Richie Hawtin – Und der Traum wurde Wirklichkeit


Ein Richie Hawtin weiß, wie man für Gesprächstoff sorgt und jeglichem Stillstand entgeht. Das war schon zu seligen Plus 8-Zeiten so. Heutzutage sind es vor allem technisch innovativen Projekte, die weit über die Musik hinausgehen, mit denen der in Berlin lebende Künstler regelmäßig in Erscheinung tritt. In den letzten Jahren war das etwa die „Contakt“-Geschichte mit dem „Cube“. Deren werbewirksame Inszenierung ließ gar viele befürchten, die M_nus Familie um ihren Guru Richie sei zu einer strengen Hi-Tech-Sekte mutiert. Mit der Rückkehr von Plastikman live auf die Bühnen – inklusive aufwendiger Show und iPhone App – überraschte er dann all jene, die das legendäre Techno-Projekt längst als gestorben betrachtet hatten und die in Richie nur noch einen umher jettenden Hipster sahen. Einen, der alles, was oldschool und von gestern war, hinter sich gelassen hatte und der mit Sprüchen wie „Vinyl is a pain in the ass“ die Gemeinde erzürnte.
Doch ungeachtet aller bösen Zungen verfolgte Richie Hawtin weiter äußerst erfolgreich seinen Weg und legt nun das nächste große Happening vor. Mit ENTER. bringt er eine eigene Partyreihe ins Space auf Ibiza und ausgewählte Festivals. Getreu dem Motto „Music. Sake. Technology. Experience“ werden zwischen dem 5. Juli und dem 20. September neue Akzente in den Donnerstagnächten im Club in Playa d’en Bossa gesetzt. FAZE sprach mit Richie über das Konzept dahinter, über die Macht der Insel und über seine Liebe zur Technologie.

Richie, wann warst du denn das erste Mal auf Ibiza? War die Begegung damals eher ein Schock oder schon Faszination?
Es war wirklich ein Schock für mich. Ich hatte vorher schon einiges von der Insel gehört. 1995 spielte ich dann viele unglaubliche Gigs in verschiedenen Ländern und hatte ein echt gutes Gefühl bei den Leuten und mit der Musik, die ich spielte. Als ich dann nach Ibiza kam, änderte sich das alles. Meine erste Reise dahin war absolut schrecklich. Ich wurde von britischen Promotern gebucht. Sie hatten kein Hotel und steckten alle Künstler in ihre Wohnung, die heiß und schmutzig war und stank. Die Duschen funktionierten auch nicht. Dann kamen wir zum Club. Der war nicht wirklich gefüllt. 1995 war kommerzieller House und Balearic der Sound der Insel. Die Leuten wollten nicht wirklich irgendeine Art von Techno hören. Ich spielte dann 30 Minuten lang, und die Leute gingen, weil es nicht der Sound war, den sie wollten. Ich verließ Ibiza auf der Stelle und sagte, dass ich nie wieder dorthin zurück kommen würde. (lacht)

Wann hast du dann bemerkt, dass sich die Musik auf der Insel veränderte und verschiedene Styles elektronischer Musik in den Clubs möglich wurden?
Ich muss dafür wirklich Sven (Väth) danken. 1999 startete die erste Cocoon-Saison auf Ibiza. Es gab nur vier Shows, und Sven lud mich dazu ein. Er brauchte fast drei Monate um mich zu überzeugen. Er meinte: „Come on, Rich, es ist wirklich gut da. So viele nette Leute, und wir geben ihnen nun unsere Musik.“ Ich vertraute ihm dann, kam zur Insel und wohnte in seinem tollen Haus. Und wir spielten im Amnesia die Musik, die wir liebten. Wir hatten zu dem Zeitpunkt nur eine kleine, aber wirklich gute Crowd auf den ersten Partys. Es waren etwa 1.500 Leute, der Club war also nur halb voll. Aber die, die da waren, liebten es. Und wir alle, Sven, die anderen und ich, fühlten wirklich, dass Ibiza unsere Musik brauchte. Deshalb startete Sven die ganze Cocoon-Reihe dort. Und deshalb spielte ich dabei auch eine große Rolle und war Teil der Familie. Wir haben unseren Sound dorthin gebracht, und ich bin Sven echt dankbar dafür, dass er daran geglaubt hat. Ohne die letzten zehn Jahre Erfahrung mit Cocoon wäre die Insel jetzt nicht das, was sie heute ist. Es öffnete nicht nur für den Cocoon-Sound die Türen, es schuf auch Raum für viele andere gute Musik. Du hast immer noch Trance und kommerziellen House auf Ibiza, aber ebenso sehr viel Platz für andere Klänge.

