Anna Tur – Fokus

Es gibt Momente im Leben, in denen selbst die längsten, als natürlich empfundenen Zyklen ein Ende finden. Hinter der nicht selten vorherrschenden Ungewissheit für die Zeit für das Kapitel danach sind oftmals größere, schönere und bezauberndere Momente verborgen, als man sich vielleicht hätte vorstellen können. Genau so könnte man die Geschichte von Anna Tur beschreiben. Ganze 16 Jahre lang war sie CEO von einem der größten Radiosender weltweit – Ibiza Global Radio. Ins Leben gerufen hatte den Sender einst ihr Vater. Umso emotionaler war es, den bewussten Entschluss zu fassen, diesen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen und sich voll und ganz auf die eigene Karriere zu fokussieren. Als wir zuletzt mit Anna Tur sprachen, war Covid-19 noch unbekannt, geschweige denn die dazugehörige Pandemie. Was sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlt, ist fünfeinhalb Jahre her. In dieser Zeit haben sich nicht nur die Szene und ihr Sound entwickelt, auch Anna Tur hat in ihrer Karriere die nächsten Level erreicht. Sie hat ein neues Label gegründet, verbringt sehr viel Zeit im Studio und auch privat gibt es Neuigkeiten. Mitte September erscheint auf Armada ihre Interpretation des legendären Tracks „Discohopping“ von den Klubbheads. Es gibt also gute Gründe, ein ausgiebiges Gespräch zu führen.

Anna, schön, dass wir nach unserem letzten Interview im Januar 2018 wieder sprechen. Wie geht es dir und wie ist die Saison auf Ibiza?

Hallo, zusammen! Ich hoffe, es geht euch allen gut dort. Ja, es ist lange her seit unserem letzten Gespräch und bei mir hat sich eine Menge getan. Ich freue mich sehr, dass wir endlich wieder quatschen und dann auch noch zu solch einem besonderen Anlass im Rahmen der Cover-Story, ich fühle mich extrem geehrt. Die Saison auf Ibiza ist sehr gut. Die Insel ist so angesagt, dass sie quasi jedes Jahr Besucherrekorde knackt und es dementsprechend auch viele Angebote hier gibt.

Du bist eine waschechte Ibizenkerin und in einer Art Radiofamilie aufgewachsen. Was hat dich damals an diesem Format besonders fasziniert?

Ja, in der Tat. Meine Eltern haben sich beim Radio kennengelernt und verliebt. Sie waren sehr jung und voller Leidenschaft bei ihrem Job. Sie gründeten quasi eine Familie rund ums Radio. Ich bin das älteste meiner Geschwister und meine Mutter machte ihre Morgensendung mit Pop-Rock aus den 80er-Jahren, bis wenige Stunden vor meiner Geburt. Ich hatte das große Privileg, in einer Familie aufzuwachsen, die mütterlicherseits sehr kreativ und väterlicherseits sehr unternehmerisch war. Von klein auf wusste ich, dass ich so werden wollte wie sie. Ich begleitete sie oft zum Radio und verbrachte sehr viele Stunden dort. Es war aufregend, meine Mutter am Mikrofon sprechen zu sehen und auch zu erleben, wie mein Vater die ganze Struktur mit einer großen Passion leitete und damit sein ganzes Team ansteckte, das ihm wie einem Anführer folgte.

Welche Musik bzw. Artists waren dabei deine größten Einflüsse?

Ich habe mich schon immer für Musik begeistert und bin mit Queen, Prince, Madonna, David Bowie, Michael Jackson, Tina Turner und Co. aufgewachsen. Natürlich beeinflusst von dem, was wir zu Hause und im Auto hörten. Mein erstes Fan-Phänomen entstand mit Take That, Linkin Park, Black Eyed Peas und den Backstreet Boys im Teenager-Alter, haha. Bald darauf wurde ich sehr von elektronischer Musik beeinflusst, vor allem von Trance und House-Musik, die in meiner Welt perfekt koexistieren. Es gab mehrere Künstler*innen, die mich dabei extrem beeinflusst haben, den Schritt an die Decks zu wagen. Dazu zählen zweifelsfrei Luciano, Carl Cox, Laurent Garnier und sehr angezogen wurde ich auch vom Balearic Sound, einem sehr charakteristischen Sound hier auf der Insel.

Du hast 16 unglaubliche Jahre als CEO von Ibiza Global Radio verbracht, einem der erfolgreichsten Radiosender weltweit. Wie würdest du diese Reise beschreiben? Nicht nur für dich als Künstlerin, sondern auch für dich als Mensch.

