Nach sechsjähriger Album-Pause melden sich die britischen Big Beat-Pioniere The Prodigy mit einem Paukenschlag zurück: „The Day Is My Enemy“ ist ein lauter, fieser, frontaler Abgesang auf die elektronische Musik der Neuzeit – auf Superstar-DJs, EDM und Live-Sets aus der Konserve. Eine Entwicklung, die bei Liam Howlett & Co. nichts als Ekel und Wut evoziert. FAZE hat den 43-Jährigen in London besucht.
Und mit Genugtuung festgestellt: Der Keyboarder und Producer ist noch derselbe wie in den frühen 90ern – trotz Promi-Ehefrau, zwei Kindern, 25 Millionen verkaufter Tonträger und schicker Townhouse-Wohnung im Zentrum der englischen Hauptstadt. Deswegen trägt er Hoodie und Baggy-Jeans, beendet jeden zweiten Satz mit „you know what I´m saying“ und nutzt das Gespräch zu einem verbalen Rundumschlag. Ganz einfach, weil er mit dem Zustand der aktuellen Dance-Szene hochgradig unzufrieden ist, weil der Kommerz überhand nimmt und weil er die guten alten Zeiten vermisst, als elektronische Musik gleichzusetzen war mit Underground, Gegenkultur, Rebellion und Spaß. Aber eben nicht mit großem Geld, großen Egos und geringer Kreativität. Weshalb das Trio um Maxim Reality, Keith Flint und Liam mit seinem sechsten Album auch nur einen Ansatz verfolgt: Die Probleme und Unzulänglichkeiten beim Namen zu nennen und mächtig Dampf abzulassen.
Liam, „The Day Is My Enemy“ hat etwas von einer Kampfansage oder von einem Aufruf zu den Waffen – warum?
Es ist eine Reaktion auf unsere Umgebung. Denn es scheint so, als wäre die elektronische Musik von der Popmusik entführt worden. Einfach, weil momentan alles ein bisschen zu weich und zu glatt klingt. Und wenn das der Fall ist, muss eine Gegenreaktion stattfinden. Genau das ist dieses Album. Denn weil es kein anderer tut, bleibt es halt an uns hängen, mit etwas aufzuwarten, das ein bisschen auf Konfrontation gebürstet ist. Und dem stellen wir uns. Zumal es im Grunde nichts anderes als das ist, was wir schon immer getan haben – außer, dass die veränderte Musiklandschaft dieses Album noch ein bisschen härter und heftiger erscheinen lässt. Im Sinne von: Es ist kein Party-Album wie „Invaders“, sondern fokussierter – und einige Leute sagen sogar, es wäre wütender. Ich selbst würde eher den Begriff „brutal“ verwenden. Denn wir sind ja keine wütenden Menschen, aber die Musik ist definitiv eine Reaktion.
Hast du eine Erklärung, was bei der elektronischen Musik schiefgelaufen ist – warum alles so beliebig und gleich klingt?
Es ist seltsam. Denn vor zwei Jahren gab es noch eine aufregende Dubstep-Szene, in der wirklich was passiert ist. Aber es liegt in der Natur der Zeit, in der wir leben – eben mit dem Internet. Da bekommen neue Sachen einfach nicht die Chance, allzu lange präsent zu sein, ehe die Leute auch die letzte Kreativität aus ihnen heraussaugen. Und wenn eine neue Band auftaucht, muss sie direkt mit dem ersten Album einen Hit haben. Andernfalls hat sie kaum eine Gelegenheit, es bis Album Nummer 3 zu schaffen. Und früher, in den guten alten Zeiten, gab es noch Verträge über bis zu fünf Alben. So etwas existiert nicht mehr. Was eine Schande ist.
Hat diese Entwicklung mit den Superstar-DJs zu tun, die die Club- und Dance-Kultur in die Stadien und somit in den Mainstream transportieren? Ist das eine gesunde Entwicklung?