Wie wichtig ist denn deiner Ansicht nach Ibiza insgesamt für die weltweite elektronische Musik und ihre Szene? Es ist bekannt, das jährlich viele Veranstalter, Labelmacher, Producer und DJs zu den Openings anreisen oder gleich ihren Urlaub dort verbringen …
Berlin und Ibiza sind für diese Art von Musik immer noch die wichtigsten Orte. In Berlin hast du das Zentrum der Kultur, die Partys, das extreme Clubbing. Die Stadt ist offen dafür und erlaubt vieles. Du hast Software-Firmen wie Native Instruments oder Ableton vor Ort. Booker, Promoter und viele andere leben dort. Ibiza ist dann der internationale Brennpunkt. Wir erleben hier die besten Sets von einigen der besten DJs der Welt. Jeder ist entspannt und lächelt. Du hast das tolle Wetter, hübsche Jungs und Mädchen. Die Leute haben Spaß und feiern.

Kann denn Ibiza heute immer noch so einflussreich sein, dass es einen neuen Style anregt? In den 80ern hörten viele britische DJs und Veranstalter auf der Insel erstmals Acid House und brachten den Sound anschließend nach England, wo er explodierte und den „Summer of Love“ folgen ließ …
So etwas passiert doch die ganze Zeit. Leute kommen nach Ibiza, hören großartige Musik, kehren dann in ihre Heimatländer zurück und erzählen davon. Sie laden DJs ein und wollen deren Sound auch daheim hören. Ich denke, dass er wachsende Erfolg elektronischer Musik in Amerika auf die Mithilfe von Ibiza zurückzuführen ist. Letztes Jahr spielte ich zum Beispiel als Plastikman live im Amnesia, und fast der ganze VIP-Bereich war von amerikanischen Veranstaltern besetzt. Die haben dann daheim den Leuten von dieser anderen Musik berichteten, die weniger kommerziell ist, zu der aber trotzdem Tausende tanzen. So wollten plötzlich große Promoter aus New York, die zuvor niemals Underground-Acts gebucht hätten, Marco Carola. Sogar die Jungs vom Electronic Daisy Festival, eines der größten Festivals in Amerika, luden mich ein, ihnen dabei zu helfen, drei ihrer Stages mit mehr Leuten aus dem Underground zu füllen. Ibiza öffnet wirklich Türen und funktioniert wie ein großer Lautsprecher, der Musikideen an den Rest der Welt sendet.

Gab es in den letzten Jahren so etwas wie einen Schlüsselmoment für dich, der dich dazu anregte, mit deinem Label auch eigene Nächte auf Ibiza zu initiieren?
Nein, nicht wirklich. Ich war sehr froh, mit Sven und Cocoon zusammenzuarbeiten. Für viele Jahre war das die perfekte Familie für mich. Ende letzten Jahres hatten wir dann die Möglichkeit, vielleicht auch eine eigene Nacht zu machen. Für so etwas brauchst du aber eine Vision und Leute, die dir dabei helfen, diese Vision umzusetzen. Das passierte in den letzten Jahren mit mir und meinem M_nus-Team. Wir machten die Contakt-Shows und dann Plastikman live. Ich habe echt klasse Menschen um mich herum, die mir helfen, meine Ideen sogar noch größer werden zu lassen, als ich sie mir vorgestellt habe. Im Dezember hörte ich dann mit Plastikman live auf und dachte einfach darüber nach, was das nächste Projekt sein könnte. Solche Dinge passieren meist auf natürliche Weise. Man kann nicht alles planen. Wir hatten einige Anrufe und entsprechendes Interesse aus Ibiza. Ende Dezember flogen wir dorthin und machten eine Ortsbegehung im Space. Ich kam dann heim und begann zu träumen. Und der Traum wurde Wirklichkeit.

Worin besteht nun bei ENTER. die große Herausforderung für dich und dein Team?
Die größte Herausforderung ist, eine neue Vision, ein neues Erlebnis auf die Insel zu bringen. Deshalb habe ich vielleicht auch nicht früher darüber nachgedacht, einfach eine M_nus Night dort zu machen. So etwas klingt zwar für eine einzige Nacht interessant, aber nicht für eine komplette Saison. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Idee aus Musik, Sake Bar und interaktiver Technologie zu nehmen und ein Erlebnis daraus zu konstruieren, das über ein reines Musikerlebnis hinausgeht. Auf der Insel gibt es so viele Clubs mit super DJs und super Sound. Wir wollen aber mehr. Wenn Leute nach Ibiza kommen, machen sie schon einen Schritt hinaus aus ihrem Alltag. Wir wollen ihnen jetzt eine neue Ibiza-Erfahrung bieten. Das ist unser Konzept. Was aber noch vor der Technologie und Musik für mich besonders wichtig ist, ist die Leute zusammenzubringen. Meine Freunde kommen auf die Insel, wir hängen zusammen ab, spielen zusammen Musik, machen eben das gemeinsam, was wir lieben. Diesen Spirit und dieser Familiengedanke sind die Gründe dafür, dass wir ENTER. nicht nur auf Ibiza, sondern auch auf Festivals stattfinden lassen werden.