Wow, wenn ich jetzt über Ibiza Global Radio spreche, scheint das plötzlich so weit weg zu sein. Vielleicht, weil ich es geschafft habe, diesen Kreislauf in meinem Leben komplett zu schließen – und ich glaube, ich kann jetzt sagen, dass ich auf gewisse Weise viel glücklicher bin. Aber man sollte seine Wurzeln ja in keinster Weise verleugnen. Für mich war diese Marke alles. Der wohl wichtigste Grund dafür ist, dass sie von meinem Vater, Joan Tur, gegründet und erschaffen wurde. Ich bin während meines Studiums in Barcelona dazugestoßen und nach meiner Rückkehr wurden der echte Salamander und das Konzept, das bis heute besteht, kreiert.

Während all dieser Zeit haben mein Team, von dem leider niemand mehr dabei ist, und ich das Unternehmen an die Spitze gebracht. Aber es stimmt, in letzter Zeit haben sich viele Dinge geändert. Zunächst habe ich meine Anteile am Sender verkauft und bin als CEO im Amt geblieben, allerdings begannen sich die Dinge auf eine Art und Weise zu verändern, die mir nicht gefielen. Ich war es leid, permanent die Prinzipien und Werte des Unternehmens zu verteidigen, die sich plötzlich ändern sollten. Also wurde dieses Tau zerrissen. Und jetzt bin ich, wie gesagt, glücklicher damit, meinen eigenen Weg zu gehen und mich auch ganz meiner künstlerischen Seite widmen zu können. Ich habe meine Position beim Sender sowie meine Karriere als Künstlerin immer differenziert und getrennt behandelt, was natürlich nicht nur sehr zeitintensiv, sondern auch sehr erschöpfend war. Ohne Liebe und Passion hätte dies niemals funktioniert.

Wie schwierig war es, dieser Ära ein Ende zu setzen?

Die Realität war sehr entmutigend, nicht zuletzt aufgrund des Alltags vor Ort, in dem ich um geschäftliche, aber auch um menschliche Prinzipien kämpfen musste, die ich einst von meiner Familie in die Wiege gelegt bekommen hatte. Hinzu kam auch die Pandemie. Das Ende eines solch langen Kapitels war sicherlich schmerzhaft, aber ich bin erhobenen Hauptes gegangen. Ich habe mein Team und die Werte der Marke bis zum allerletzten Moment verteidigt. Ich lebe jetzt glücklicher und genieße es, den Fokus auf mich und meine Karriere zu legen.

In eben diesen letzten Jahren hat sich dein Sound gefühlt weiterentwickelt und du bist unglaublich vielseitig in Bezug auf Stil, Vibe und sogar Tempo. Wie würdest du deine Entwicklung beschreiben bzw. was waren deine größten Einflüsse dabei?

Danke, ich empfinde das als Kompliment und sehe das genauso. Ich befinde mich in einem sehr schönen und kreativen Moment. Ich fühle mich sehr inspiriert und denke, mein Publikum spürt das. Ich bin ja nun schon seit 2010 ein professioneller DJ. Davor habe ich mich nur dem Radiomachen inklusive Management gewidmet. Ich habe zehn Jahre lang beide Berufe miteinander kombiniert und fühlte mich als DJ immer irgendwie wohler. Mein künstlerisches Profil hat dann, vor allem ab 2018, einen großen Sprung gemacht und ich denke, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht.

Das Spiel des Schicksals hat sich in diesem Fall auf sehr positive Weise erfüllt und ich bin stolz darauf, in der jetzigen Position zu sein. Ich arbeite hart daran, eine immer bessere Künstlerin und ein besserer Mensch zu werden. Ich habe Zeit, mich voll und ganz meiner Karriere zu widmen, an meinem Mindset zu arbeiten, meine Produktionen zu perfektionieren, Zeit, um Musik auszuwählen, zu kreieren und mich erfüllt zu fühlen. Ich weiß genau, dass dieser Beruf einer Achterbahn gleicht: Heute bist du oben, aber schon morgen kannst du ganz unten sein. Deshalb versuche ich immer zu wissen, wo ich stehe und arbeite sehr hart daran, ein gewisses Level zu halten.

Im Juli 2021 hast du dein neues Label Lowlita Records gegründet, das Ende Juli seine 14. Veröffentlichung erreicht hat. Welche Philosophie verfolgst du dabei und wie abenteuerlich ist es für dich, nach Illusion Music ein zweites Label zu betreiben?

