Roger Eno – Flüchtige Momente

Credit: Cecily Eno

Er ist ein Ausnahmekünstler, der über 15 eigene Alben veröffentlicht hat, ein begnadeter Multiinstrumentalist und Komponist, seinen Stücken begegnet man immer wieder in Filmen – zu den bekanntesten zählen unter anderem „Trainspotting“, „An Jedem Verdammten Sonntag“ oder „The Jacket“ – er komponiert ganze Filmscores. Neben seinem Soloschaffen zählt seine Karriere hochkarätige Kollaborationen wie etwa mit Kate St. John – oder seinem älteren Bruder, Ambient-Pionier Brian Eno. Der britische Musiker Roger Eno hat mit seinem unverwechselbaren Stil irgendwo zwischen Klassik, Ambient und New Age längst einen – unaufgeregten – Kultstatus erlangt.

Nun hat Roger Eno mit dem Langspieler „The Turning Year“ sein Debüt bei der Deutschen Grammophon gefeiert, wo 2020 bereits gemeinsam mit seinem Bruder Brian das überhaupt erste Duo-Album der Brüder mit dem Titel „Mixing Colours“ erschien – nach einem rund 15 Jahre dauernden digitalen Schaffensprozess: Roger nahm musikalische Ideen und Skizzen auf einem Midi-Keyboard auf, schickte sie als Datei an Brian, der diese modifizierte und manipulierte. Auch wenn die beiden Brüder in ihrem Ausloten von Klang und Klangwelten ein Ambient-Album mit experimentellem Anspruch schufen, so schimmert Roger Enos melodische Signatur darauf doch immer wieder durch.

Diese tritt auf „The Turning Year“ in all ihrer Virtuosität, Melancholie und Ambivalenz zwischen – mitunter unangenehmer – Befremdlichkeit und magischen Schönheit deutlich hervor. „Als die Deutsche Grammophon ,Mixing Colours‘ veröffentlichte, empfand ich das als eine große Ehre und als ein enormes Kompliment. Ich hätte nie erwartet, dass die Einladung mich zu einem Soloalbum mit ihnen führen würde“, erzählt der Brite, der bis heute ländlich in der Grafschaft Suffolk lebt, in der er auch 1959 geboren wurde und wo er im eigenen Studio produziert. „Es gab mir die Möglichkeit, über meine intensive Liebe zur Musik und zu der Gegend in Großbritannien, in der ich lebe, nachzudenken. Auch machte ich mir Gedanken darüber, wie Großbritannien heute ist, ein Ort der Spaltung und wachsenden Ungleichheit, wie es war, als ich aufwuchs, und über meine Sehnsucht nach einem besseren Ort, der nicht mehr existiert oder vielleicht nie existiert hat.“

Sein erster Langspieler bei dem Label eröffnet mit 14 Tracks einen Blick durch das musikalische Kaleidoskop Enos. „,The Turning Year‘ ist wie eine Sammlung von Kurzgeschichten oder von Fotografien vereinzelter Szenen, jede für sich hat einen eigenen Charakter, und doch hängen sie eng miteinander zusammen“, sagt Roger Eno selbst über das Album. „Die Musik erinnert mich daran, dass wir unser Leben in Facetten leben, nur flüchtige Blicke erhaschen, durch unser Leben streifen, den Wechsel des Jahres registrieren.“  In einem Mix aus neuen Werken und Favoriten seines Konzertrepertoires schaffen sich frei entfaltende Kompositionen immer wieder intensive Bilder vor dem inneren Auge – flüchtige Momente: herbe Landschaften, Natur, der Übergang der Jahreszeiten, Sonnenflecken, Regen, verlassene Ecken, altes Gemäuer, Kirchen, die See, ein Lachen, das verhallt. Hier werden Roger Enos Virtuosität als begnadeter musikalischer Erzähler, die seinem Wirken innewohnende Verbindung zwischen Visualität und Klang deutlich. Das Album erzeugt eine Stimmung, der man sich nicht entziehen kann, die eigene Welt wird mit einem unaufdringlichen Soundtrack unterlegt, und auch wenn das Fließen der Stücke schon längst verklungen ist, hallen diese atmosphärisch nach. Eno spielt die Stücke selbst am Klavier, bei manchen begleitet ihn das deutsche Streicherensemble Scoring Berlin.

