Der 1978 in Berlin geborene Stefan Goldmann zählt zu den seltenen Künstler*innen, die sich nicht nur durch ihre Musik, sondern auch durch eine äußerst innovative Herangehensweise an das Komponieren und Produzieren auszeichnen. Mit einer klassischen Musikausbildung im Rücken und einem tiefen Verständnis für elektronische Klänge hat er sich einen Namen gemacht, indem er Grenzen überschreitet und immer wieder neue Wege findet, um Musik zu erschaffen bzw. altbekannte Muster ein ums andere Mal in Frage zu stellen. Im ersten Halbjahr 2024 bereiste Goldmann einige seiner Lieblingsorte in Südostasien und Zentralamerika, veröffentlichte zwei Alben und arbeitet nun an einem neuen Live-Programm für die Borusan Foundation in Istanbul.
In unserem aktuellen Cover-Feature gibt er Einblicke in seine kreative Reise, seine musikalischen Anfänge und die Herausforderungen der Musikindustrie: von seinen Wurzeln in den Probekellern bis hin zu seiner Arbeit mit renommierten Labeln bis hin zu der Gründung seines eigenen Labels Macro sowie weltweiten Projekten. Zweifelsfrei ist Goldmanns Geschichte geprägt von einer kontinuierlichen Suche nach dem Neuen und Einzigartigen in der Musik.
Stefan, wie geht es dir und wie war das erste Halbjahr 2024 für dich?
Sehr gut, danke. Das Halbjahr begann mit einer Tour in Südostasien. Thailand, Kambodscha, Vietnam und China, und endet mit einer in Zentralamerika: Mexiko, Costa Rica, Guatemala und das Reef Festival auf der Insel Roatan. Da sind einige meiner Lieblingsorte dabei, von denen ich manche seit der Corona-Pandemie nicht mehr besucht hatte. Den Rest der Zeit war ich fast durchgängig im Studio, habe zwei Alben veröffentlicht und arbeite nun an einem neuen Live-Programm für die Borusan Foundation in Istanbul.
Das klingt nach einer guten Zeit. Lass uns dennoch ganz vorne beginnen. Dein Vater war Klassik-Komponist, demnach war deine musikalische Erziehung schon früh gegeben, oder?
Naja. Bei mir ist wenig hängengeblieben von dem, was etwa ein traditioneller Klavierunterricht hergibt. Für mich ging es eher in Probekellern los – ich habe als Teenager Bass gespielt.
Wie bist du selbst zur Musik gekommen, bevor du Audiokommunikation an der TU Berlin studiert und eine Arbeit über die auditive Wahrnehmung von Polyrhythmen geschrieben hast? Wie und wann entstand die Idee, selbst aktiv zu werden?
Mit etwa 16 Jahren habe ich Drum ’n‘ Bass und Techno entdeckt und wollte das dann mit den Mitteln machen, die ich hatte. Also habe ich Bass mit wechselhaftem Erfolg durch Effekte geschickt. Dann hatte ich einen Sampler und konnte plötzlich alles alleine machen. Dabei bin ich dann geblieben.
Deine ersten Veröffentlichungen fanden bei renommierten Labeln wie Perlon, Cocoon und Ovum statt. Was hat dich dazu bewogen, später dein eigenes Label Macro zu gründen?
Ich hatte das Glück, ziemlich schnell auf sehr angesagten Labeln veröffentlichen zu können. Die Schwierigkeit damit war aber, dass man bei Labeln, die jeder kennt, entsprechend festgefahrene Strukturen und Prioritäten vorfindet und im Zweifel dann immer andere Leute und Dinge Vorrang haben. Das war insofern eine Sackgasse, auch wenn ich Leuten wie Zip, Josh Wink oder Sven Väth sehr viel verdanke. Ich glaube, dass Tracks, die ich heute produziere, hier und jetzt einen Bezug haben zu dem, was sonst gerade passiert. Teilweise sollte ich Jahre warten, bis mal etwas erschien. Oder es wurden EPs zerpflückt, in denen Tracks wirklich zusammengehörten. Das war enorm frustrierend und das wollte ich nicht mehr mitmachen. Ich hatte dann Finn Johannsen getroffen. Der hatte Lust, ein Label zu machen und wir hatten die gleichen Vorstellungen davon, wie so etwas aussehen soll. Dadurch musste ich das dann nicht alleine tun. Ab und zu mache ich noch etwas bei Labeln, die ich mag, aber jedes Mal erinnere ich mich dann daran, warum ich das nicht mehr tun wollte.