Ich habe das Gefühl, dass dieses Projekt zu einem entscheidenden Zeitpunkt und mit den perfekten Partnern geboren wurde. Als wir es im Sommer 2021 beschlossen hatten, war die Clubbing-Saison auf Ibiza wegen des Corona-Virus und der von der Regierung der Balearen angeordneten Einschränkungen gelaufen. Während andere Reiseziele ihre Türen für den Tourismus öffneten, sollte Ibiza geschlossen bleiben. Das war ein schrecklicher Moment für die gesamte Branche und auch für den Tourismus- und Gaststättensektor. Unsere Machthaber*innen dachten, dass dies der perfekte Moment sei, um das Tourismusmodell der Insel komplett zu ändern, aber sie lagen falsch. Sie waren sich nicht bewusst darüber, wie wichtig unsere Branche für die Insel ist, und das hat sich bei der Öffnung der Clubs und Hotels in der Saison 2022 gezeigt. Wir sind nicht nur zur früheren Realität zurückgekehrt, sondern die Zahl der Tourist*innen auf der Insel und die Investitionen der Unternehmen sind deutlich gestiegen. Sorry, dass ich so vom Thema abgewichen bin. Aber genau diese ganzen Faktoren haben damals dazu geführt, dass wir das Label initiiert haben. Nicht nur, um Musik zu machen, sondern, um gemeinsam ein Projekt zu starten und ein Label zu gründen, in dem wir nicht nur unsere Produktionen, sondern auch die Werke talentierter Künstlerinnen und Künstler veröffentlichen können, unabhängig von ihrem Ruhm oder Status.

Lowlita lebt nur Talent und gute Musik. Wir arbeiten mit sehr interessanten Künstlern zusammen, die wir mit unserer Philosophie und unserer Art, Musik zu verstehen, identifizieren können. Illusion Music ist ein Teil meiner Vergangenheit und auch des Zyklus, den ich beendet habe. Also war es das Beste, auch dort einen Schlussstrich zu ziehen und mich mit meinen Partnern Gonçalo und Hosse in neue Abenteuer zu stürzen. Der Name für das neue Label kommt von Lolita, meinem Hund. Sie hat viele Stunden mit uns in meinem Studio verbracht. Es ist unglaublich, wie gerne sie an meinen Füßen liegt, wenn wir an Musik arbeiten. Eines Tages, als wir über Namen nachdachten, während wir an einer Komposition arbeiteten, fragten wir sie und sie schaute uns mit einem sehr mitfühlenden Gesicht an. Also war der Name Lowlita Records geboren.

Foto: Mario Pinta

Der 15. September wird ein besonderer Tag sein, denn an diesem Tag erscheint dein Remix zu Klubbheads legendärem Stück „Discohopping“.

Das Projekt entstand eines Tages, als ich nach Techno-Klassikern suchte, die ich damals als junge Clubgängerin hörte. Songs, die mich zum Vibrieren brachten und mir Spaß und unvergessliche Momente auf dem Dancefloor bescherten. Eines Tages fing ich an, von dem Track einen Edit für mich selbst zu machen, ohne jede Vorgabe, nur um ihn in meinen Sets zu spielen. Ich sah sofort die positiven Reaktionen auf dem Dancefloor, sowohl bei der neuen als auch bei der alten Generation, also beschloss ich, weiter daran zu arbeiten. Als ich vollends zufrieden war, habe ich Armada und den Klubbheads das Resultat vorgestellt. Sie fanden es toll und am 15. September wird meine Version auf allen Plattformen erhältlich sein. Ich hoffe, euch gefällt es genauso wie mir.

Lass uns über deine Shows sprechen. Du hast in vielen bekannten Clubs und Venues gespielt, in Deutschland in Clubs wie dem Bootshaus in Köln, dem Kit Kat in Berlin oder im Zimmer in Mannheim.

Meine Connection zu Deutschland ist schon seit meinen frühen Anfängen als DJ sehr gut. Als ich noch beim Radio war, wurden wir oft eingeladen, um hier zu spielen. Das Radio hatte eine große Audienz in Deutschland. Später habe ich immer wieder in Deutschland gespielt, in den letzten Jahren in unglaublichen Clubs wie den eben genannten. Ich liebe das deutsche Publikum und die riesige Szene in dem Land. Deutschland war schon immer das Mutterland für Techno und für sehr wichtige Festivals. Ich liebe es, dort zu spielen. Ich kenne Deutschland von Norden bis Süden und ich hoffe, dass ich noch viel mehr kennenlerne.

Auch deine Heimat Ibiza ist eine absolute Referenz in der Szene und im Sommer die Top-Destination in Sachen elektronische Musik. Wie würdest du den aktuellen Status quo der Szene auf der Insel beschreiben?

Ibiza hat sich schon immer einer guten musikalischen Gesundheit erfreut, aber es ist wahr, dass es immer einen gewissen Kult hervorgehoben hat. Die Musik ist zyklisch, Stile, die trendy werden und dann von anderen Stilen überlagert werden, aber irgendwie immer in Koexistenz und Harmonie miteinander leben. Auf Ibiza war es schon immer möglich, alle Arten von Musik zu hören, von der experimentellsten bis zur kommerziellsten, für alle Arten von Publikum. Aber jetzt bin ich glücklich, dass Techno einen gewissen Stellenwert hat und sich dieser Tage auf immer mehr Dancefloors auf der Insel ausbreitet. Als ich vor ein paar Tagen im Amnesia auf der Pyramid-Party gespielt habe, war es wunderschön zu sehen, wie straighter Techno immer salonfähiger wird. Für mich ist Pyramid die Vorzeige-Nacht für Techno hier auf Ibiza in diesem Jahr.

