Marco Bailey – Ergebnisse eines surrealen Zeitalters

Credit: Joe Meijer

Es war vor ziemlich genau 26 Jahren, als der damals 25-jährige Marco Bailey seinen ersten Langspieler mit dem Titel „Planet Goa“ auf dem belgischen Label Dance Opera veröffentlichte. In diesen rund zweieinhalb Jahrzehnten avancierte Bailey zu einem der gefragtesten Akteure der elektronischen Szene, durchlief dabei verschiedenste Stile, ehe er seine Heimat im Techno fand. Nun kündigte der Belgier mit „Surreal Stage“ sein sechstes Studio-Album an, und damit den Nachfolger zu „Temper“ aus dem Jahr 2017. Das 15 Titel umfassende Werk beinhaltet dabei auch Einflüsse aus seinen persönlichen Anfängen und liefert den glorreichen Abschluss eines Release-starken Jahres. MATERIA Music, das er 2015 initiierte und neben MB Elektronics führt, ist auch in diesem Fall das Label. Dabei ist das Brand mit international stattfindenden Events weit mehr als nur ein reines Musiklabel.

Marco, Glückwunsch zu deinem sechsten Album. Wie fühlst du dich mit dem fertigen Werk?

Dankeschön! Ich bin sehr glücklich. Obwohl ich jemand bin, der immer etwas ändern will, muss man irgendwann auch mal gut sein lassen und das Projekt beenden. Während der Pandemie hatte ich sehr viel Zeit, im Studio zu arbeiten. Allerdings muss ich ehrlich sagen, dass ich während dieser doch sehr surrealen Zeit nicht immer inspiriert war. Eine Zeit voller Höhen und Tiefen, wie wahrscheinlich für alle von uns.

Ist der Titel „Surreal Stage“ demnach an diese Zeit angelehnt?

Ja. Ich habe diesen Titel deshalb gewählt, weil das ganze Album in dieser surrealen Zeit bzw. Phase meines Lebens entstanden ist. Eine skurrile Zeit, in der unser Leben auf eine Art „Warteschleife“ gesetzt wurde. Eine Zeit der Unsicherheit für alle, aber auch für unsere wunderbare Musikszene, die ich nach all den Jahren nach wie vor nicht Industrie nennen möchte. Wir waren von den Tanzflächen förmlich weggesperrt und mir wurde einmal mehr klar, dass wir alle die Dancefloors dieser Welt brauchen für das Wohlbefinden unseres Geistes, Körpers und unserer Seele. Wir alle hatten so viel mehr Zeit, um im Studio zu sein und Musik zu machen. Aber letztendlich ist unsere Musik nahezu komplett von Tanzflächen abhängig bzw. für diese gedacht. Es war also nicht immer leicht, den Geist auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich nicht zu sehr von der ständigen Negativität, vor allem in den Boulevardmedien, ablenken zu lassen.

Dein letztes Album hattest du 2017 veröffentlicht – wie rekapitulierst du die letzten vier Jahre?

Ich denke noch immer sehr positiv an die Zeit rund um „Temper“. Ein Track auf dem Album ist eine Kooperation mit dem Chicagoer Homie Tim Baker, der Anfang dieses Jahres leider verstorben ist, genau wie ein paar andere Freunde und großartige Menschen und Künstler*innen wie Paul Johnson und Kelli Hand. Ich bin so dankbar, dass ich noch einen Track mit Tim veröffentlichen konnte. Ein großartiger Mensch. In den letzten vier Jahren verging alles extrem schnell. Facebook gab es damals schon einige Jahre, Instagram und einige andere bild- und filmorientierte Netzwerke wurden aber immer bedeutender. In den letzten vier Jahren wurden auch immer mehr neue DJs zum Vorschein gebracht, die superschnell einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten, manche sogar, ohne eine einzige Platte gemacht zu haben, oder nur, weil sie in einem bestimmten Club auftraten, der gehypet wurde. Es gab immer mehr DJs, aber auch mehr Produzent*innen, mehr Tracks wurden veröffentlicht. Gefühlt gab es von allem mehr, mehr und mehr. Ich persönlich habe einfach weiter das gemacht, was ich mag, nämlich spielen und produzieren, und bin nie wirklich Kompromisse eingegangen, nur weil ein Stil angesagter war. Ich finde es traurig zu sehen, dass so viele großartige Produzent*innen, die so brillanten Techno veröffentlicht haben, jetzt zu superhartem und schnellem Trance oder Core wechseln, nur weil es ein Hype ist und mehr Tickets verkauft werden. „Folge nicht dem Hype, folge deinem Herzen“ lautet meine Devise.