Du hast mal erwähnt, dass jede deiner Platten anders ist. Kannst du ein wenig über deinen konzeptionellen Ansatz beim Produzieren sprechen und wie du es schaffst, jede Veröffentlichung einzigartig zu gestalten?
Du musst es so sehen: Meine erste Platte erschien 2001. Bestimmte Dinge sind dann irgendwann gesagt, und es braucht ein wenig Bewegung, damit mich das nicht anfängt zu langweilen. Auch damit es anderen nicht langweilig wird. Ich würde das nicht aushalten, 20 Jahre lang Variationen von „Sleepy Hollow“ zu produzieren. Zugleich erscheinen jeden Tag 50.000 neue Tracks oder so, und eine sehr klare Abgrenzung zu diesem Berg ist enorm von Vorteil. Es braucht allein aus Gründen des Umweltschutzes also einen möglichst objektiven Grund, warum eine neue Produktion überhaupt noch in die Welt gesetzt wird. Die Frage ist dann, wo man diesen Grund immer wieder aufs Neue findet.
Die eine Erkenntnis, die für mich alles verändert hat, ist, dass Musik immer mehr ist als die Summe ihrer Teile. Damit meine ich, dass die Analyse von Elementen und Ebenen einem nicht verrät, wie sich die Sache als Ganzes anfühlt. Genauso wie man nur aus den unmittelbaren Eigenschaften von Wasserstoff und Sauerstoff die Eigenschaften von Wasser nicht ableiten kann. Umgekehrt bedeutet das auch, dass jeder einzelne Aspekt variiert werden kann und diese Veränderung dann dazu führt, dass alles andere sich auch anders anfühlt. Ich habe das sehr fasziniert verfolgt. Also die Skalen, die Beats, überhaupt alles der Reihe nach einmal auf den Kopf zu stellen und zu schauen, wie der Rest sich dadurch neu formiert. Techno als ein Gefüge, das sich endlos auseinandernehmen und neu zusammensetzen lässt. Das könnte ich jahrzehntelang machen, ohne dass das langweilig wird.
Wie sieht damit ein typischer Tag in deinem Studio aus, und welche Rolle spielen die verschiedenen Instrumente und Technologien, die du verwendest?
Oft habe ich dadurch an einer Stelle eine sehr klare Vorgabe, was ich machen will. Aber dahinter ist dann immer alles offen. Ich verbringe sehr viel Zeit damit, Maschinen und Instrumente sich selbst sein zu lassen – also Sweetspots zu suchen und fast schon Zufallsmuster zu erzeugen und zu schauen, wo ein Synthesizer hinmöchte – anstatt vorgefertigte Soundideen in alles hineinzudrücken. Mein Background ist ja Sampling, deshalb erzeuge ich bis heute eher eine Art Sammlung von Field Recordings aus dem inneren Maschinenraum und schneide mir später heraus, was in einem Track Sinn macht. Der Rest ist dann Bearbeitung, um das nach vorne zu bringen, was aus dem Material am deutlichsten zu einem spricht. Ein wenig wie japanische Wabi-Sabi-Ästhetik, in der der Töpfermeister sich von den Eigentendenzen des Tons leiten lässt. Mit der Zeit habe ich auch gemerkt, dass man zwar prinzipiell mit allem alles machen kann – Ableton Live etwa deckt eh alles ab – aber dass manchmal sehr spezialisierte Werkzeuge den Flow am wenigsten unterbrechen. Mein Studio ist dadurch sehr Hardware-lastig, und mir gibt es auch sehr viel, die komplette Signalkette tatsächlich sehen zu können, anstatt mich durch Untermenüs zu klicken. Jeder EQ und jeder Kompressor ist anders und darin verliere ich mich oft tagelang. Ich habe bestimmt zehn Hallgeräte, und oft sind fünf davon zugleich in einem Track aktiv. Die Verschaltung ist sehr interaktiv, sehr nonlinear – hinter jedem Track steht dann schon ein Organismus, wo alles auf alles reagiert.
