Andrea Oliva – Schweizer Taschenmesser

Wenn man bereits mit zwölf Jahren das DJing erlernt, dann steht einer erfolgreichen Laufbahn mutmaßlich nichts mehr im Weg. Diese These ist zwar nicht allgemeingültig, trifft aber zumindest auf den Schweizer Künstler Andrea Oliva zu, der sich im Laufe seiner nunmehr 25-jährigen Karriere einen exzellenten Ruf als Selector und Produzent erarbeitet hat. Die Dynamik, die der 40-Jährige im Studio und auf der Bühne regelmäßig an den Tag legt, sucht bis heute ihresgleichen und beschert dem Ibiza-Headliner nicht nur eine umfassende und vielfältige Diskografie, sondern auch eine globale Reputation, die ihn zu den hochkarätigsten Events rund um den Globus befördert: Vom Tomorrowland über das Sonus Festival bis hin zum eher undergroundigeren Sunwaves in Rumänien.

Doch auch wenn sein Werdegang mittlerweile nach ganz oben führt und der Schweizer aus der elektronischen Musik nicht mehr wegzudenken ist, bleibt der fußballbegeisterte Tausendsassa vor allem eines: auf dem Teppich. Oliva machte es sich schon immer zur Maxime, nicht sein Ego (so wie es leider mittlerweile viele aufstrebende Künstler*innen tun), sondern Musik und Kreativität in das Zentrum seines Schaffens zu rücken. Sinnbildlich hierfür steht nun das von ihm neu gegründete Label All I Need, das für ihn auch eine Philosophie und Lebenseinstellung beherbergt; es ist sein ganz persönliches Oeuvre, die Verwirklichung eines Lebenstraums und die Krönung von über zwei Dekaden des Engagements für Musik in all ihren Formen.

Durch All I Need will der stolze Besitzer von 30.000 Schallplatten (!) beispielsweise auch die Technologie für sich nutzen. Oliva ist sich des rasanten digitalen Fortschritts bewusst und deshalb gilt es, Streaming, soziale Netzwerke und neue Wege zur Verbreitung von Musik weiter auszubauen und zu erforschen. Indem er sich die Entwicklung der Musiktechnologie zu eigen macht, will er dafür sorgen, dass All I Need relevant und ein dauerhaftes Vermächtnis bleibt.

Ein Vermächtnis, das eine Menge Hingabe, harte Arbeit, Entschlossenheit und Geduld erforderte und nun bereit ist, endlich mit der Welt geteilt zu werden. Im großen Cover-Interview erfahrt ihr mehr über den sympathischen und bodenständigen Eidgenossen.

Hallo, Andrea. Wie geht es dir? Was hast du in den letzten anderthalb Jahren getrieben? Die Zeit steht ja nach wie vor fast still …

Mir geht es sehr gut, vielen Dank. Während der Pandemie habe ich viel Musik gemacht und konnte endlich wieder ausgiebig Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden in der Schweiz verbringen. Das hat mir sehr gefehlt.

Wo wir gerade schon dabei sind, haken wir diese elendige Pandemie mit der folgenden Frage doch schon einmal ab: Welche besonderen Momente hast du während dieses abgespeckten Event-Sommers erlebt?

Um ehrlich zu sein: Ich habe das Gefühl genossen, frei zu haben, ohne irgendwelche Party- oder „Karrieremacher“-Momente verpasst zu haben. Der Druck, ständig etwas leisten zu müssen, war nicht da und das habe ich als sehr befreiend wahrgenommen. Als es dann langsam wieder mit Auftritten losging, habe ich aber schnell realisiert, wie sehr ich es doch vermisst habe, unterwegs zu sein und meine Emotionen über die Musik auszudrücken. Auch die Leute aus der Szene wiederzusehen, war sehr schön. Noch ist alles sehr unsicher, aber ich spüre, dass wir uns langsam, aber sicher in Richtung Normalität zurückbewegen. 

Mein aktueller Lieblingstrack ist … „Paradise XX“ von James Kumo (Deetron Remix)

Du hast die freie Zeit auch genutzt, um dein brandneues Label All I Need auf die Beine zu stellen. All I Need beherbergt aber nicht nur das Label an sich, sondern auch ein Event-Segment und eine Modelinie – zwei Aspekte, die dich neben der Musik schon immer begeistert haben. Könnte man All I Need als dein Lebenswerk bezeichnen? 

