Qualität und gute Musik, aber kein veganer Schinken! Frank Kusserow & Hilmar Reusch im Interview

Wir haben im ausführlichen Interview mit Frank Kusserow und Hilmar Reusch über ihre Labels Milligramme und Nanogramme gesprochen, deren Charakteristika und Entstehungsgeschichten beleuchtet sowie die Balance, zwischen aufkeimenden Trends und qualitativ hochwertiger Musik die entscheidenden Schnittmengen zu finden.

Lasst uns zuerst über euer gemeinsames Label sprechen – Milligramme. Wie kam es zur Idee der Gründung, wofür steht es und was veranlasste euch, kurze Zeit später das Sub-Label Nanogramme ins Leben zu rufen?

Hilmar Reusch (Unspecial): Diese Frage lässt sich nicht beantworten, ohne über die Zeit vor 1000 Monden zu sprechen. Frank und ich trafen uns nach fast 20 Jahren Sendepause in einem Internetforum für alte Säcke wieder. Das war kurz vor der Pandemie. Wir hatten uns zuvor in den goldenen Zeiten des Frankfurter Technos, etwa im Jahr 2000 bei Neuton, einem Schallpattenvertrieb in Offenbach, kennengelernt. Wir haben dort anfangs im Lager gearbeitet, das unsere damalige Chefin, Sandra Grudde, treffenderweise als Biotop bezeichnete. Will sagen: seitVor uns hatten dort Musiker wie Ricardo, Zip, Andre Galluzzi, Paul Brtschitsch oder Johannes Heil gejobbt und im Anschluss ihre musikalischen Werdegänge weiter fortgeführt – in der Regel in Form von Labels im Vertrieb von Neuton. Ich betreute einige davon dann später als Label- und Produktmanager.

In unserem Lagerteam waren außerdem Bo Irion und Mike L am Start. Wir bekamen fast täglich Besuch von Heiko, Roman, Jörn, Matthias und Ata, die ein Stockwerk über uns Playhouse, Klang und Ongaku betrieben. Nebenan hatte Pascal FEOS seine Basis. Um die Ecke lagen das alte Logic Hochhaus und das Robert Johnson. Vom Goethering und der Strahlenbergerstraße ging seinerzeit eine starke Anziehungskraft für Plattenjunkies wie uns aus.

Anyway, Frank und ich lachen gerne darüber, wie wir unsere ersten Tracks beim Packen von Bestellungen von Recordshops vorspielten. Wir waren Greenhorns im Umgang mit teurer Technik und stets neugierig auf das, was die anderen Lagerfuzzis über unsere neuesten Gehversuche zu sagen hätten. Das Lager fühlte sich dabei an wie die Kommandobrücke eines Technopunk-Raumschiffs auf der Reise durch bisher unbekannte Galaxien. Ganz anders als damals, wird Techno heutzutage politisch besetzt, weichgespült und aufgedonnert. Früher waren wir dagegen ein proletarischer Haufen Nerds, der zwar offen für alles Neue und Liberale war, der diese Philosophie aber ohne viel Gerede lebte. Außer der Lust auf musikalische Kicks, gab es kein wirkliches Regelwerk für unsere Community. Vielfalt, Toleranz oder das Gegenteil wurden nicht verordnet, und genau das war so schön. Am Wochenende tanzten wir ungezwungen zum Beat. Wer friedliche Absichten besaß, war willkommen. Einen Knall hatten wir irgendwie alle. That was it!

Techno war natürlich in Teilen auch hochnäsig, aber die Szene war übersichtlicher und persönlicher. Wir fochten aus heutiger Sicht alberne Konflikte über den einzig wahren Sound aus, die kein Mensch außerhalb unseres Orbits verstand, redeten ständig dummes Zeug und lachten uns insbesondere über alles kaputt. Sven und das Omen hatten uns alle inspiriert. Entgegen vieler Kritiker, die sich durch Lästerei über Sven nur wichtig machen wollen, stehen Frank und ich immer noch dazu, in ihm ein Idol und einen Helden zu sehen. Ohne sein Werk gäbe es Milligramme und Nanogramme nicht. A fact’s a fact!