Macro wurde 2007 gegründet und hat mittlerweile über 75 Veröffentlichungen. Wie hat sich das Label über die Jahre entwickelt und welche Herausforderungen habt ihr dabei gemeistert?
Der Markt hat sich komplett gewandelt, insofern war ein wenig Umdenken nicht falsch. Am Anfang haben wir tatsächlich Platten verkauft, und auch nicht wenige, aber jetzt arbeiten selbst Hits mit Absatzzahlen, die fast alle Releases zum Promo-Tool für Auftritte machen. Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Was uns jetzt vor allem interessiert, ist, Konzepte in der öffentlichen Wahrnehmung in Besitz zu nehmen. Macro ist deshalb bekannt dafür, dass es keinen spezifischen Label-Sound gibt.
Wie wählt ihr mit dieser Philosophie Künstler*innen und Projekte aus? KUF und Elektro Guzzi etwa sind zwei Bands, die auf deinem Label releast haben und sich deutlich von typischen Techno-Acts unterscheiden. Was hat dich dazu inspiriert, solche unkonventionellen Acts zu signen?
Es muss meist etwas sein, das nicht schon anderswo abgebildet ist. Ich meine damit nicht gleich epochale Würfe, die Ende oder Anfang einer Ära einleiten. Zum Beispiel: Elektro Guzzi waren damals die einzige Band weit und breit, die von sich behaupten konnte, Techno mit herkömmlichen Instrumenten zu spielen. Auch KUF machen etwas, das als Beschreibung merkwürdig klingt, beim Hören aber total Sinn macht: Eine Band mit Vocals, die alles live spielt, außer die Vocals. Das sind dann Schnipsel, die deren Keyboarder Tom Schneider live mit dem Sampler in den Ring wirft. Habe ich anderswo noch nicht gehört, und wie das klingt, überzeugt uns sehr. Das wäre ein typisches Macro-Signing.
In Sachen Shows hast du an speziellen Orten wie dem Honen-in Temple in Kyoto und dem LACMA Museum in Los Angeles performt. Was reizt dich an solchen einzigartigen Locations und wie beeinflussen sie deine Performance?
Für Musik reisen, war für mich immer etwas ganz Besonderes. Ich bin in kommunistischen Ländern aufgewachsen und dachte als Kind, dass ich das meiste auf der Welt nie zu Gesicht bekommen würde. Entsprechend war ich später sehr begeisterungsfähig, wenn sich die Gelegenheit bot, zum Auflegen etwa auf die Philippinen zu fliegen. Wenn ich die Wahl habe zwischen einer Party am Ufer des Sees Atitlán und einem Club in Hamburg oder Frankfurt, muss ich nicht lange nachdenken, was ich machen will. Die zwei, drei Tage, die man dann meist hat, sind oft viel zu wenig, und was da Abhilfe geschaffen hat, waren die Künstlerresidenzen. Ich hatte über die Jahre mehrfach das Glück, jeweils drei bis vier Monate in Kyoto, L.A., Rom und zuletzt in Istanbul zu sein. Ist man länger vor Ort, trifft man Menschen und es kommen Gelegenheiten auf, die ein Agenturkontakt aus Berlin so nicht hergibt. Es schien dann auch hier und da die Möglichkeit auf, komplexe ortsspezifische Projekte zu entwickeln. Und das ist mittlerweile so ein Signature-Format von mir, was ich gerne für Kunstfestivals und Institutionen mache.
Aber zurück zum Anfang: Als ich 2012 in Kyoto war, habe ich zufällig Tatsuya Shimada kennengelernt, der dort sehr spezielle Events organisiert. Ich spielte ihm ein Album von mir vor namens „Voices Of The Dead“, in dem es keinen einzigen Beat gibt – und er fragte, ob ich mir vorstellen könnte, etwas im Honen-in Tempel zu machen. Sagte mir gar nichts. Also habe ich mir ein Fahrrad geliehen und bin in die Hügel, um mir das anzuschauen. Dort bin ich dann sozusagen vom Sattel gefallen. Das ist ohne Frage der beeindruckendste Tempel in Kyoto, und da gibt es nicht wenige.