Diese Saison bist du eine der herausragenden Künstler*innen im Amnesia, einem der berühmtesten Clubs der Welt. Wie ist deine Verbindung zu dem Club?

Ich bin sehr froh, dass sie in dieser Saison auf mich zählen. Es war eine große Überraschung, dass sie mich zum Opening und auch für drei Termine mit Pyramid, meiner Lieblingsparty, gebucht haben. Ich könnte nicht glücklicher sein, wirklich. Jedes Mal, wenn ich im Amnesia spiele, fühle ich mich glücklich und erfüllt. Ich liebe den Mainfloor des Amnesia und vor allem die Lichter und den Sound. Es ist eine tolle Familie und Gruppe von Profis. Sie sind wirklich leidenschaftlich bei ihrer Arbeit, und das ist ansteckend. Mitarbeiter*innen, Künstler*innen, Publikum – alles harmoniert extrem miteinander und genau das führt wahrscheinlich dazu, dass es einer der legendärsten Clubs auf dieser Welt ist. Für mich ist es der unangefochtene Musiktempel auf Ibiza.

Du bekommst diese Frage sicherlich öfter gestellt. Da Ibiza aber einem stetigen Wandel unterliegt, muss auch ich einmal nachhaken: Wie sehen für dich die perfekten 48 Stunden auf Ibiza aus inklusive Strände, Restaurants und Co.?

In 48 Stunden kann man unendlich viele Dinge tun. Ibiza ist eine magische, aufregende Insel. Wenn man auf Ibiza ankommt, hat man oft das Gefühl, dass man nie wieder weg will. Es ist ein Ort, an dem du das Glück förmlich auf die Spitze treiben kannst. Allerdings ist es auch intensiv, also muss man sich zumindest mental auch etwas vorbereiten. Beginnt den Tag mit einem guten Frühstück und beobachtet den Sonnenaufgang, zum Beispiel am Strand von Talamanca, ganz in der Nähe des Zentrums von Ibiza. Dann macht einen Plan für den Beach oder für einen Bootstrip und verbringt den Tag auf dem Mittelmeer. Für den Nachmittag kannst du den Sunset in der Gegend von San Antonio planen, denn wenn die Sonne untergeht, kannst du in der Gegend von Ses Variades unglaubliche Musik genießen. Am besten geht dies zum Beispiel im Mambo, wo du sehr bekannte DJs im Mini-Pre-Party-Format sehen und hören kannst, die dann in der Nacht in den großen Clubs spielen. Zum Dinner empfiehlt sich das Can Pau, ein Klassiker der Insel.

Und für die Nacht stehen die meisten Pläne ja ohnehin. Am nächsten Tag sollte man einen Trip in den Norden planen, einige Märkte besuchen und viele magische Orte der Insel kennenlernen, von denen es viele gibt. Zum Lunch bietet sich eine Paella oder frischer Fisch im S’Espardell an, das ganz in der Nähe vom Ushuaïa und direkt am Meer liegt. Zum zweiten Dinner könnte man zum Beispiel ins A mi manera oder ins Restaurant Amnesia, das in dieser Saison eine wahre Entdeckung ist. Und natürlich dürfen diese 48 Stunden an keinem anderen Ort enden, als in einem der großartigen Clubs (lacht).

Was sind deine Pläne für den Rest des Jahres?

Dieses Jahr war sehr intensiv. Ich habe meine Agenda bis Ende 2023 praktisch schon geplant und werde oft im Studio an neuen Tracks sitzen. Ich befinde mich in einem guten Moment und möchte das ausnutzen. Dieser war auch der erste Sommer in meinem Leben als Mutter und ich habe die Zeit mit meinem zehn Monate alten Baby voll ausgenutzt. Ich habe während meiner Schwangerschaft mehr denn je auf Festivals und in Clubs gespielt. Das habe ich fast die ganze Zeit über geheim gehalten, bis mein Bauch mich verraten hat, haha! Jetzt will ich die Zeit, die Musik und das Leben in vollen Zügen genießen. Vielen Dank, dass ihr mir den Raum gebt, mich auszudrücken und euren Leser*innen etwas mehr über mich zu erzählen. Wir sehen uns hoffentlich bald!

Aus dem FAZEmag 139/09.2023
Text: Triple P
Foto Vorschaubild: Mario Pinta
www.instagram.com/annaturdj