wir hatten das Gefühl, dass diese Städte tatsächlich miteinander verbunden sind, dass es eine übergreifende europäische Identität gibt und dass sie eine gemeinsame Kultur haben. 

Gegründet hast du Kerala Dust allerdings noch in London, wo du deine Liebe zur elektronischen Musik entdeckt und diese mit deinen Indie-Einflüssen fusioniert hast.

Edmund: In der Tat. Ich stand total auf Clubmusik und ging oft in die Fabric und Corsica Studios. Ich mochte die endlosen Wiederholungen dieser Musik und die Art und Weise, wie sich die Dinge in ihr entfalten, während sie sich unaufhörlich wiederholen, sodass sie fast zu einer Art Mantra werden, das dich quasi hypnotisiert.

Auf dem Album habt ihr eure Arbeitsweise geändert. Wie verlief der Prozess in diesem Fall und wie hat sich euer Sound im Vergleich zu „Light, West“ entwickelt?

Lawrence: Bei dieser Platte haben wir mit den Schlagzeug-Recordings begonnen, was eine völlig neue Herangehensweise war. Wir waren in den Schweizer Alpen in einer kleinen Hütte und haben Tag und Nacht experimentiert, um zu sehen, wohin uns die Aufnahmen führen. Wir hatten vorher noch nie Schlagzeug für unsere Musik aufgenommen, also war es im Grunde die Einführung einer ganz neuen organischen instrumentalen Klangwelt für uns. Das Schlagzeug kann tatsächlich bestimmte Melodien oder Stimmungen vorgeben, wenn es zuerst aufgenommen wird. Der Schlagzeuger Tillmann Ostendarp ist ein sehr melodiöser, nuancierter Schlagzeuger, der zu einem Song spielt, anstatt ihn zu zerschmettern, und der die Musik wirklich verstanden hat. Auf halber Strecke der Aufnahmen nahmen wir oft ein Instrument in die Hand und begannen, eine Art Riff zu spielen, um die Session in eine bestimmte Richtung zu lenken, und Tillmann reagierte darauf, und plötzlich hatten wir einen halb fertigen Song. Es war ein sehr natürlicher musikalischer Prozess.

Von Ende Februar bis Anfang April geht ihr auf große Tournee, darunter in fünf deutschen Städten.

Edmund: Wir können es kaum erwarten. Unser Plan für diese Tour ist es, eine allumfassende Show für das Publikum zu kreieren, etwas, das die Zuhörer*innen an einen ganz anderen Ort bringt. Wir wollen den Geist der „Violet Drive“-Aufnahmen zum Publikum bringen – diesen völlig freien, transzendentalen Moment in der Zeit. Das wird unsere größte Produktion und unsere bisher größte Tournee, wir nehmen zum ersten Mal einen  Schlagzeuger und einen Licht- und Bühnendesigner mit auf Europa-Tournee.

 

Kerala Dust – „Violet Drive“-Tour 2023
14.03.23, Täubchenthal, Leipzig
15.03.23, Uebel & Gefährlich, Hamburg
16.03.23, Die Kantine, Köln
05.04.23, Technikum, München
06.04.23, Huxley’s Neue Welt, Berlin

 

Aus dem FAZEmag 130/12.2022
Text: Triple P
Foto: Andrin Fretz
www.instagram.com/keraladust