Als sich Franks und meine Wege erneut kreuzten, dachten wir uns, dass wir diese schönen Erinnerungen mit Freude überliefern würden. Im Kern sind Frank und ich also nicht bloß alte Säcke sondern alte Säcke mit einem Hang zur Nostalgie für eine Zeit, in der Vieles entspannter, verrückter und schlicht besser war. Wer heutzutage behauptet, uns und Andere aus Unterdrückung und Dunkelheit befreit zu haben, weiß es nicht besser oder er lügt. Die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten, der Siegeszug der Smartphones und zu viel Rücksicht auf lebensbejahende Spießer hat wunderbare Dinge unwiederbringlich zerstört. Uns gab damals niemand vor, wer oder was wir sind, oder formulierte aus, wen oder was wir bewundern oder bekämpfen sollten. Wir beobachten diese Entwicklungen mit Sorge. Alles wird immer perverser, zynischer und verrohter. Wer sich sorgt, dem tut Hoffnung gut! Getreu der Frankfurter Schule wollen wir den dummen Kitsch der Gegenwart ehrlichen Herzens mit Substanz begegnen. Das ist der Antrieb unserer gemeinsamen Wege, das ist unsere Ideologie.

Das Sublabel Nanogramme wurde indes gegründet, um eine Plattform für neue Künstler zu sein und sie dann in die Milligramme Familie aufzunehmen. Idealerweise sollen sie irgendwann auf Milligramme solo Vinyl veröffentlichen. Ob das genau so kommt, muss man aber sehen. Wir arbeiten dabei in unserem Tempo, nicht in dem, das irgendwelche Luxusjachtbesitzer uns anerziehen wollen. Nichtsdestotrotz, die Compilation-Serie „Ingredients“ erscheint jährlich getaktet. Es ist nicht auszuschließen, dass es auf Nanogramme auch Vinyl-Releases geben wird, geplant sind sie aktuell jedoch nicht, egal wie uns der Gedanke daran antörnt. Die Kunst entscheidet hier für uns.

Über euch als Künstler ist zu lesen, dass euch Labels wie Klang Elektronik, Playhouse, Perlon, Kanzleramt und Force Inc. beeinflusst und inspiriert haben. Steckt dieser Einfluss auch in Milligramme bzw. Nanogramme?

Hilmar: Im Prinzip wollen wir uns nur im Rahmen von guter Musik frei fühlen, anderen etwas geben und sie mitnehmen. Ist die Musik gut – da wir sind Idealisten – sind auch die Leute gut. Wir stellen deshalb Qualität über Quantität und machen uns nichts daraus, wenn irgendwer uns nicht versteht. Wir erschaffen kleine Dinge, die aber gut. Die bekannten Labels von einst standen oder stehen für diesen Spirit. Für uns – wie für sie – ist oder war Labelarbeit ein humanistisches Projekt. Vor allem wollen wir uns dabei selbst treu bleiben, selbst wenn man mit der Zeit gehen muss.

Erfolg definieren wir somit mit Spielraum, wenngleich Milligramm und Nanogramm präzise Maßeinheiten zur Messung von Dingen sind. Sprich, wir betrachten Kunst trotz aller Freiheitsliebe durchaus streng. Künstler wollen sich messen und gemessen werden. Wir bleiben bei dieser Verfahrensweise innerhalb neuer alter Wissenschaft Lernende, fasziniert vom Unerklärbaren. Ist es Mist, lassen wir es jedoch Mist sein. Unsere Maßeinheit in Sachen Anspruch ist ganz klar Kilo. Da gibt es keine Diskussionen, no matter who, no matter what. Es würde mich wundern, wenn unsere Vorbilder das so anders sehen. Unser Mastering macht übrigens Jörn Elling-Wuttke von Alter Ego.

Milligramme wurde Anfang 2020 gegründet, eine Zeit, die historisch stets mit der Corona-Pandemie assoziiert werden wird. Inwiefern haben die weltweiten Umstände die Arbeit eurer Labels beeinflusst?

Hilmar: Frank und ich wussten schon vor Corona, dass wir elektronische Musik in Gänze begreifen würden. Uns war ebenfalls klar, dass unsere Wurzeln oldschool sind und bleiben sollen. Allerdings sahen wir uns durch die Pandemie gezwungen, Marketing und reine Optik vor unseren Plan mit selbsterklärender Musik zu rücken. Ursprünglich wollten wir nämlich bloß gute Musik machen und ohne viel Tamtam veröffentlichen. Leider – vielleicht zum Glück – kam Corona.

