Sailor & I – Zwei Seelen in einer Brust

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Alexander Sjödin alias Sailor & I hat einen sehr ungewöhnlichen und abwechslungsreichen Werdegang hinter sich. Dass er Musiker werden wollte, das wusste der Schwede schon als Kind, der zahlreiche Instrumente beherrscht und eher zufällig im Musikzirkus gelandet ist – SoundCloud sei dank. „Tough Love“ löste ein Beben aus, „Turn Around“ – inklusive eines großartigen Âme-Remixes – trieb den Ausschlag weiter nach oben. Lässig kombiniert er seine Songwriter-Qualitäten mit elektronischen Beats, die wie ein Herzschlag seine Songs durchziehen. Irgendwo zwischen Melancholie, großen Pop-Momenten und dem Dancefloor. Letzterer war bis vor wenigen Jahren noch ein völlig fremder Ort für Sjödin – ebenfalls die dazugehörige Musik. Nicht die einzige Besonderheit in seiner Vita, die sich definitiv spannender liest als das, was letztens in dieser einen Nacht in Schweden passiert ist. Ein auf mehreren Ebenen außergewöhnliches Projekt und ein sehr außergewöhnliches Interview.

Sailor & I, da denkt man natürlich direkt an ein Duo und nicht an einen Einzelkünstler. Was steckt denn hinter dem Namen?

Er beschreibt meine Reise nicht nur als Künstler, sondern als Mensch generell. Das steckt in uns allen. Die zwei Persönlichkeiten, das Ich und das Es. Das, was wir machen, und das, was wir machen sollten. Wenn das eine Überhand nimmt, werden wir und unsere Mitmenschen kein angenehmes Leben haben. Man muss eine Balance finden und darum kämpfe ich täglich – was das Ganze sehr interessant macht, denn das Leben wäre langweilig ohne diesen Kampf.

Ein Projekt, das mehr als nur Musik für dich ist?

Ja, definitiv. Musik ist mehr als nur Musik für mich. Sie ist ein Prozess, der mir hilft, mit meinem Leben und seinen äußeren Einflüssen umzugehen. Sie ist auch eine Art Meditation. Man geht durch verschiedene Chakren, was sehr schmerzhaft sein kann, aber am Ende lohnt es sich. Ich brauche das für mich. Wenn ich keine Musik machen kann, fühle ich mich gestresst und ruhelos. Dieses Gefühl, das man hat, wenn man sieht, wie sich ein Kind über ein neues Instrument freuen kann, habe ich die ganze Zeit.

Wie ging es denn bei dir los mit der Musik?

Ich war um die vier Jahre alt, da hatte ich schon ein Skateboard und machte meine ersten Versuche damit. Und jeden Nachmittag kam damals eine Gruppe von 14- bis 16-jährigen Jungs durch unsere Nachbarschaft, auf ihrem Weg zu einer Rampe, die auf dem Schulgelände stand. Ich sah ihnen immer nach und wollte unbedingt dazugehören, weil das doch total cool sein musste. Tatsächlich sind sie eines Tages mal stehengeblieben und haben meine Eltern gefragt, ob sie mich nicht mitnehmen könnten. Irgendwie verrückt, wenn ich so im Nachhinein darauf zurückblicke. Aber dort lief natürlich Hip-Hop, da holte ich mir meine ersten Einflüsse ab. Meine ersten beiden Alben waren „Paul’s Boutique“ von den Beastie Boys und „Destroyer“ von Kiss.

Gibt es ein, zwei Alben, die dich nachhaltig geprägt haben?