Zunächst einmal haben wir nichts gegen DJs. Wir kommen schließlich auch aus dieser Kultur – und deswegen bin ich der Meinung, dass wir das Recht haben, da Stellung zu beziehen. Und was wir in den letzten Jahren feststellen mussten, ist eine offenkundige Bequemlichkeit, die gewisse DJs an den Tag legen. Ihnen geht es nur noch darum, mit den Armen durch die Luft zu fuchteln statt gute Musik zu machen. Was bei unserem Track „Ibiza“ für einen extrem giften Text gesorgt hat. Und das ist kein Angriff auf die Insel an sich. Wir waren da im letzten Sommer und hatten eine tolle Zeit – aber wir haben auch viel beobachtet, worüber ich mich mit Jason von den Sleaford Mods unterhalten habe. Als Reaktion darauf haben wir diesen sarkastischen, aber doch lustigen Text geschrieben. Wobei wir normalerweise nicht viele Kollaborationen auf unseren Alben haben. Doch auf diesem Track mit Jason zu arbeiten, war allein deshalb wichtig, weil er prima zum Album passt. Und weil Jason eine Ergänzung zu Keith, Maxim und mir darstellt. Dagegen gibt es keinen Grund, mit Leuten zu arbeiten, die dasselbe machen wie wir. Wir ziehen es vor, wenn da jemand eine andere Dimension einbringt. Weshalb wir auch einen Track mit Josh Flux Pavilion und KillSonik gemacht haben – junge Produzenten, die ein paar spannende Kleinigkeiten bei „Wild Frontier“ eingebracht haben –, was eine gute Erfahrung war. Zumal es doch so ist: Wenn du viel Zeit alleine im Studio verbringst und immer wieder an derselben Musik rumtüftelst, brauchst du manchmal jemanden, der einfach den einen oder anderen kleineren Part hinzufügt, der den Track abschließt oder ihn gleich viel besser klingt lässt. Von daher bin ich jederzeit offen für solche Sachen. Aber ich mag es nicht, mit Leuten zu arbeiten, die zu berühmt sind.
Dem britischen „Guardian“ hast du ein Interview gegeben, in dem du zwar keine Namen nennst, aber über DJs herziehst, die nicht live auflegen, sondern nur ein vorproduziertes Set abspulen. Ist das inzwischen gang und gäbe?
Das scheint heute wirklich normal zu sein. Ich meine, die Geschichte dahinter ist, dass ein Typ, der als Lichtmensch für uns arbeitet, auch bei einigen DJs aushilft. Ich nenne da bewusst keine Namen. Aber er hat uns erzählt: „Ich spiele das Set für einen bekannten DJ.“ Was ich erst nicht glauben konnte: „Wie meinst du das?“ Und darauf er: „Nun, er hat es komplett zu Hause vorproduziert.“ Ich hielt das erst für einen Witz, aber es stimmt: Er hat das Licht für diesen DJ gemacht und gleichzeitig dessen Musik abgefahren. Was verrückt ist und einfach zu weit geht. Sind wir wirklich an dem Punkt, wo Leute nichts mehr live machen? Darüber hatte ich neulich auch ein gutes Gespräch mit Sven Väth. Wir waren zusammen auf Australien-Tour, und er ist jemand, den wir sehr respektieren, weil er ein DJ alter Schule ist. Also jemand, der wirklich noch Platten mixt. Und wir stimmten mit ihm überein – auch in Bezug auf den Zoff, den er mit David Guetta hatte. Da haben wir ihm alle Beifall geklatscht. Denn er ist wie wir und wir mögen ihn. Also Sven Väth – nicht David Guetta.
Wenn du die Ravekultur der späten 80er – die Zeit, in der ihr angefangen habt – mit dem vergleichst, was heute in den Clubs passiert, wie anders ist das?
Wir schnuppern da eigentlich nur noch rein, wenn wir auf Tour sind. Denn das sind die Momente, in denen wir ausgehen. Wenn ich zu Hause bin, höre ich gar keine Musik mehr. Das tue ich nur noch, wenn ich selbst welche schreibe. Aber daheim käme ich gar nicht auf den Gedanken, etwas aufzulegen. Und ich verspüre auch kein Verlangen, auf so etwas wie einen Rave zu gehen. Einfach, weil ich keine Lust mehr darauf habe und weil es mir nichts gibt. Das ist etwas, das wir uns für die Tourneen aufsparen. Dann checken wir bewusst bestimmte Clubs. Und es ist auch wichtig, das zu tun. Einfach, weil du als Produzent up to date sein musst. Gleichzeitig ist es aber auch sehr wichtig, um zu wissen, was du nicht tun willst.