Die Pandemie hat die Welt auf den Kopf gestellt. Wie hat sich diese Zeit auf dich als Mensch, aber auch auf deine Musik und vielleicht auf dieses Album ausgewirkt?

Viele Freund*innen von mir sagten, dass die Pandemie einen Reset von vielen Dingen bewirken würde und dass alles auf eine positive Art und Weise zurückkommen würde. Viele von ihnen, mich eingeschlossen, dachten, dass Raves explodieren würden wie nie zuvor, dass die Leute feiern und alles wieder mehr schätzen würden. Ich hatte wirklich gehofft, dass alle so glücklich und aufgeregt sein würden, um zu tanzen und zu feiern, wie beim Fall der Mauer in Berlin 1989 oder bei der Love Parade in den 90er-Jahren. Aber irgendwie war das Gegenteil der Fall. Die Menschen hatten noch mehr Zeit, in ihre Handys zu schauen und wurden noch mehr von Likes und Fake-News im Internet und in den Medien „verschluckt“. Ich sehe leider keine große Veränderung. Das stimmt mich traurig.

Seit deinem ersten Album sind 26 Jahre vergangen. Wie rekapitulierst du diese Zeit?

Mein Sound hat sich immer in verschiedene Richtungen entwickelt, weil ich einfach zu viele verschiedene Sounds mag. 1994 war „Planet Goa“ hauptsächlich auf Trance ausgerichtet, aber das ist nun schon fast drei Jahrzehnte her. Das Musikmachen hat sich seit dieser Zeit stark verändert, damals hat man ja hauptsächlich mit Hardware gearbeitet. Später hatte ich auch einige Tracks auf dem Rave-Label Bonzai. Aber auch mein Rave-Track „Scorpia“, der vor Kurzem mit Remixen von Hector Oaks, Shadow & Obscure Shape und Regal wieder veröffentlicht wurde, war dabei. Der Track wurde in den letzten Jahren wieder von vielen Künstler*innen gespielt und auch die neuen Remixe im letzten Jahr. 1997 hatte ich für mich genug von diesem Rave-Hardtrance-Zeug. Ich konnte mich in diesem Sound nicht mehr wiederfinden, also habe ich von 1997 bis heute hauptsächlich Techno gemacht. Mal langsamer, mal wieder schneller, mal melodischer, mal ganz ohne Melodie, nur mit Perkussions, sogar auch Electro, Downtempo, Electronica und vieles mehr. Ich kann einfach nicht jahrelang immer wieder das gleiche Zeug produzieren und spielen. Das ist nicht mein Ding. Ende der 90er war ich total verliebt in Claude Young, Jeff Mills, Hyperactive aus Chicago und Carl Cox und seine 3-Deck-“Turntables”-Sets. Meine größte Leidenschaft ist und bleibt das Aauflegen. Ich liebe es, acht oder zehn Stunden am Stück aufzulegen. Aber in dieser Zeit kann ich nicht nur den Hammer auspacken, dafür mag ich zu viele verschiedene Musikstile und ich möchte mit meinen Sets eine Geschichte erzählen.

Wie hat sich dein Workflow im Studio im Vergleich zu den vorherigen Werken verändert?