Schwierig. Ich habe wirklich viele Alben in meiner Kindheit und Jugend aufgesaugt. Musik war für mich immer ein Fenster zur Welt. Ich muss erwähnen, dass ich nicht bei meinen biologischen Eltern aufgewachsen bin. Ich wurde adoptiert und hatte immer das Gefühl, dass ich in den Kontext, in dem ich aufgewachsen bin, nicht hingehörte. Da war die Musik meine Flucht und ich träumte von einem anderen Leben. Wir hatten nicht sehr viel Geld zu Hause, konnten nicht diese Reisen machen, die viele meiner Freunde machten. Aber meine Eltern gaben mir Instrumente. Und eines Tages, da war ich mir sicher, würde mich die Musik zu all diesen Plätzen führen, die ich damals nicht bereisen konnte.
Vielleicht sollte ich das mit der Adoption noch mal genauer erklären: Ich war sechs Monate alt, als mich meine Mutter zur Adoption freigab. Sie dachte, sie wäre nicht in der Lage, mich zu versorgen. Meine Adoptiveltern ließen sich scheiden, als ich sechs oder sieben Jahre alt war, ein Jahr später hatten sie beide neue Partner. Auf einmal hatte ich drei Mütter und drei Väter. Früher fand ich das eher toll, so eine große Familie zu haben, aber es hat auch nicht nur positive Spuren hinterlassen. Als ich zum ersten Mal Vater wurde und mein Sohn sechs Monate alt war, da sah ich, wie wichtig sein Bedürfnis nach einer Mutter und einem Vater ist, die ihn sich sicher und beschützt fühlen lassen. Und daher kam damals auch mein Gefühl, niemals zu Hause zu sein und die Musik als Fenster zur Welt zu sehen. Einer Welt, von der ich nichts wusste, in der ich das Drumherum um mich und auch mein eigenes Leben entdecken konnte.

Also war für dich schon sehr früh klar, dass du später als Erwachsener was mit Musik machen wolltest?

Ja, die Idee hatte ich seit jeher. Als kleines Kind habe ich schon immer gerne auf dem Klavier rumgehämmert. Das hat meine Mutter aber wahnsinnig gemacht, sodass sie mich davon abhielt. Das konnte ich natürlich gar nicht verstehen und war sehr traurig darüber. Und wenn man die ersten eigenen Versuche hinter sich hat, dann kommt man auf eine Musikschule. In Schweden kann jeder ein Instrument lernen und eine Musik- schule besuchen, man braucht dafür keine reichen Eltern. Das Problem damals war nur, dass die dort noch sehr altmodisch waren. Ich wollte E-Gitarre und Drums lernen, aber man fängt mit der Blockflöte an. Und dann kommt Violine oder eine klassische Akustikgitarre und wenn dann das Interesse noch nicht erloschen war, konnte man endlich was anderes spielen. Als ich mit der Geige anfing, nutzte ich die schon nach der zweiten oder dritten Stunde als Gitarre und spielte darauf was von Nirvana. Daraufhin durfte ich dann eher als erwartet mit der E-Gitarre anfangen.

Welche Instrumente beherrschst du heute?

Ich spiele Gitarre, Klavier, Schlagzeug, Bass, Keyboard und beherrsche auch viele Synthies. Als Kind hatte ich ein ganzes Band-Setup zu Hause – Gitarre, E-Gitarre, Schlagzeug und Bass –, das habe ich mit meinen Freunden benutzt und wir haben immer die Instrumente getauscht. Da lernt man viel über die verschiedenen Rollen in einer Band und darüber, wie man zusammenarbeitet. Heutzutage als Produzent und Musiker hilft mir das bei vielen Sachen.

Wann bist du denn mit elektronischer Musik in Kontakt gekommen?

Als Teenager mochte ich diese Art von Musik gar nicht, ich war total auf gitarrenorientierte Alternative- und Indie-Bands fokussiert. Nach der Uni hörten viele meiner Freunde elektronische Musik, das war in dieser Prä-EDM-Phase. Aber für mich war das nichts, ich sah da keine größere Bedeutung, keine Story. Ehrlich gesagt, als ich den Âme-Remix von „Turn Around“ zum ersten Mal gehört habe, dachte ich mir: Okay … Erst als ich durch meine Auftritte viel in Clubs und auf Festivals unterwegs war, erkannte ich die Qualität und die Größe des Remixes und dieser Art von Musik generell. Gleichzeitig fing ich auch an, in einem Studio zu arbeiten, in dem jede Menge analoge Synthies herumstanden. Da erwachte mein Interesse für diese Gerätschaften, die ich auch mittlerweile viel für meine Musik nutze.