Ich habe mit zwölf Jahren angefangen aufzulegen. Später habe ich Partys veranstaltet sowie im Plattenvertrieb und in Plattenläden gearbeitet. Darauf folgte meine internationale DJ-Karriere und das Produzieren meiner eigenen Musik: Ja, All I Need könnte man als mein Lebenswerk bezeichnen.

Jetzt meine eigene Marke zu haben, unter der ich meine Hauptleidenschaften verbinden kann, fühlt sich an, als würde sich der Kreis in gewisser Weise schließen. Es ist wie die sprichwörtliche Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Es hat mich schon immer fasziniert, meine eigene Marke zu haben, mit der ich eine bestimmte Botschaft transportieren und mich so ausdrücken kann, wie ich es möchte. Die Möglichkeit, dem Projekt Veranstaltungen hinzuzufügen, bietet mir zudem eine großartige Gelegenheit, den Menschen auf bestmögliche Weise etwas zurückzugeben. Indem ich Newcomer*innen unterstütze und sie zu den All-I-Need-Events einlade, hoffe ich, einen Beitrag zu ihrer Karriere leisten zu können. Ein bisschen so, wie Luciano es mit mir gemacht hat, als ich zu Cadenza kam.

Besonders stolz bin ich auf meinen Track … „Final String“, weil er so emotional ist.

Mit zwölf Jahren mit dem DJing anzufangen, ist tatsächlich verdammt früh. In dem Alter haben die meisten Kinder wohl noch ganz andere Sachen im Kopf. Wie kam es dazu, dass du schon so früh hinter den Plattentellern standest?

Da ich aus der Schweiz komme, stand ich auf die ganzen deutschen Helden wie Cosmic Baby, Jam & Spoon oder Sven Väth. Deren Vinyls konnte ich mir aber nicht leisten, also habe ich von meinem ersparten Geld immer diese billigen 10er-Packs im Vinyl-Geschäft gekauft – meistens in einer schwarzen Tüte, sodass die Leute nicht wussten, was man gekauft hatte. Aufgelegt habe ich dann anfangs ganz furchtbaren Kram aus den verschiedensten Genres, von Acid House bis Breakbeat und Hardcore. Quasi alles, was niemand kaufen wollte (lacht). 

Kommen wir doch noch einmal auf dein Faible für Fashion zu sprechen. Warst du schon immer ein Modeguru? 

Das Schöne an Mode und Musik ist, dass man seine Stimmung, seine Gefühle und sein Wesen ausdrücken kann, ohne ein Wort zu sagen! Sie definiert dich und verbindet dich mit anderen Menschen. Ich habe mich schon immer für Mode interessiert und mochte die Tatsache, dass man durch die Art und Weise, wie man sich kleidet, eine Aussage darüber machen kann, wofür man steht. Ich erinnere mich, dass ich, als ich in jungen Jahren mit elektronischer Musik in Berührung kam, mich wie die älteren Raver von damals kleiden wollte. Erinnert ihr euch an die großen Puma-Plateau-Schuhe oder Buffalos? Kombiniert mit einem langärmeligen Shirt und dem berühmten Smiley-Aufdruck auf der Vorderseite sowie einer dieser Kangol-Mützen war das für mich der Shit. Nun, damals wusste jeder genau, was für Musik gerade in deinem Walkman läuft (lacht).

Ich würde gerne mal gemeinsam einen Track produzieren mit … Thom Yorke

Für das erste Release auf All I Need sorgst du höchstpersönlich. Was kannst du uns über die Single „Final String“ sagen? 

Ursprünglich war „Final String“ als Closing-Track für unsere ANTS-Party im Ushuaïa auf Ibiza gedacht. Leider hat uns die Pandemie da einen Strich durch die Rechnung gemacht … Und weil wir auch in diesem Jahr keine Ibiza-Saison erleben werden, entschieden wir uns kurzerhand dazu, den Track parallel zum Label-Start zu veröffentlichen. Das Stück ist sehr kraftvoll und emotional. 

Generell pflegst du ja eine sehr innige Beziehung zur „Weißen Insel“, die durch die ANTS-Partyreihe und dich als Headliner im Ushuaïa nochmals zementiert wird. Was liebst du so sehr an Ibiza?

Ich liebe mein Heimatland Schweiz wegen … der vielen wunderschönen Kühe!

Das weiß ich gar nicht so genau, im Englischen würde man sagen: „It’s a natural thing!“ Ich fühle einfach eine starke Verbindung zu der Landschaft und den Menschen. Ibiza verfügt über eine ganz besondere Energie und es ist gleichzeitig ein Ort, der mich und mein Leben immens bereichert hat. Ich werbe für die Schönheit der Insel, wo immer ich hingehe. Das geht so weit, dass manche Leute denken, ich würde nur auf Ibiza spielen (lacht).

