Anthony Rother – Aus dem Techno-Underground in das Jahr 2090

Anthony Rother – Aus dem Techno-Underground in das Jahr 2090 / Foto: Sebastian Mast

Aus der selbstgewählten Interview-Isolation auf das Cover des FAZEmag: Auslöser für die erfreuliche Wiederaufnahme des Kontakts war das Ergebnis des 2022er FAZEmag-Jahrespolls. Hier wurde Anthony Rother von unseren Leser*innen zum Live-Act des Jahres 2022 gewählt – eine ebenso überraschende wie motivierende Auszeichnung für den Frankfurter Künstler. An Heiligabend 2023 erschien sein neues Album „Robo Pop“, über das wir in den legendären Offenbacher Logic Studios ausführlich gesprochen haben.

Hallo, Anthony. Wie ist das Leben im Jahr 2090?

Eine interessante Frage. Ich würde sagen, das Leben ist im Grunde wie heute, nur eben futuristischer und dystopischer. Gerade durch die KI-Entwicklung kann man die Zukunft heute schon sehr gut spüren. Den meisten wird das im Alltag gar nicht so bewusst, aber die derzeitigen Technologien geben, finde ich, einen sehr guten Vorgeschmack darauf, dass die Zukunft schon bald hochfuturistisch sein wird. Bemerkbar ist das allerdings nicht nur anhand der künstlichen Intelligenz. Man erkennt es auch an der Architektur und am Design der heutigen Zeit, deren Schöpfer nicht selten durch Science-Fiction der 60er-, 70er- oder 80er-Jahre inspiriert sind. Die Kunst formt also so gesehen das Aussehen der Welt und dient als Grundlage der technischen Entwicklungen. Bestes Beispiel, auch wenn es etwas plump ist, ist der Film „2001“ mit der künstlichen Intelligenz von HAL, und es gibt viele weitere Beispiele. 2090 ist noch in weiter Ferne, aber wir können schon fühlen, wo es einmal hingehen soll. Science-Fiction wird zur Realität, um die Frage kurz und knapp zu beantworten. 

„2001: Odyssee im Weltraum“ ist ein Science-Fiction-Film von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968, für den jener das Drehbuch in Zusammenarbeit mit dem Science-Fiction-Schriftsteller und Physiker Arthur C. Clarke schrieb. In Kubricks Weltraumepos wird über einen Zeitraum von vier Millionen Jahren eine mystisch-mythologische Geschichte der menschlichen Evolution erzählt. Die im Jahr 2001 angelegte Haupthandlung des Films zeigt, wie der Astronaut Bowman eine Odyssee im Weltraum erlebt, an deren metaphysisch-transzendentem Abschluss Bowman unmittelbar nach seinem Tod als astrales „Sternenkind“ wiedergeboren wird. Im Jahr 2022 wurde Kubricks Film von anderen Regisseuren zum „Besten Film aller Zeiten“ gekürt. Besonders bekannt wurde – neben der perfekt eingesetzten klassischen Musik – HAL 9000, der mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattete Supercomputer, der das Raumschiff autonom steuern kann. Der HAL 9000 gilt als die Krönung der Computertechnik und ist mittels im Raumschiff eingebauter Kameras, einer Spracherkennungssoftware und darauf abgestimmter Algorithmen in der Lage, mit der Raumschiffbesatzung zu kommunizieren. Der menschlich anmutende Computer gilt als absolut perfekt – unfähig, den geringsten Fehler zu verursachen oder unklare Informationen zu liefern.

Gestellt haben wir die Frage aufgrund deines neuen Albums „Robo Pop“, das im Jahr 2090 spielt und von ganz normalen zwischenmenschlichen, alltäglichen Begegnungen während dieser Zeit handelt. Zu einem dieser Tracks hast du auch ein Video namens „Mad World“ – also „Verrückte Welt“ – gedreht. Warum hast du ausgerechnet zu diesem Track ein Video gedreht und welche Welt ist denn eigentlich verrückt? Die Welt heute oder die Welt im Jahr 2090?

Zum Musikvideo von „Mad World“ und auch zur Geschichte des Albums, die ja in der Gegenwart startet, möchte ich eigentlich gar nicht so viel sagen. Die Zuschauer*innen sollen sich selbst ihre Gedanken machen.
Was ich aber sagen kann, ist, dass das Album und die Geschichte während meiner Tour im letzten Jahr entstanden sind. Mir ist dabei aufgefallen, dass ich mich, wenn ich auf der Bühne stehe und meine Hybrid-Sets spiele, wie im Jahr 2090 fühle – irgendwo in einer Megacity, in den Katakomben oder in einem Undergroundclub einer dystopischen Welt. Alles um mich herum, also die Menschen und die Szenerie, überlagern sich mit der Realität von heute. Ein Verschwimmen von Realität und Fiktion sozusagen, das sich nun auch auf dem Album widerspiegelt. Es gibt da wirklich viele Parallelen, wie ich anfangs ja bereits schon erwähnt habe – Stichwort Architektur & Co.

Auch wenn wir nicht über den Inhalt des Videos sprechen wollen, das können sich unsere Leser*innen tatsächlich am besten selbst anschauen, könntest du etwas über die Entstehung des Videos verraten.