Der eigentliche Tempel-Innenraum ist meist für Besucher*innen geschlossen, und für mich wie auch das Publikum wäre das dann ausnahmsweise offen. Da war klar, dass ich da nicht irgendetwas spiele. Weil ich über Monate in der Stadt war, konnte ich immer wieder hin und mir überlegen, was ich dort einbringen will. Wir haben eine kleine Boutique-Manufaktur gefunden namens Sonihouse, die omnidirektionale Lautsprecher herstellt – die also kugelförmig Schall abstrahlen – und damit haben wir ein sehr spezielles immersives Klangbild aufgebaut, worin die Hörer*innen eintauchen können. Zugleich ist der Tempel zur Hälfte im Wald und die Seitenwände wurden herausgenommen, sodass sich eine enorme Soundkulisse zusammenfügt, mit Eulen und Bächen und allem drum und dran. Ähnlich maßgeschneiderte Arbeiten habe ich für das LACMA in L.A. gemacht – das erste elektronische Konzert dort – für das CCK Centrum in Buenos Aires, die Lorenzkirche in Nürnberg und für ein paar andere besondere Orte. Vielleicht ist dieses Format auch irgendwie eine Langzeit-Reaktion auf die Digitalisierung: Es gibt Orte und Zeiten, die sich nicht in ein File zwängen lassen.
Auch ein Projekt von dir war das Strom Festival in der Philharmonie Berlin. Was macht das Event für dich so besonders?
2019 erhielt ich ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte: ein Festival für die Philharmonie Berlin zu kuratieren. Dank des Hausorchesters dort ist das vielleicht der wichtigste Klassik-Bau in Europa, und den in Bezug zu setzen mit dem, wofür Berlin sonst so bekannt ist, war natürlich eine ganz große Herausforderung.
Als Kurator des Strom Festivals hast du eine beeindruckende Liste von Künstler*innen zusammengestellt. Was waren deine Kriterien bei der Auswahl der Acts und welche Vision hattest du für das Festival?
Die gleichen, mit denen die Philharmonie ihr restliches Programm bestreitet: individuelle Spitzenleistungen, gerne auch von historischem Ausmaß. Entsprechend spielt dort ein Juan Atkins, dem wir den Begriff „Techno“ zu verdanken haben, aber auch Leute, die seit ein paar Jahren bewiesen haben, dass sie herausragende Beiträge leisten – Upsammy, Nidia, Blawan. Es gibt zwei Bühnen und einen Saal mit Installationen. Ein Schwerpunkt ist immer der Große Saal, und dort finden die Dinge statt, die am meisten von so einem Ort profitieren. Berlin hat zwar mehrere tolle Konzertsäle, und es gibt viel großartige Musik, die ihre Wurzeln in Techno hat, jedoch nicht zum Tanzen gedacht ist. Dass diese zwei Dinge in Berlin fast gar nicht zusammenfinden, ist ein Rätsel. Aber die Lücke füllen wir natürlich gerne. Highlights im Saal waren Ryoji Ikeda, Robert Henke, Kruder & Dorfmeister und die Philharmoniker selbst mit Simon Stockhausen. Das Gegengewicht ist der Floor, auf dem dann etwa Nina Kraviz oder KiNK oder Marcel Dettmann sehr überzeugende Sets gespielt haben. Wichtig ist, dass es Artists sind, die sich auf einen Ort einstellen können und nicht überall das Gleiche spielen. Da wurden bisher weder unser Publikum noch wir von jemandem enttäuscht.
Du hast gerade schon die Philharmonie angesprochen. Dort hast du das erste elektronische Konzert im Großen Saal gespielt und ein Album daraus gemacht. Wie hast du dieses Erlebnis wahrgenommen und wie hat das Publikum reagiert?
Eine große Hilfe dabei, das zu betreuen und auch selbst dort zu spielen, war sicher die vorhin beschriebene Erfahrung mit ortsspezifischen Konzerten. Die natürliche Umgebung für elektronische Musik ist schließlich eher der „Black Cube“ – also der rechteckige Clubfloor mit der PA in den Ecken. Der Große Saal ist das Gegenteil davon: Das Orchester sitzt in der Mitte und strahlt von dort in 360 Grad in den Raum, in dem das Publikum sich im Kreis verteilt. Die Philharmonie ist der Prototyp dieser Art von Konzertsaal, die fast alle neu gebauten Konzerthäuser übernommen haben.