Spielen tust du tatsächlich auf der ganzen Welt. Tomorrowland, Sonus, Sunwaves, um mal einige der Festivals zu nennen, bei denen du bereits die Plattenteller verzaubert hast. Hinzu gesellt sich eine geballte Club-Erfahrung. So hast du unter anderem auch schon im Berghain/Panorama Bar gespielt. Gab es einen Auftritt bzw. einen Moment, der sich besonders eingeprägt hat?

Während meiner Karriere habe ich so viele herausragende Momente erlebt: Von meinen allerersten Auftritten vor Publikum in der Schweiz, zu meinem ersten internationalen Gig, zu meinem ersten Gig in der Panorama Bar, zu meinem ersten großen Festival bis hin zu meiner Ibiza-Residency oder meinen ersten Releases. Ich könnte so viele besondere Momente erwähnen und ich hoffe, dass ich noch viele weitere zu dieser Liste hinzufügen kann.

Mein Lieblingsessen ist … Pasta!

Du bist jetzt seit mehr als 25 Jahren in der Musikbranche tätig. Im Laufe deiner Karriere hast du einen individuellen Stil entwickelt, der sich durch eine große Ausdrucksfreiheit und lockere Genre-Konventionen auszeichnet. Woher kommen die Einflüsse, die Andrea Oliva geprägt haben?

Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich schon als Kind auf verschiedenste Musikrichtungen abgefahren bin. Ich meine, ich war ein großer Fan von Jam & Spoon und zur gleichen Zeit hörte ich Wu-Tang, Nas, Nirvana und Rage Against The Machine. All diese unterschiedlichen Einflüsse haben dazu geführt, dass ich der Musik im Allgemeinen sehr aufgeschlossen gegenüberstehe. Und das spiegelt sich folgerichtig auch in meinem Sound wider.

Erzähle uns doch etwas über deine Produktionsgewohnheiten. Bevorzugst du gewisse Tools oder Geräte? Wie gehst du an einen neuen Track heran? 

Jam-Sessions! Auch wenn ich mir in den letzten Jahren eine gewisse Routine angeeignet habe, um dem Prozess ein wenig Struktur zu verleihen. Andernfalls würde ich völlig durcheinandergeraten und ich würde mit einer Menge unfertiger Loops/Tracks enden. Wenn ich mit allem rund um die Rhythmus-Parts anfange, habe ich ein gewisses Fundament, auf dem ich weiter aufbauen kann. Wenn ich versuche, Melodien und Harmonien hinzuzufügen, bin ich in 99 Prozent der Fälle sowieso dazu gezwungen, den Groove zu löschen. Aber allein die Tatsache, dass ich eine Struktur habe, hilft mir, einen Ausgangspunkt zu haben, der mich letztlich weiterbringt. Ich habe tonnenweise Plug-ins, mit denen ich gerne arbeite, und dann stelle ich manchmal fest, dass nichts den Sound meiner physischen Moogs oder Drum-Maschinen schlagen kann. Aber dieses Dilemma ist eine ganz andere Diskussion.

Meine Top-5-All-Time-Favorites sind:

“Knights of the Jaguar” von DJ Rolando
“The Sky Was Pink” von Nathan Fake (James Holden Remix)
“Deep Burnt” von Pepe Bradock
“Finally” von Kings of Tomorrow
“Follow Me” von Jam & Spoon

Zum Abschluss noch etwas, was allen voran die Sportbegeisterten unter uns interessieren könnte. Kürzlich hast du ein Foto auf Facebook gepostet, das dich gemeinsam mit den legendären brasilianischen Stürmern Neymar und Ronaldo zeigt. Wie kam das zustande und welchen Fußballclub supportest du?

Ich bin ein großer Fußballfan des AC Milan, genau wie meine gesamte Familie. Ronaldo kenne ich jetzt schon seit einigen Jahren und wir sind echte Freunde geworden. Es scheint, als könnte ich mich leicht mit brasilianischen Spielern connecten, denn sie genießen das Leben, Musik und Freundschaft – genau mein Vibe! Aber auch im Allgemeinen liebe ich warmherzige, passionierte Menschen, egal, was sie tun und woher sie kommen!

„Final String“ ist seit dem 20. August auf All I Need erhältlich. Hier geht es zu allen Streaming- und Downloadlinks.

 

Aus dem FAZEmag 115/09.21
Text: Milan Trame
www.instagram.com/andreaoliva1
www.soundcloud.com/andreaoliva