Der je nach Stück mal pastorale Unterton, mal explizite pastorale Stimme der Stücke entspringt tiefgreifenden Gedanken des Künstlers, der zum Zeitpunkt des Interviews eine „schreckliche Erkältung“ hat, die er durch Guinness „kurieren“ will, wie er mit einem rasselnden Lachen verrät, während ihm seine Frau, mit der er seit über 35 Jahren verheiratet ist, den zweiten Krug bringt und in die Webcam winkt: „Ich habe über den Grund nachgedacht, warum ich in Großbritannien bleibe. Ich bin eng mit der Gegend verbunden, in der ich lebe, nämlich Ost-England. Aber es gibt viele, viele, Dinge, mit denen ich nicht einverstanden bin, unter anderem mit dem Brexit. Ich denke, das war absolut dumm und in gewisser Weise beschämend. Die Engländer haben die ständige Angewohnheit, auf eine Vergangenheit zurückzublicken, die sie für besser halten. Und das liegt zum Teil daran, dass wir das Wort ,great‘ im Namen unseres Landes tragen, Großbritannien. Ich wette, wenn ich zehn Leute fragen würde, wüssten nur zwei von ihnen, dass ,groß‘ hier eine größere geografische Ausdehnung meint, wie sie durch die Union mit Schottland entstanden ist. Aber die meisten denken, dass es darum gehe, dass wir großartige Ideen haben und dass wir ein ganz besonderes Volk seien und all diesen Unsinn“, sagt Roger Eno und betont entschieden: „Was ich unbedingt in dieser Aufzeichnung zu vermeiden versucht habe, war, patriotisch zu klingen, weil ich denke, dass das eine ziemlich gefährliche Haltung ist oder sein kann. Es gibt viele gute Dinge in dem Land, über welches auch immer man gerade spricht, aber oft auch viele schlechte. Eigentlich hatte der Titeltrack ,The Turning Year‘ einen Teil, der in reine Streicher überging, aber der Klang hatte die Konnotation, dass er Größe feierte. Also musste dieser ganze Teil weg. Es war ein schönes Stück, es war gut geschrieben, aber ich dachte, das ist so, als würde es die Vergangenheit feiern, wie es alle anderen auch tun. Was also nun vorliegt, ist eine Sammlung von Stücken mit einer pastoralen Qualität. Ich meine, ich lebe auf dem Land und ich liebe es hier. Natürlich beeinflusst mich mein Wohnort“,  führt Eno aus, nimmt sein MacBook in die Hand und dreht es so, dass die Webcam seinen Garten einfängt. „Das ist also die Art von Einfluss, den ich habe und den ich mag, aber ich möchte das nicht mit einer Art von Patriotismus verwechseln. Daher musste dieses große Stück in diesem speziellen Track leider verworfen werden, weil es zu leicht als etwas anderes hätte missverstanden werden können. Jetzt haben wir eine Reihe von Bildern. Es könnten Landschaftsgemälde, Gedichte oder Fotos sein. Es sind Bilder von der Gegend, in der ich lebe. Eines davon heißt ,Hope (The Kindness of Strangers)’. Ich habe es an einem Nachmittag geschrieben, bei Bier und Sonne im Garten“, erzählt Roger Eno, und nippt an seinem Guinness, während sein Hund nicht sichtbar, weil unterhalb der Webcam, den Raum betritt. „Komm mal her“, ruft er ihn. „Er ist wirklich ein gut aussehender Bursche, aber er will sich nicht zeigen“, scherzt Roger Eno und kehrt wieder zum Stück „Hope“ zurück:  „Ich glaube, ich war nackt, als ich mein Bier ausgetrunken hatte. Ich warne immer, wenn ein neuer Nachbar einzieht: ,Ich muss Ihnen etwas sagen. Erstens bin ich Musiker, also kann es sein, dass Sie etwas Lärm hören. Zum anderen laufe ich bei schönem Wetter gerne unbekleidet im Garten auf und ab.‘ Wie auch immer, ich war am Ende des Gartens und trank Bier, und dieses Stück habe ich in einem runtergeschrieben, ohne Klavier oder so.“ Seine Notizen, ob Kompositionen, Gedichte, Kurzgeschichten oder Zeichnungen und Kritzeleien hält Roger Eno in kleinen handlichen Moleskine-Büchlein fest – sonst würden seine Gedanken, so flüchtig, wie seine Erinnerung sei, verloren gehen, lacht er.

Aus dem FAZEmag 123/05.22
Text: Csilla Letay
Credit: Cecily Eno
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