Angeblich hast du weite Strecken des Albums zu einer Uhrzeit produziert, in der normale Menschen längst schlafen …
Ja …
Absichtlich?
Mit voller Absicht. Ich meine, ich war schon immer ein Nachtmensch. Und nachdem wir sechs Monate darauf verwendet hatten, den Gesang aufzunehmen, entschied ich mich für die letzten drei oder vier Monate nur noch nachts zu arbeiten. Ich bin dann gegen 18 Uhr im Studio aufgeschlagen, habe die Nacht durchgemacht und bin gegen fünf Uhr morgens nach Hause gefahren. Was allein deshalb wichtig war, weil unsere Musik erst dann richtig zum Leben erwacht. Sei es, weil wir all unsere Konzerte zu vorgerückter Stunde spielen, und weil mir das auch als eine ganz normale Umgebung zum Komponieren erscheint. Wobei ich die Tatsache liebe, dass es sich irgendwie anders anfühlt. Du schaust aus dem Fenster und das inspiriert dich zu etwas, was dir nie um neun Uhr morgens einfallen würde. Einfach, weil das Tageslicht etwas Krasses hat, das dir das Gefühl gibt, du wärest ein Buchhalter oder etwas in der Art. Und würde ich schon um die Zeit ins Studio gehen, bekäme ich nicht viel hin. Ich meine, das ist ja der Grund, warum ich nach einem Konzert immer noch schnell versuche, etwas zu schreiben. Also die beiden Optionen nach einem Gig sind entweder auszugehen oder sich ins Hotelzimmer zurückzuziehen und etwas mit dem mobilen Studio, das ich immer dabei habe, auszuprobieren.
Also um die Energie und das Adrenalin, die sich da angestaut haben, zu nutzen?
Es geht einfach darum, auf diesem natürlichen Hoch zu reiten. Denn bei mir hält das noch zwei oder drei Stunden nach einer Show an.
Es ist kein Geheimnis, dass London nachts von allen möglichen Tieren heimgesucht wird, die dort leichte Nahrung finden. Deshalb der Fuchs fürs Albumcover?
Ganz genau. Und Füchse waren schon immer auf Londons Straßen zu Hause. In der City gibt es jede Menge von ihnen. Keine Ahnung, wo sie schlafen, aber es sind meistens kleine Seitengassen. Und als ich um vier oder fünf Uhr morgens aus dem Studio kam, war da immer dieser kleine Fuchs, der einfach an mir vorbei gelaufen ist. Er muss also da geschlafen haben, wo mein Auto stand. Ich habe es nie herausgefunden, aber ich fand, dass er ein bisschen was von mir hat, denn er ist sehr aktiv und er macht, was er will. Er war genauso nachts unterwegs wie ich, als ich das Album geschrieben habe. Und ich hielt ihn für eine gute Metapher für diese Art von Nachtaktivität. Eben das Leben bei Nacht.
Stimmt es, dass du im Studio ausschließlich analoges Equipment verwendest?
Natürlich kommt bei der Weiterverarbeitung auch ein Computer zum Einsatz, aber ansonsten greife ich auf die Oberheims, die ARPs und all die alten Synthesizer zurück, die ich schon seit Jahren verwende. Denn dieses Equipment ist so etwas wie unser Markenzeichen. Deswegen greife ich bewusst darauf zurück. Auch als Reaktion auf diese Faulheit, die gerade in der Branche vorherrscht. Denn die Verfügbarkeit dieser ganzen High Tech scheint nicht gut für die Kreativität der Leute zu sein, die Dance-Musik komponieren. Sie tendieren alle zu denselben Computer-Synths. Und deswegen klingen sie fast alle gleich – selbst, wenn sie das nicht bewusst tun. Aber sie verwenden halt dieselben Hilfsmittel bei der Verarbeitung. Und das höre ich sofort. Was wiederum dafür sorgt, dass bei mir automatisch die Klappe runtergeht. Sobald ich etwas bemerke, das ich von einem anderen Track kenne, denke ich, dass diese Leute sich ein bisschen mehr Mühe geben sollten, um ihren eigenen, individuellen Sound zu finden.