Wie ging es überhaupt los mit Sailor & I?

Ursprünglich war das als Band geplant, um einfach mit ein paar Freunden zusammen Songs zu spielen. Jeder hatte welche geschrieben, aber letztlich blieben dann nur noch meine übrig als Repertoire. Wir hatten allerdings noch keinen Sänger, daher sang ich meine Songs erst mal selbst. Aber alle anderen mochten meine Stimme nicht, denn zu der Zeit war eher was Souliges im Stil von D’Angelo gefragt. Und damit kann ich eben nicht dienen. Ich merkte dann sehr schnell, dass es gar nicht so einfach ist, eine Band zu machen. Manchmal ist es sehr gut, wenn man die verschiedenen Schwächen und Stärken kombinieren und was erschaffen kann, das größer ist als die Summe der Dinge, aber oft ist es eben so, dass in diesem Kontext demokratische Strukturen nicht förderlich sind. Es muss schon jemand eine Führungsrolle übernehmen, nur manchmal wollen das alle machen. Ich habe mich dann von der Band getrennt und allein weitergemacht.

Wann hast du eigentlich mit dem Album angefangen?

Das war letztes Jahr im September/Oktober. Ursprünglich wollte ich nur ein paar EPs machen, aber ich merkte schnell, dass die Songs auch gut als Album zusammenpassen würden. Ich habe dann das Label gefragt und die waren einverstanden. Innerhalb von ein paar Wochen war ich dann fertig. Der Titel „The Invention Of Loneliness“ ist infolge meiner Bandauflösung entstanden.

Fällt es dir generell so leicht, Songs zu schreiben? Das ging ja in diesem Fall sehr glatt über die Bühne.

Jeden Tag, jede freie Minute verbringe ich damit, Musik zu machen, manchmal schaffe ich fünf bis sechs neue Songs in einer Woche. Manchmal brauche ich nur 15 bis 20 Minuten, um einen Song zu komponieren. Aber es braucht oft eine lange Zeit, den Kontext zu finden und den richtigen Zeitpunkt, um etwas zu veröffentlichen. „Tough Love“ habe ich sechs Jahre vor der Veröffentlichung geschrieben, „Turn Around“ sogar zwölf Jahre vorher. Wenn es dann so weit ist, nehme ich mir den Song vor und produziere ihn durch.

Wie kam es denn überhaupt dazu, dass du deine Musik veröffentlicht hast?

Eigentlich verspürte ich nie irgendein Interesse an der Musikindustrie. Ich liebte es einfach, zu Hause und für mich Musik zu machen. Es gab nie Pläne, meine Tracks an Labels zu schicken. „Einfach machen“ war die Devise – und eventuell würde sich ja irgendwann mal die Gelegenheit bieten, das professionell zu betreiben. Ich muss da jetzt ein wenig ausholen. Ich habe mal eine Zeit lang in einer Kaffeebar gejobbt, habe mich dann aber mehr in dieses Kaffeethema vertieft und als Berater für Restaurants sowie Cafés gearbeitet und auch Workshops veranstaltet. Damit habe ich ganz gut verdient, hatte aber nach zwei, drei Jahren keine Lust mehr. Ich brauchte eine neue Herausforderung. Ich bekam ein Stipendium an einer weltweit sehr renommierten Marketingschule. Dort lernte ich jemanden kennen, der eines der besten Studios in Schweden betreibt. Danach bekam ich ein Stipendium als Songwriter vom Swedish Arts Grants Committee. Da konnte ich dann Geld in Streicher für ein paar Songs – darunter auch „Tough Love“ – investieren, die mir der Bekannte aus der Marketingschule empfohlen hatte, in dessen Studio wir dann auch die Sessions aufgenommen haben. Letztlich habe ich „Tough Love“ dann auf SoundCloud hochgeladen, allerdings komplett ohne Erwartungen, ich wollte es vor allem meinem Freundeskreis präsentieren.