Auf der Etage im Logic-Haus, wo ich mein Studio habe, gibt es ein Studio mit einem Kollektiv junger kreativer Künstler*innen. Darunter auch die Jungs der Filmfirma ENLIGHT. Wir sind uns da öfters im Flur über den Weg gelaufen und eines Tages bin ich mit Timo (Timo Schlenstedt von ENLIGHT) ins Gespräch gekommen und wir haben schnell bemerkt, dass wir uns beide für futuristische Themen und technologische Entwicklungen interessieren. Er hatte mir seinen Kurzfilm „Digital Eden“ gezeigt und ich ihm meine Musik, und da hatten wir dann beschlossen, dass wir ja mal etwas zusammen machen könnten. Und so kam es dann zu dem Video für „Mad World“. Das ENLIGHT-Team hat das Video produziert und ein Teil des Kollektivs hat daran mitgearbeitet. Mal schauen, was wir in Zukunft noch zusammen machen werden.

Ohne Vergangenheit keine Zukunft, ohne Realität keine Utopie. Mir ist aufgefallen, dass auf dem Track „Don’t Give Up“ viele Elemente aus der elektronischen Musikgeschichte auftauchen. Und zwar in einer Verbindung, die man von Anthony Rother jetzt nicht unbedingt erwartet hätte. Da gibt es zum Beispiel diesen Part, der ein bisschen wie B.G. Prince Of Rap klingt. Erzähl uns etwas über diesen Track im Speziellen und gerne auch über die allgemeine Herangehensweise an das Album.

Die letzten Jahre habe ich mich sehr auf diesen Electro-Style fokussiert – in verschiedene Richtungen. Letztes Jahr habe ich das Album „A.I. Space“ veröffentlicht, auf dem sich zwei Titel befinden, die man als Electro-Pop bezeichnen könnte. Ich habe sie dann in mein Hybrid-Set integriert und gemerkt, dass das ein wichtiger Schlüssel war, um das Hybrid-Set rund zu bekommen. Zwischen all dem monotonen dystopischen Electro waren es dann diese zwei emotionalen Momente während des Sets, die für den nötigen Kontrast gesorgt haben. Ich hatte gemerkt, dass ich mehr von solchen Titeln haben will und mir vorgenommen, ein Electro-Pop-Album noch im Jahr 2023 zu produzieren. Ich wollte mehr Vocals und stärker in den menschlichen Bereich vorstoßen. „Don’t Give Up“ passt mit den Vocals und der Acid-Line sehr gut in dieses Schema. Der Track soll Energie und Kraft geben und Situationen im Club beschreiben, wenn Menschen tanzen. Gleichzeitig ist er aber auch auf den Alltag anwendbar, auf das Berufliche oder persönliche Krisen. Der Track hat mir eine Spur ausgelegt, der ich gefolgt bin, und war sehr wegweisend für mich.

Nun ist es so, dass du schon früher viele große Nummern mit Vocals produziert hast, die in diese Richtung gehen und sich prima für deine Hybrid-Sets eignen würden. Allerdings scheinst du damit abgeschlossen haben und ziehst diese nicht mehr in Betracht. Das finden wir schade. Warum?

Da gibt es viele Faktoren. Ich habe 2016 mein erstes Hybrid-Set geplant und 2017 beschlossen, keine Techno-Sachen mehr zu spielen. Ich wollte komplett in Richtung Electro gehen. Der Sound von einem „Father“ oder „Back Home“ passte da einfach nicht mehr rein. Von 2013 bis ca. 2017 habe ich mich künstlerisch festgefahren und keine Weiterentwicklung gespürt. Ich war wie in ein Standbild gepresst und habe erfolglos versucht, den Datapunk-Sound zu erneuern. Zumindest habe ich damals so darüber gedacht, mittlerweile betrachte ich das nicht mehr ganz so kritisch. Im Anschluss habe ich dann einige echte Jahre der Befreiung erlebt und schaue nun, wohin die Reise mich führt. Ein Zurück wird es aber nicht mehr geben.

Du hast letztes Jahr in unserem Jahrespoll in der Rubrik „Bester Live-Act“ gewonnen, obwohl du eigentlich kaum noch live spielst. Stattdessen spielst du Hybrid-Sets. Was ist das eigentlich genau?

Hybrid-Sets sind für mich Live-Sets, die mit minimaler Live-Technik auskommen und primär an der DJ-Technik orientiert sind. Im Grunde sind meine Hybrid-Sets ein Gesamtbild meines künstlerischen Schaffens. Leute können auf Social Media sehen, wie ich im Studio arbeite und meine Tracks produziere, die ich dann im Club auf der Bühne präsentiere. Die in den Clubs oder auf den Bühnen gewonnene Erfahrung fließt dann wieder in meine Produzententätigkeit im Studio ein. Auf diese Weise entstehen alle meine Ideen – vom Albumtitel bis hin zu meinen Visionen und Gefühlen. Sogar die Dancemoves sind hier im Studio während der Pandemie entstanden. Ich sehe mich als eine Verkörperung des frühen Electro aus den 80ern, gepaart mit einer Performance aus dem Jetzt, mit Einflüssen aus Techno. Mit der Bewegung beschreibe ich die Sounds und Rhythmen, die ich im Studio generiert habe. Ich visualisiere sie.