Das ist also eine dieser Situationen, die offenkundig ein maßgeschneidertes Konzept erfordern. Ich habe Monate daran gearbeitet, um dafür den richtigen Ansatz zu finden. Die Schwierigkeit ist, Klang so zu gestalten, dass er aus Lautsprechern aus der Mitte in alle Richtungen geht, und dabei die Leute, die eine Stunde sitzen, mitzunehmen. In diesem Kontext war das Neuland. Auch wusste niemand vorher, wer da kommt. Anders als im Club gibt es keine Tür: Wer ein Ticket hat, ist drin. Gut, dass es die Aufnahme gibt, weil ich damit am besten erklären kann, wie es mir dabei ging. Es gab einen mutmachenden Willkommensapplaus, dann kamen sofort die Visuals, die Javier Benjamin für mich gemacht hatte. Ab da lag der Saal aus meiner Bühnensicht fast komplett im Dunkeln. Dann war es eine Stunde lang extrem still – abgesehen von der Musik natürlich. Weil ich aber live spielte und all diese Geräte bedienen musste, gab es für Panik keine Zeit. Erst am Ende explodierte dann fast das Publikum – das kann man in der Aufnahme ganz gut hören. Bis dahin wusste ich tatsächlich überhaupt nicht, ob das, was ich mache, komplett an den Leuten vorbeigeht. Das ist auch ein Unterschied zum Club, wo man ja immer in Echtzeit mitbekommt, wie die Musik aufgenommen wird. Und dann kann notfalls sofort ein anderer Track retten. So ein Live-Set ist hingegen wie ein Tanker, bei dem man das Ruder herumreißt, und fünf nautische Meilen später passiert vielleicht ein bisschen etwas. Die Vorstellung, wie ich es gerne hätte, und das, was Leute genießen, die da hinkommen, lagen dann aber zum Glück ziemlich nah beieinander.
Seit 2005 bist du ein fester Bestandteil des Berghains. Wie hat sich die Clubkultur dort über die Jahre verändert und was macht den Club – abseits des ganzen Hypes – für dich so besonders?
Das ist der Gegenpol zur Philharmonie – die andere Institution der Stadt, die fast schon global zu definieren scheint, wie Architektur und Musik ineinandergreifen. Der Raum ist dabei die feste Gegebenheit. Die Musik und wie auf sie reagiert wird – das ist in Bewegung. Für mich ist es eine Art Zentralpunkt, an dem ich meinen Sound als DJ ausrichte. Ich bin kein monatlicher Resident, sondern spiele zwei- bis dreimal im Jahr dort. Was ich dann dort anliefere, bildet die Richtung ab, die ich überall anders für die nächsten Monate anstrebe. In dem Sinn ist das mein Maßstab. Und es spricht viel dafür, das so zu halten, weil ich das Gefühl habe, dass etwas, das im Berghain funktioniert, genauso in Beijing oder in Mexico City durchschlägt. Es ist schon bemerkenswert, dass dieser Ort so lange funktioniert. Ich sehe keine Ermüdungserscheinungen.
Deine Kolumne für den Berghain-Flyer war von 2011 bis 2020 sehr beliebt. Was hat dir das Schreiben dieser Kolumne bedeutet und wie hast du die Themen dafür ausgewählt?
Wenn die Türsteher unten mal eine ruhige Minute hatten, haben sie den Flyer durchgeschaut und dann war die Kolumne der einzige Text, der nicht das jeweilige Tagesprogramm erklärte. Ich habe oft Feedback bekommen und fand mich darin bestätigt, eher alternative Blickwinkel auf die große Sache zu bieten und ein wenig links und rechts am Üblichen vorbeizuschauen. Das musste einen Eigenwert haben und sich entsprechend unterscheiden von dem, was Social Media und Musikjournalismus bereits abdecken. Vor allem also: keine Tagespolitik, keine Empörung und keine Rezensionen der neuesten Platten. Mir schwebte etwas vor, das in etwa wie die Bücher von Malcolm Gladwell aufgebaut ist. Da gibt es Kapitel zu kulturellen Faktoren bei Flugzeugabstürzen, die Intuition von Feuerwehrmännern, Leukämieforschung und Ketchup. Mir fällt das Schreiben nicht direkt leicht und die Ergebnisse waren qualitativ gemischt, aber die Aufhänger und Blickwinkel gab es in der Zusammensetzung vermutlich nicht überall. Mir hilft es, Dinge klarer zu sehen, wenn ich sie aufschreibe. Die Kolumne war dadurch ein regelmäßiger Anlass, neue Ideen in eine brauchbare Form zu bringen.