Welchen konkreten Einfluss haben denn die verwendeten Technologien auf die Gäste und Acts der ENTER.-Nächte?
Einer der wichtigsten Faktoren der Events ist, dass einige der Räume und Klänge von den Leuten kontrolliert werden können, die zu den Partys kommen. Es gibt interaktive Möglichkeiten und iPhone Apps die es dir erlauben, einzusteigen und Dinge zu steuern. Wir leben heute und besonders im Genre der elektronischen Musik in einer Welt, in der jeder ein DJ oder Producer sein will. 2012 will jeder mit eingebunden sein. Wir laden mit ENTER. die Öffentlichkeit dazu ein, in unsere Welt einzusteigen und Teil von ihr zu werden.

Das Projekt ist doch eigentlich auch eine Weiterführung der Konzepte von Contakt oder auch deiner Plastikman-Shows, oder?
Ganz genau. Bei mir steht alles in Beziehung zueinander. Durch Contakt lernten wir mehr über LED- und frühe iPhone-Technologien. Bei Plastikman live gab es dann wieder LED-Technik und eine spezielle App. ENTER. ist jetzt der nächste Schritt. Wenn ich auf dem Dancefloor stehe und einen tollen Track höre, ist es eine ganz spezielle Erfahrung. Etwas passiert mit dir, du verlierst dich in Zeit, Raum und Klang. Über diese Erfahrung habe ich sehr oft nachgedacht. Ich habe neue Wege gesucht, sie zu erhöhen und noch etwas mehr als nur Musik und Lichter hinzuzufügen. Etwas, das uns ein Erlebnis bringt, an das wir uns vielleicht unser Leben lang erinnern werden. Das ist das, was ich will.

Sind die Leute heute insgesamt vielleicht auch noch aufgeschlossener gegenüber eingebundenen Technologien geworden, als noch vor ein paar Jahren, als du Contakt gemacht hast?
Ich glaube, dass es immer Raum dafür gibt, das Bewusstsein der Leute zu öffnen. Nicht jeder ist dafür bereit, aber der Kern von ENTER. und allem, was ich tue, ist immer die Musik. Die Leute können also auch einfach so zu uns kommen, klasse DJs hören und dabei auf der Tanzfläche total glücklich sein. Wir geben ihnen jedoch auch die Möglichkeit, eine noch großartigere Erfahrung zu machen, mit den anderen Dingen, die zu ENTER. gehören. Auf Ibiza ist es einfach, einen DJ hinter die Decks zu stellen, das ist auch ein schönes Erlebnis. Aber ich als DJ und Macher des Events denke auch darüber nach, wie viel weiter ich gehen kann und wie ich die Gäste noch weiter aus ihrem wirklichen Leben entführen und ihnen eine tiefere Erfahrung oder einfach mehr Spaß bringen kann. Damit spielen wir. Mit dem Spaß, den die Leute haben, mit Fantasie oder Realität, die sich umkehren. Ist es nicht wunderbar, wenn du eine neue Platte hörst und denkst: ‚Fuck, ich habe zuvor noch nie so etwas gehört? Das klingt wie von outa space.‘ Ich liebe solche Momente. Ich liebe es aber auch, in einen Club zu gehen und schon vor der Musik zu denken: ‚Krass, wo bin ich hier?‘

Also geht es dir sozusagen um eine futuristische Umsetzung elektronischer Musik und insbesonders von Techno, der ja schon in den 80ern den Ersthörern ein bestimmtes, außerirdische Gefühl vermittelte?
Es muss nicht so futuristisch sein, wie aus dem All, aber es muss sich frisch, neu und anders anfühlen. Ich mag es, aus der Wirklichkeit genommen zu werden. Genau das hat Musik mir immer gegeben. Wenn ich einen schlechten Tag habe, Streit mit meiner Freundin, was auch immer … Und wenn ich mir dann meine Lieblingsplatte angehört habe, wurde ich immer woanders hingebracht. Und dieses „Woanders“ oder diese Nonrealität, das ist die Zukunft. Denn wir kennen die Zukunft nicht. Wir träumen von ihr, denken über sie nach, können sie aber nie definieren. Sie ist etwas, was wir zuvor nicht erlebt haben, etwas anderes.

