Andrey Sirotkin – Elektronisches Kriegstagebuch

Andrey Sirotkin schreibt Tagebuch. Kriegstagebuch. Seit dem russischen Angriff auf sein Heimatland Ukraine dokumentiert der DJ und Produzent in regelmäßiger Form die Geschehnisse und schreibt zu jedem seiner neuen Releases einen kurzen Text über die jüngsten Ereignisse. Wir haben ihn zu seiner aktuellen Situation befragt.

Hey, Andrey. Erzähl uns etwas über deine derzeitige Lage.

Ich befinde mich derzeit in Kiew. Die Situation ist ziemlich instabil und setzt den Menschen physisch, psychisch sowie finanziell sehr zu. Vor zwei Monaten hatte ich noch das Gefühl, dass sich die Lage etwas entspannt hat, aber dann gab es wieder regelmäßige Angriffe mit Drohnen und Raketen. Viele Leute, die ich kenne, wurden hierbei getötet oder verletzt.

Eintrag vom April: „Meiner Familie in Kiew geht es weitestgehend gut. Ich musste meine Frau und Tochter an einen sicheren Ort bringen, also habe ich die Hauptstadt verlassen.“

Mit den Tracks, die du seit Kriegsbeginn veröffentlicht hast, führst du eine Art Kriegstagebuch. Was bedeutet die Musik für dich in diesen Zeiten?

Musik ist für mich die Flucht aus schwierigen Situationen und das führende Licht, das mir Kraft gibt, um voranzukommen. Früher habe ich von Orten, Dimensionen und Szenarien geträumt, die ich durch meine Musik erlebe. Jetzt ist meine Traumwelt die „normale“ Realität, nach der ich mich sehne.

Eintrag vom Juni: „Mir geht es gut, falls man das so nennen kann. Die Sirenen des Fliegeralarms tönen durch Kiew.“

Wie ist es um die elektronische Musikszene in Kiew derzeit bestellt?

Trotz Ausgangssperre herrscht viel Bewegung. Einige der Events sind mit Wohltätigkeits- oder Spendenideen verbunden, um unseren Streitkräften und Helfer*innen Unterstützung zu gewähren. Viele Menschen sehen in den Tanzveranstaltungen eine Art Therapie, wo sie ihren Gefühlen wie Trauer oder Wut Ausdruck verleihen können.

Eintrag vom November: „Ich sehe meine Katze an, deren Schnurren übrigens am Ende des Tracks zu hören ist, und denke an all die Haustiere, die durch den Krieg zu Schaden gekommen sind – ohne Zuhause oder Unterkunft, von ihren Besitzer*innen ausgesetzt und ohne Futter.“

Ein ausführliches Gespräch mit Andrey Sirotkin über seine Lage in der Ukraine findet ihr im Blog von Ableton.

Aus dem FAZEmag 130/12.2022