Trotz deiner experimentellen Projekte spielst du oft klassische Techno-Sets. Was ist es, das dich immer wieder zu diesen 100%-Techno-Sets zurückkehren lässt?
Ich glaube, mein Thema sind „die unendlichen Möglichkeiten von Techno“. Wenn ich Dinge mache, wie eine Platte mit leeren Endlosrillen zu veröffentlichen, oder eine, die nur aus Reverb besteht, dann interessiert mich das letztlich nur, weil sie Aspekte eines Kerns ausleuchten, bei dem sich alles um die Gravitation einer Bassdrum dreht. Letztlich gibt es nicht Besseres, als mit einer enthusiastischen Meute einen knallenden Beat und einen straffen Bass gemeinsam zu feiern. Für mich ist der Track – als Gegensatz zum Song und zu anderen Formen – eine überwältigend attraktive Erfindung. Und die Gemeinschaft, die das für eine Nacht schafft, in der Menschen zusammenfinden, die sich sonst vielleicht wenig zu sagen hätten, ist ein toller Nebeneffekt von Musik, die einfach zu laut ist, um ernsthafte Gespräche zu führen. Der Witz ist, dass man sich hier nicht beschränken muss und einfach alles machen kann, wonach einem der Sinn steht. Techno und Kunst sind 2024 für niemanden ein Widerspruch mehr.
Dein neues Album „Alluvium“ erkundet strukturelle Wege für Maschinenrhythmen in unregelmäßigen Metren. Was hat dich dazu inspiriert, dich auf diese Art von Polyrhythmik zu konzentrieren? „Alluvium“ ist das dritte Album in einer Serie, die sich mit metrischer Asymmetrie beschäftigt. Wie unterscheidet sich „Alluvium“ von seinen Vorgängern „Veiki“ und „Vector Rituals“?
Es gibt unendlich viel zu sagen mit einem 4/4-Beat, aber es ist auch unendlich viel schon gesagt worden. Deshalb hatte ich vor einiger Zeit angefangen, dieses Grundmuster auseinanderzunehmen. „Veiki“ ist ein Album mit asymmetrischen Taktarten – das sind Beats, die nicht in 4/4 passen – was aber auch ziemlich gut tanzbar ist, wie ich herausgefunden habe. Mich interessieren keine Schreibtischkonstrukte, sondern nur, ob Dinge am Ende sinnvoll neuartig klingen. Was ich dabei recht hilfreich fand, ist, mir nicht zufällige Rhythmen auszudenken, sondern Muster zu nehmen, die sich anderswo bewährt haben. Etwa bulgarische oder griechische Musik – dazu tanzen Leute seit ein paar tausend Jahren, also ist die Funktionalität bereits bestätigt. Der logische nächste Schritt war zu schauen, wie das klingt, wenn man mehrere davon schichtet – „Alluvium“. „Vector Rituals“ hingegen verbiegt das zugrundeliegende Raster selbst und verflüssigt sozusagen Zeit. Das ist dann in anderen Bewusstseinszuständen tanzbar.
Im Album kombinierst du verschiedene nicht-binäre Muster, die gleichzeitig ablaufen und sich zu polyrhythmischen Strukturen verweben. Kannst du den kreativen Prozess hinter der Entwicklung solcher komplexen rhythmischen Muster näher erläutern?
Viele Techno-Tracks haben ein 3-über-4-Muster, einer der am weitesten verbreiteten Polyrhythmen. Das ist quasi die Standardeinstellung von Delays zum Beispiel. Ich fand es dann ganz interessant, 7-über-9 und Ähnliches auszuprobieren. Das Beste ist, man muss gar nicht wissen, was da genau passiert und man muss auch nicht mitzählen. Man kann es auch einfach fühlen.
Wie beeinflusst die Verwendung von asymmetrischen und polyrhythmischen Strukturen die Hörerfahrung im Vergleich zu traditionelleren, geradlinigen Rhythmen?
