
Mit „Sleep“ hat der britische Komponist und Musiker Max Richter vor zehn Jahren eins der wichtigsten Stücke der Neoklassik des 21. Jahrhunderts geschaffen. Ein bahnbrechendes und ambitioniertes Werk, das mit über acht Stunden das längste je aufgenommene Musikstück ist und mittlerweile weit über zwei Milliarden Streams erreicht hat, mehr als je zuvor ein klassisches Werk. Entstanden ist „Sleep“ in Zusammenarbeit mit seiner kreativen Partnerin Yulia Mahr und darüber hinaus mit dem amerikanischen Neurowissenschaftler David Eagleman. Denn „Sleep“ ist nicht nur ein reines Musikstück, sondern auch „ein Experiment, um herauszufinden, wie wir Musik in verschiedenen Bewusstseinszuständen erleben – um möglichst zu entdecken, wie wir sie im Wach- und im Schlafzustand wahrnehmen“, so Richter. Zum Jubiläum gibt es nun mit „Sleep Circle“ eine auf 90 Minuten konzentrierte Version, die sich mit dem hypnagogen Zustand – dem Übergangszustand zwischen Wachsein und Schlaf – beschäftigt.
Richter ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, hat klassische Komposition und Klavier an der University of Edinburgh studiert und beim italienischen Avantgarde-Komponisten Luciano Berio in Florenz gelernt. Schon früh in seiner Laufbahn war er auch im elektronischen Musikbereich tätig, arbeitete beispielsweise an mehreren Alben von The Future Sound of London oder am Album „Who Told You“ von Drum ’n‘ Bass-Ikone Roni Size mit. In den Nullerjahren veröffentlichte der 59-Jährige diverse Soloalben, bevor er 2012 endgültig mit seiner „Recomposed“-Version von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in den Fokus rückte. Des Weiteren hat Richter auch diverse Soundtracks geschrieben, darunter für den Oscar-nominierten Animationsfilm „Waltz with Bashir“ oder für den Hollywoodfilm „Ad Astra – Zu den Sternen“ (2019). Im Jahr 2015 erschien dann sein Opus Magnum „Sleep“.
„Das Schlaflied war schon zu jeder Zeit ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur – Musik und Schlaf haben eine intuitive Verbindung. Dieses Prinzip wird auf dem Stück weiter ausgebaut. Ich wollte den Zusammenhang zwischen Musik und dem menschlichen Bewusstsein untersuchen. Den surrealen Zustand zwischen Wachsein und dem Wegdämmern, in dem man Musik nur noch unterbewusst und somit auf eine ganz besondere Art wahrnimmt“, erklärte er seinerzeit im FAZE-Interview. 2020 folgte die gleichnamige App für Schlaf und Meditation und am Weltschlaftag 2024, dem 15. März, eine Pianoversion von „Sleep“, reduziert auf die grundlegenden Strukturen und in Form einer EP mit drei Tracks. Parallel zu den Veröffentlichungen hat Richter sein Stück in der gut achtstündigen Version regelmäßig aufgeführt – mit Betten anstatt Bestuhlung und mit der Erlaubnis, doch bitte einzuschlafen.
Nun also „Sleep Circle“ als Reise in den hypnagogen Zustand, in dem man in den Schlaf gleitet. In diesem kann man visuelle, auditive und taktile Halluzinationen erleben, unter Umständen sogar ohne dass man sich bewegen kann. Selbst wenn man sich dessen bewusst ist, dass man halluziniert, ist es meistens nicht möglich, darauf zu reagieren. Diese Phase dauert in der Regel ungefähr 90 Minuten, genauso lang ist dementsprechend das Album. Auch bei dieser Produktion war Yulia Mahr dabei, Max Richter und sie haben das Album im gemeinsamen Studio Richter Mahr in Oxfordshire aufgenommen. „Sleep Circle“ ist ein weiteres Beispiel für Max Richters einzigartige Fähigkeit, tiefgreifende menschliche Erfahrungen in Musik zu übersetzen. „Sleep“ in allen seinen Varianten beweist dies eindrucksvoll.
„’Sleep‘ ist ein Stück, in dem es darum geht, einen Ort zum Innehalten zu finden, einen Ort zum Ausruhen“, sagt der Komponist. „Denn obgleich die Welt sehr aufregend ist, so ist sie doch auch sehr anstrengend, vor allem auf psychologischer Ebene, unser Leben ist durch nie endende Nachrichten, soziale Medien und das Internet völlig übersättigt. Wir werden geradezu heimgesucht von ökologischen, sozialen und politischen Problemen. Ein klarer Geist ist natürlich der beste Weg, um damit umzugehen. Wir müssen Wege finden, um unseren Geist zur Ruhe zu bringen. ‚Sleep‘ ist ein solcher Weg.“
Am 14. und 15. November wird „Sleep“ in Paris in der Fondation Louis Vuitton aufgeführt. Weitere Termine sind in Planung. „Sleep Circle“ ist bereits erschienen, digital sowie als CD und LP.
Aus dem FAZEmag 164/10.2025
Text: Tassilo Dicke
Foto: Rory Van Millingen
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