Als ich 1994 mit einem Freund meine ersten Platten produzierte, hatte ich einen Atari-Computer, einen Sampler AKAI 3000, vielleicht drei Keyboards – wie einen alten D5 und einen Nord Lead – und ein paar Roland-Synthesizer wie einen JV 2080 und einen Juno 106 – das war’s. Jetzt arbeite ich viel mit digitalen Synthesizern, aber vereinzelt auch noch mit Hardware. Heutzutage ist es ja zweifelsfrei möglich, einen tollen Track rein mit digitalen Synthesizern und ein paar Samples zu machen. Aber seit Ableton auf dem Markt ist und so intuitiv geworden ist, macht es die ganze Materie einfacher.

Ein guter Punkt, denn „Surreal Stage“ wird auf deinem Label MATERIA erscheinen – deinem eigenen Imprint, das auch für Events bekannt ist.

Ich bin sehr stolz auf die bisherige Label-Historie mit befreundeten Künstler*innen wie f.ex KMYLE aus Frankreich, Sigvard aus Belgien, Michel Lauriola aus Buenos Aires, Raul Young aus Ungarn und weiteren sowie natürlich meine eigenen Sachen. Die Events nutzen wir natürlich als Plattform, um unsere eigenen Acts zu promoten. Oft laden wir aber auch viele Gastakteure ein. Wichtig ist dabei, dass es soundtechnisch passt. Nicht jedes Event, das wir machen, ist also eine reine Label-Party. Für 2022 sind Sachen geplant in London, Wien, Antwerpen, Belgrad, Buenos Aires und im Sommer wieder open-air in Belgien.

Bereits vor rund 20 Jahren gegründet wurde dein nach wie vor aktives Label MB Elektronics. Was passiert dort aktuell?

Ich habe beschlossen, einen klaren Unterschied im Sound zwischen meinen beiden Labels MB Elektronics und Materia zu machen. MB Elektronics führe ich seit 2001, also seit genau 20 Jahren, ja. In dieser Zeit hat das Brand viele Soundphasen durchlaufen. Es gab Zeiten, in denen Techno lockerer und schneller war, dann wieder Zeiten, in denen er langsamer wurde und dann wieder schneller wie heute. Als ich 2016 mit Materia anfing, beschloss ich, die Philosophie des Label genauso straight zu halten, wie ich Techno mag: vorwärts und energiegeladen. Also beschloss ich, mich mit MB Elektronics in eine melodischere Richtung zu bewegen, die auch Electro enthält, und Materia als meinen Haupt-Schauplatz beizubehalten. Die letzte Veröffentlichung auf MB Elektronics war Anfang November „After The Silence“ von Ben Spencer, es gibt tolle Feedbacks bislang.

Die Welt und auch die Szene kehren langsam, aber sicher wieder zur Normalität zurück. Was sind deine Pläne für die nächste Zeit – nicht nur musikalisch, sondern auch privat?

Ich hoffe wirklich, dass dieser Spuk sehr bald aufhört. Aktuell steigen die Zahlen ja wieder rasant, sogar bei Geimpften, was mich beunruhigt. Hoffen wir, dass sich die Dinge positiv entwickeln und die Menschen wieder Lust bekommen, zu tanzen und Musik zu hören, anstatt sich in ihrer Bubble und in Handys zu verlieren. Mein Plan ist es, viele energiegeladene Sets zu spielen, viele Dancefloors zu bespielen und auch weiterhin viel neue Musik für mein Label zu machen. Außerdem werde ich nächstes Jahr eine EP für ein Label und einen Künstler veröffentlichen, den ich schon sehr lange bewundere. Das darf ich leider noch nicht ankündigen, aber die Vorfreude ist groß. Darüber hinaus wird es viele Events geben. Ich liebe das alles noch so sehr und hoffe, dass ich das noch lange machen kann.

 

Aus dem FAZEmag 118/12.21
Text: Triple P
Credit: Joe Meijer
facebook.com/officialmarcobailey