Die asymmetrischen haben für mich ein Versprechen eingelöst, das Breakbeats immer inhärent war, aber aus meiner Sicht dort nie eingelöst wurde. Es gab da krachende Breakbeats und als Nächstes sofort Autechre. Im Graben dazwischen hätte es etwas prägnant Tanzbares geben müssen – aus irgendeinem Grund gab es das aber praktisch gar nicht. Unerklärlich.
Ich glaube, wir haben die letzten Jahrzehnte in einem Sounddesign-Paradigma gelebt, in dem sich von 1980 bis etwa 2000 neue Syntheseformen und Effekt-Algorithmen die Klinke in die Hand gegeben haben. Es wurden daher auf einen begrenzten Vorrat von bewährten Strukturen sozusagen immer wieder neue Soundfolien aufgeklebt und vielleicht noch am Tempo gedreht. Das hat auch beeindruckende Dinge in die Welt gebracht. Aber damit, also mit Sounddesign allein, kommt man einfach nicht mehr weiter. Da kommen dann Strukturen ins Spiel, weil diese Tore zu anderen Erfahrungen öffnen. Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie mich Dinge umgehauen haben, in denen eine Entdeckung die nächste jagte. Das kann man auch im Nachhinein nachvollziehen. Drum ’n‘ Bass von 1995 bis 1999: Da wurde im Zeitraffer Geschichte geschrieben. Oder hör dir die wichtigsten drei Techno-Tracks aus jedem Jahr zwischen 1985 und 1996 an. Die Entwicklung ist enorm, etwa von Juan Atkins mit „No UFO’s“ zu Jeff Mills mit „The Bells“. Mit Letzterem stand, glaube ich, Techno konzeptionell fest, wie wir es heute noch kennen. Wenn man ein typisches Techno-Set von heute in eine Zeitmaschine steckt und nach 1985 zurückschickt, dann wäre das definitiv ein Future-Shock dort. Aber 1996 hätte man das bereits komplett einordnen können. Wenn ich also, statt mich der x-ten Verfeinerung des Standes von 1996 hinzugeben, Abriss und Neubau am Fundament betreibe, kann ich mich selbst in einen kleinen Sog begeben, der mich irgendwohin mitreißt, wo ich mich selbst noch nicht auskenne. Das scheint mir gegenwärtig der produktivste Ansatz zu sein.
Du beschreibst, dass das Album „jagged polyrhythmic magic“ biete. Wie arbeitest du daran, dass auch komplexe Strukturen trotzdem eine gewisse Magie und Hörbarkeit behalten? Was nehmen die Hörer*innen von „Alluvium“ bestenfalls mit, besonders im Hinblick auf das Verständnis und die Wertschätzung von Rhythmus und Zeit in der Musik?
Das kann ich nur indirekt beantworten. Verständnis ist nicht das Ziel meiner Arbeit. Ich versuche, mit der Einstellung zu leben, dass mir niemand etwas schuldet und dass es schlechte Strategie ist, raten zu wollen, was morgen am Markt funktionieren wird oder gar die eigene Arbeit daran auszurichten. Genau damit scheitern die meisten schließlich. Was ich tue, ist, Dinge freizuschaufeln, die bereits in der Sache selbst angelegt sind. Nur weil so viele in Techno mental investiert sind, haben dessen unangezapfte Potenziale eine Chance, einen gewissen sozialen Wert zu enthalten und einzulösen. Der realisiert sich dann je nachdem, wie schlüssig die Dinge am Ende sind. Aber ob das auf meine Musik zutrifft, müssen wirklich andere entscheiden. Ich vermute ansonsten, dass wir alle beides gleichermaßen genießen können: zum tausendsten Mal unser Lieblingsessen – und wir merken und würdigen durchaus, wenn das besonders gekonnt zubereitet ist – und etwas aus einer Küche, in der wir uns überhaupt noch nicht zurechtfinden. Am spannendsten sind vielleicht diese Übergänge, bei denen etwas Bekanntes und Geliebtes transformiert wird. Ich bin eher der Typ, dem es unmöglich wäre, immer das Gleiche zu machen, und der deshalb zu Koriander greift, wo das Rezept Basilikum vorschreibt. Aber ich bin halt auch kein Koch.
Aus dem FAZEmag 149/07.2024
Text: Lisa Bonn
Credits: Katja Ruge, Stephan Rabold
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