90s Intelligent Drum and Bass – Ron Wells über die goldene Ära

Mit atmosphärischen Pads, subtilen Melodien, Jazz-Elementen und einer allgemein emotionaleren Ausdrucksform entwickelte sich ab Mitte der 1990er-Jahre eine neue Variante des Jungle und Drum ‘n‘ Bass, die sich von der energiegeladenen, aggressiven Natur ihrer Urväter zu distanzieren wagte. Spricht man heute über die zentralen Figuren innerhalb dieser Musik, die unter den Begriffen „Intelligent Drum and Bass”, „Atmospheric Drum and Bass” oder „Ambient Jungle” bekannt ist, fallen einem wohl als Erstes der Londoner LTJ Bukem und sein ikonisches Label Good Looking Records ein, die in dem neuartigen Genre damals erste Maßstäbe setzen konnten. Zu den weiteren Pionier*innen des Genres zählt außerdem Ron Wells aka Jack Smooth, der als Earl Grey gemeinsam mit seinem Partner Paul Clarke einige wunderschöne Stücke („My Soul’s On Ice”, erschienen 1996 auf Rugged Vinyl Records) produzierte, die die zeitlose Nostalgie dieser so magischen Musik in ihrer Essenz unmissverständlich einfangen. Mit uns hat Ron Wells über jene goldene Ära gesprochen.

 

Hi, Ron. Du giltst als Pionier und Innovator eines damals völlig neuen (Sub-)Genres. Erzähle uns etwas zu deinen Anfängen.

Ich habe 1986 mit dem Musikmachen angefangen. House und Techno waren damals stark im Kommen und so begann auch ich 1989 mit dem Produzieren von Techno. Ich hatte mich insbesondere in jene Tracks mit Strings und Pads verliebt, da sie Emotionen in mir auslösten. Die Musik wurde dann im Laufe der Zeit immer schneller und irgendwann kamen Breaks hinzu, die die Geburtsstunde des Hardcore-Genres, des Vorläufers von Jungle und Drum and Bass, einläuteten. Ich fand daran Gefallen, hielt jedoch weiterhin an meinen Pads fest, da ich schon immer der Meinung war, dass der Kontrast zwischen ihnen sowie stimmungsvollen Riffs, den Drums und dem Bass die Essenz hochwertiger Tanzmusik bilden – unabhängig vom Tempo. Auf diese Weise bin ich beim Atmospheric Drum and Bass gelandet.

Wenig später hast du dann mit deinem Partner Paul Clarke das Projekt Earl Grey ins Leben gerufen, das 1997 leider viel zu früh eingestampft wurde. Ein paar Worte hierzu?

Earl Grey entstand als Ergänzung zu Fast Floor, einem Projekt, das ich für Musik abseits des Dancefloors ins Leben gerufen habe. Ich wollte mich da einfach breiter aufstellen. Da ich kein guter Keyboarder war, brauchte ich jemanden, der die Riffs und die Ideen, die ich summte, schnell einspielen konnte. Das beschleunigte den kreativen Prozess enorm und ermöglichte somit komplexere Musik. Ich unterschrieb wenig später bei Carl Cox‘ Ultimatum-Label und beim MCA-Verlag, aber im Nachhinein betrachtet klang ein Großteil der Musik zu sehr nach Underground, um große Stückzahlen verkaufen zu können. Zusammen mit der Geburt von MP3 erfolgte daraus das Scheitern des Projekts im Jahre 1997.

Gab es damals maßgebliche Einflüsse und Inspirationen oder hast du einfach „ins Blaue hinein“ Musik gemacht?

Ich habe im Grunde das gemacht, was ich machen wollte. Mein Studio Sound Entity (www.soundentity.co.uk/sound-entity-studio) wurde damals von vielen kreativen Leuten gebucht, sodass ich die Entwicklung des Hardcore-, Jungle- und Drum-and-Bass-Sounds jeden Tag miterleben durfte – das färbt natürlich auch auf dich ab. Abgesehen davon war der Haupteinfluss auf meinen Sound immer Kraftwerk, Electro, Techno und die anderen Synth-Acts der 70er- und 80er-Jahre.

Das Vereinigte Königreich ist eine der wenigen Regionen der Welt mit einer lebendigen Drum-and-Bass-Szene. Wie hast du die frühen Tage erlebt?

Die Zeit nach dem Split der Hardcore-Szene habe ich ausschließlich im Studio verbracht, ohne viel Kontakt zu anderen Künstler*innen gehabt zu haben. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, ins Speed at Mars London zu gehen, wo Fabio und LTJ Bukem die neuen (damals „Intelligent Drum and Bass“ genannten) Tunes spielten. Ich hielt es für wichtig, mindestens einmal im Monat dort einzutauchen, um die Club-Perspektive zu erleben.

Wie ist es heute um das Genre bestellt?

Ich denke, dass der atmosphärische Drum-and-Bass-Sound aktuell eine Renaissance erlebt, insbesondere dank Violet Nights Records (VNR). Es gibt aber noch viele andere Label und Artists, die einen hervorragenden Sound machen. Da dies der einzige Drum and Bass ist, den ich höre oder für den ich mich interessiere, kann ich mich nicht über andere Formen – wie zum Beispiel Liquid Drum and Bass – äußern.

Aus dem FAZEmag 138/08.2023
www.soundentity.co.uk