Im Lockdown traten wir intensiver in den Dialog mit unserer Graphic Designerin Chloe Gastinel und kamen so in der visuellen Gegenwart an. Sie lebt aktuell in Montreal. Chloe ist ein Geschenk! Sie ist die Tochter eines guten Freundes, Jean-Michel Gauvin, der rund um die Jahrtausendwende zusammen mit Mateo Murphy und Noah Pred die kanadische Ascend Music Group betrieb. Da Chloe Techno in der DNA hat und in St. Tropez und Nizza aufwuchs, brachte sie den darken Esprit in unseren Look. Sie definiert vorrangig das Erscheinungsbild von Milligramme, verleiht unserer Vision aber über das Sichtbare hinaus Sinnlichkeit und Schick. Sie ist unentbehrlich.

Auf welche Acts und Releases dürfen wir uns auf Milligramme und Nanogramme in absehbarer Zeit freuen?

Frank Kusserow: Neben Releases von Unspecial und mir, sind auf Milligramme weitere Releases von Adam Jay, Alexander Kowalski und G-Man in der Pipeline, teilweise gespickt mit Remixen von Joel Mull, Oliver Rosemann, Deadbeat und Noncompliant. Auf Nanogramme geht die Planung von „Ingredients Vol.2“ bald los und es wird einige Solo-Projekte, darunter von November Reign, Variflex, QS3Ro und einigen anderen geben. Das ist aber alles nicht wirklich spruchreif! Wir beraten uns weiterhin ergebnisoffen mit den Künstlerfamilien rund um die Artists auf der ersten Compilation. Mit Sean Ocean aus San Francisco kam es zu sehr guten Gesprächen.

Demnächst wird auf Nanogramme die Compilation „Ingredients Vol.1“ veröffentlicht. Mal ganz salopp gefragt: Welche Inhaltsstoffe beinhaltet diese denn genau?

Frank: Da Hilmar und ich Hobby-Köche sind, kann man das ganz gut mit kulinarischem Jargon umschreiben: wenn Milligramme das Rezept ist, liefert Nanogramme die Zutaten. Daher rührt der Name der Compilation-Reihe: „Ingredients“, also Zutaten oder Inhaltsstoffe. Je nach Gericht, sind die Grundzutaten Techno, Dub, House, Ambient oder Electro. Vor allem schmeckt es aber, und die Persönlichkeiten der Köche kommen zum Ausdruck. Wir wagen uns dabei auch an Vergessenes oder Unerforschtes heran, manchmal mild, manchmal scharf, eventuell mit Säure oder Süße, gerne mit einem Touch Umami. Teilweise setzen wir auf Traditionelles, teilweise auf neue Abenteuer, hier und da auf Symbiosen.

Wir werden unsere Gäste jedenfalls elektrisieren! Das haben wir bereits! Egal wie wir das aber schlussendlich alles abliefern, alle Ingredienzen haben Folgendes gemein: Erfahrung, Klarheit und das verführerische Summen von Überzeugung. Was es auf gar keinen Fall geben wird, sind zuckerfreie Kekse mit Monokäse und veganem Schinken!

Milligramme und Nanogramme sind noch jung. Gibt es etwas, das ihr euch mit Blick auf beide Label langfristig in den Kopf gesetzt habt?

Frank: Mit Joel Mull und Deadbeat haben wir Ideen über Nachhaltigkeit bei der Tonträgerproduktion ausgetauscht. Hilmar hat sich mal mit Abfallwirtschaft beschäftigt. Wir wollen möglichst umweltfreundlich sein. Wie wir dabei genau ganz vorgehen werden, wissen wir aber noch nicht. Wer tut das schon in den heutigen Zeiten!?

In Anlehnung an unseren künstlerischen Anspruch existiert bereits eine kleine Fashionlinie mit T-Shirts, Hoodies und Merchandising Artikeln, die von Chloe und Deux Huit à 3 designt wurden. Wir werden auch künftig für jedes Release individuelle Items im Bereich Fashion und dergleichen anbieten.

Musikalisch gibt es für uns nur drei Ziele: Qualität, Qualität, Qualität! Trends finden bei uns nur dann Berücksichtigung, wenn sie uns absolut vom Hocker hauen. Wir freuen uns in naher Zukunft auf mehr weibliche Unterstützung. Wir releasen aber weiterhin nur, was uns absolut gefällt, ob modern oder oldschool. Wenn es gut ist, ist es gut, wenn nicht, dann nicht! Let‘s flirt with the Unknown! Seit dem 1. April ist „Ingredients Vol.1“ überall erhältlich. Ab diesem Zeitpunkt kann sich jeder selbst ein Bild von unserer musikalischen Kitchen C’est possible machen.

Reinhören in „INGREDIENTS, VOL. 1“ könnt ihr HIER.

 

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