Wo kommt deine Motivation her, moderne Technologien mit Partys zu verbinden und solche Visionen wie Contakt oder ENTER. zu entwickeln? Hat dich so etwas schon früher gereizt, als du jünger warst und anfingst, Musik zu machen?
Bevor ich mit Musik begann, habe ich Film studiert und wollte beruflich eigentlich etwas mit Special Effects machen, für Science Fiction- oder Horror-Filme. Mich hat es immer interessiert, neue Werkzeuge dafür einzusetzen, Fantasiewelten oder andere Realitäten zu erschaffen. Als Kind habe ich viel gezeichnet und Storys geschrieben. Ich setzte immer schon meine Vorstellungskraft ein. Meine Familie dachte manchmal, dass ich zu sehr in meinem Kopf lebe und nicht genug rede. (lacht)

Gab es in der Vergangenheit ein bestimmtes Event, das dich und deine Perspektive auf besondere Weise beeinflusst hat?
Es gab viele verschiedene Partys, gute wie schlechte. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine großartige Party 1991 in London, die in einem alten Wohnhaus stattfand. Jeder Raum hatte eine andere Farbe und ein anderes Soundsystem. Damals bin ich auch zu den großen Raves in England, Amerika und sogar Deutschland gegangen. Da gab es viel Deko und manchmal zu viele Farben. Es wurde aber auch versucht, das Bewusstsein der Menschen zu verändern. All das versuchte ich dann für mich zu filtern und mit meiner Liebe zu Computern in Verbindung zu bringen, um etwas Neues daraus zu formen. Ich glaube fest daran, dass eines Tages die Idee eines Holodecks, wie man es aus Star Trek kennt, umgesetzt werden kann. Bei Star Trek geht man ja auf das Holodeck, um etwa eine vergangene Zeit wiederzuerleben. Wenn ich aber ein Holodeck hätte, wäre ich mehr daran interessiert, die Zukunft zu erschaffen. Das ist meine Einstellung.

Was auf den ersten Blick bei ENTER. etwas seltsam für manche erscheint, ist die Einbindung von Sake, dem japanischen Reiswein. Warum spielt der eine so große Rolle für dich? Wer dich näher kennt, weiß, dass du ein echter Sake-Sommelier geworden bist …
Jeder DJ oder Musiker hat eine andere Leidenschaft, Sake ist eine meiner ganz großen. Ich bin sehr an der Geschichte und Kultur Japans interessiert und habe in den letzten fünf Jahren viel über Sake gelernt. Bei ENTER. geht es nun auch darum, mein Universum zu betreten. Und darin findet man eben auch die Dinge, die ich genieße. Man findet Technologie, meine Lieblings-DJs und natürlich auch Sake. Man hofft ja, dass man mit dem ganzen Projekt die Leute näher zu sich bringen kann, Leute, die das mögen, was man selbst auch mag. Deshalb gehört die Sake Bar zu ENTER. Ich mag die Vorstellung, einen besonderen Drink in dieses Cluberlebnis zu integrieren. Ich hoffe, dass dadurch viele etwas genießen können, das sie zuvor vielleicht noch nie probiert haben. Und ich hoffe, dass es das Bewusstsein der Leute dafür öffnet, sich etwas tiefergehender mit Sake und Japan zu befassen.

Ein weiterer Aspekt deiner Projekte und deines Lebens ist die Kommunikation mit den Leuten. Auf der einen Seite gibst du ihnen die Chance, Teil von Erlebnissen wie ENTER. zu werden, auf der anderen Seiten kommunizierst du mit ihnen durch soziale Netzwerke. Glaubst du, dass die direke Verständigung dann auch einen starken Einfluss auf deine Arbeit als Musiker und DJ hat?
Als ich zwischen 13 und 15 Jahre alt war besaß ich ein ganz frühes Modem am Computer. Ich hatte in ganz Amerika Freunde, die ich noch nie persönlich getroffen hatte, mit denen ich aber Fotos und Software tauschte. Damals erkannte ich schon, dass die Technologie Leute zusammenbringen kann, um gemeinsam Ideen auszutauschen. Deshalb liebe ich es auch, Apps zu verwenden oder Dienste wie Twitter zu nutzen. Um mit Informationen die Menschen zu vereinen. Es ist doch unglaublich, wenn man so Grenzen überwinden kann und eine neue Kraft durch Informationen erzeugt. Manchmal ist es aber natürlich auch einfach nur nutzlose Kommunikation, die nur zur Unterhaltung dient, damit die Leute Spaß haben.

 

www.enter.m-nus.com
www.richiehawtin.com

Interview: Benedikt Schmidt