Aber was dann kam, hattest du dir bestimmt in deinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt …

Ich merkte sehr schnell, dass die zahlreichen Streams nicht nur von meinem Freundeskreis stammen konnten, und ich bekam auf einmal E-Mails von Labels, Managern, PR-Agenten. Alle witterten Morgenluft und sahen da das neue große Ding. Ich dachte mir nur: What the fuck is wrong? Ich habe mir dann etwas Zeit gelassen – Zeit genug, dass die Majors alle wieder abgesprungen sind, weil sie fürchteten, dass der Hype schon bald wieder vorbei sein würde. Und dann bin ich schließlich bei Black Butter Records gelandet.

Wie kam denn Life & Death ins Spiel?

Ich bekam eine E-Mail von Matteo von Tale Of Us. Die hätte ich fast gelöscht, ich kannte die Adresse ja nicht. Ich kannte auch Âme nicht, als mir die als Remixer vorgeschlagen wurden, und ich dachte anfangs auch, dass ich das nicht machen könnte, auf einem Dance-Label veröffentlichen. Aber ich sah doch recht schnell, dass das ein sehr seriöses Umfeld war, und sagte mir dann: Warum nicht?

Noch mal zurück zum Album. Wenn das schon so zügig fertig war und jetzt erst veröffentlicht wird: Juckt es da einem nicht in den Fingern, immer wieder etwas zu ändern, oder kannst du das ganz entspannt ruhen lassen?

Ich denke immer darüber nach, an irgendwelchen Songs noch was zu verbessern. Ich lerne ja nie aus, was die Musik angeht, und daher versuche ich auch, neues Wissen an altem Material anzuwenden. Das ist auch meine Neugierde, die mich da antreibt, weiterzumachen, zu hinterfragen und zu lernen. Aber ich muss mir dann auch irgendwann sagen, dass es genug ist. Die Geschichte ist erzählt.

Was steht in diesem Jahr noch an, wirst du auf Tour gehen mit dem Album?

Es wird einige Termine geben im Frühjahr und dann schauen wir mal, wie lange sich das zieht, denn eigentlich habe ich schon das zweite Album fertig und wenn das Label einverstanden ist, kommt das schon im Herbst. Und Material für ein drittes Album ist auch schon vorhanden.

KURZ & KNAPP

Mein erster Gig:
Daran erinnere ich mich sehr gut. Ich habe auf der Abschlussfeier meiner vierten Klasse „Smoke On The Water“ von Deep Purple gespielt. Ich spielte seit ein paar Monaten E-Gitarre und ich liebte es, sehr laut zu spielen. Ich mochte die Idee, dass die laute Musik in diesem Moment dazu führte, dass alle ihren Mund hielten, vor allem die Lehrer. Und dieser Moment, wo wir vor der ganzen Schule spielten, gab uns das Gefühl, dass wir für ein paar Minuten an der Spitze der ganzen Welt stehen würden – kein schlechtes Gefühl, wenn man neun, zehn Jahre alt ist.

Mein außergewöhnlichster Gig:
Der war in Tokio. So komplett anders, dass man in keinem Moment wusste, was einen erwartet.

Mein Lieblingssong:
„Peace Piece“ von Bill Evans. Gibt mir immer ein Gefühl von Hoffnung für die Zukunft.

Dieses Album höre ich zurzeit rauf und runter:
„Spirit Of Eden“ von Talk Talk

Stockholm:
Hier bin ich geboren worden und habe die meiste Zeit meines Lebens verbracht. Ich werde aber im Laufe des Jahres nach Berlin ziehen, um es mit der Reiserei einfacher zu haben und um meinen Söhnen eine dritte Sprache beizu- bringen. Ich bin schon etwas aufgeregt.

Damit starte ich jeden Gig:
Mit der Frage, wann ich starten soll, weil ich das immer vergesse.

Kein Konzert ohne diesen Drink:
Wasser

Aus dem FAZEmag 061/03.2017
Foto: Martin Falck