Du hörst also, was die Konkurrenz verwendet?
Das höre ich sogar sehr genau. Wobei ich aber auch zugeben muss, dass sich da keiner ausnehmen kann. Also dass wir uns da alle ein bisschen schuldig machen. Das reicht zurück bis zu den Anfangstagen der Dance-Szene als jemand wie Joey Beltram mit diesem umwerfenden Hoover-Sound ankam. Ein ganz großes Ding in der frühen Dance- und Rave-Kultur, die wir alle übernommen haben. Von daher ist keiner frei von externen Einflüssen. Aber: Ich bin immer noch ganz aufgeregt, wenn etwas Neues passiert. Wenn ein neuer Sound oder ein neuer Track auftauchen, die das Zeug haben, die gesamte Szene zu verändern. Also wie Beltram mit „Mentasm“. Als die Platte 1990 oder 1991 erschien, war sie verantwortlich für gravierende Veränderungen in der Szene. Und genau das brauchen wir wieder.
Warum hast du für das Album geschlagene sechs Jahre gebraucht? Ist das in dieser schnelllebigen Branche nicht viel zu lang?
Nicht für uns! Denn das Merkwürdige an dieser Band ist, dass wir uns in einer Art Zeitkapsel befinden. Wir bewegen uns von Album-Zyklus zu Album-Zyklus, aber nicht von Jahr zu Jahr – wie jemand, der einem normalen Job nachgeht. Ich meine, einige meiner Freunde haben ganz normale Jobs. Und ohne ihnen zu nahe treten zu wollen: Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich viel jünger bin als sie. Einfach, weil mich die Band jung hält. Es ist schwierig zu erklären, aber es fühlt sich wirklich so an, als würden wir in einer Art Zeitkapsel stecken, die sich langsamer bewegt als meine Kumpel, die Börsenmakler oder was auch immer sind.
Trotzdem feiert ihr 2015 euer 25-jähriges Dienstjubiläum. Macht euch das zu einer Institution – zu den „Paten des Rave“?
Ich bin glücklich mit dem Titel. Also: Er ist OK. Und es ist als ob ich ihn brauche, aber auch dagegen kämpfe. Denn wir benötigen immer etwas, gegen das wir angehen können. Aber ansonsten obliegt es wohl Typen wie dir, mit so etwas aufzuwarten. Man bezeichnet sich ja schließlich nicht selbst so.
Und: Hat dir The Prodigy die Möglichkeit gegeben, exakt das Leben zu führen, das du dir immer gewünscht hast?
Das Leben, das ich führen möchte, besteht darin, Musik zu machen. Und das hat nichts von einem Job, sondern es ist das, was ich liebe – also warum aufhören? Ich meine, ich bin verheiratet, ich habe Kinder, aber ich bin eben auch Teil von The Prodigy. Das sind die Dinge, die mein Leben ausmachen.
Was erwartet uns auf der kommenden Tour? Werdet ihr – wie angedroht – einen echten Kampfjet auf die Bühne bringen?
Der ist abgestürzt und im Müll gelandet. Von daher wird es wohl eher ein Fuchs. (lacht) Das Kampfflugzeug-Konzept hat uns lediglich ganz am Anfang des Schreibprozesses geholfen, aber wir haben es verworfen, sobald wir andere, bessere Tracks am Start hatten. Und manchmal – wie bei „Invaders“ – ist es eben so, dass wir den Titel und das Albumcover schon von Anfang an haben und sie dann als Vorlage für alles Weitere dienen. Du schaust dir das an und während der Sessions malst du das Bild immer weiter aus. Bei diesem Album war es zunächst genauso, aber dann hat es sich exakt andersrum entwickelt. Und: Was dabei entstand, fühlte sich stärker an als das Kampfflugzeug-Konzept, das wir zunächst sehr mochten. Aber es passte besser zu den Tracks, die wir nicht verwendet haben. Und das waren einige… (lacht) / Marcel Anders
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