Sind Live-Acts zu aufwendig oder zu langweilig für dich?

Ich habe zwar auch noch mein Live-Set, aber das ist letztlich nur eine Reproduktion von dem, was ich produziert habe. Ein Hybrid-Set ist viel schneller und kann Musik aufnehmen, die einen Funktionalcharakter hat und fürs Live-Set nicht geeignet ist. Es treibt mich als Künstler voran. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nochmal so eine kreative Großphase erlebe – und eigentlich geht es ja jetzt erst richtig los, da ich jetzt erst verstanden habe, was ich da eigentlich genau mache.

Picken wir uns doch mal eines dieser Erlebnisse heraus: dein Set im Fuse in Brüssel. Vielleicht kannst du unseren Leser*innen in der Retrospektive mal beschreiben, wie du diesen Auftritt erlebt hast.

Ich möchte da eigentlich gar nicht mal über ein singuläres Erlebnis sprechen, da, wie schon gesagt, alles miteinander verknüpft ist. Jeder Gig schärft meine Performance und mein Hybrid-Set auf seine ganz individuelle Art und Weise. Aber klar, vor dem Gig im Fuse war ich schon sehr aufgeregt, allein aufgrund meiner Historie mit dem Club: 2002 und 2003 habe ich Live-Sets dort gespielt und bin dort als (Live-)Künstler geboren worden. Die Leute haben mir dort eine unglaubliche Energie gegeben, das habe ich vorher nicht gekannt. Es war auch ein bisschen der Übergang von der Electro-Phase in die Datapunk-Phase. Mit dem Fuse teile ich eine große emotionale Vergangenheit. 2023 war das ein ganz anderes Erlebnis, da ich als Künstler eine Transformation durchlaufen und auch der Club sich verändert hatte. Der Auftritt hat mich im Glauben an das, was ich mache, bekräftigt. Die Frage „Glaube ich an das, was ich tue?“ steht bei diesen Auftritten immer wieder im Raum, und ich glaube immer mehr daran. Das Bild wird immer fester und ich bin froh und dankbar, dass so viele Veranstalter*innen auch Lust haben, den Leuten mal etwas anderes zu präsentieren. Das Set aus dem Fuse repräsentiert mein Jahr 2023 ziemlich akkurat. Jetzt kommt das Album und es kommen wieder neue Strömungen rein – keine radikalen Veränderungen, aber eben Nuancen.

Das heißt, dein Hybrid-Set könnte bald poppiger werden?

Nein, nicht poppiger. Den Anteil lasse ich auf dem aktuellen Niveau, aber womöglich tausche ich ein paar Tracks aus. Ich will mich ausprobieren und mit der Atmosphäre experimentieren. Genau dieses Nichtwissen darüber, was passieren wird, ist das Spannende für mich. An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal den Bogen zu meinen Live-Sets spannen, bei denen es genau andersherum war, da ich genau wusste, was ich spielen würde und die Tracks nur reproduzierte, was zudem viel zeitaufwendiger war.

 

 
 
 
 

Der Begriff „Pop“ zieht sich durch deine Releases. 2001 hattest du mit „Electro Pop“ als Little Computer People einen großen Club-Hit. 2004 erschien das erste „Popkiller“-Album, 2010 das zweite. Jetzt erscheint „Robo Pop“. Pop steht ja für populäre Musik. Fluch oder Segen? Dieser Ausdruck scheint dich stark zu beschäftigen.

Jede Verwendung des Begriffs „Pop“ hat ihren eigenen Hintergrund. „Electro Pop“ war damals für mich die musikalische Grundidee, an der ich mich dann kreativ abgearbeitet habe. „Popkiller“ war eher ein Zufall, weil ich diesen Begriff als weitere Bezeichnung für einen Popschutz kannte und ich das Wortspiel Popkiller damals als passende Attitude für den Datapunk-Sound empfand. Den Begriff „Robo Pop“ hatte ich vor einigen Jahren für einen Song verwendet und fand das jetzt als Titel für das neue Album perfekt, um dem breiten Soundspektrum der Tracks den richtigen Rahmen zu geben.

In diesem Jahr (2024) jährt sich das Release von „Autobahn“ zum 50. Mal. Kraftwerk haben dich früher inspiriert, du hast sogar Stücke von ihnen neuinterpretiert. Wie schätzt du den Stellenwert von Kraftwerk für die Techno-Szene ein?

Die Gruppe Kraftwerk und der Filmemacher und Musiker John Carpenter sind die wichtigsten Einflüsse in meiner Entwicklung als Künstler. Wenn es um den Stellenwert vom Einfluss auf die Techno-Szene geht, dann sind Kraftwerk selbstverständlich besonders wichtig. Da wir heute so viele Möglichkeiten haben, Informationen online abzurufen, möchte ich an dieser Stelle auch auf Karlheinz Stockhausen, Pierre Henry und Pierre Schaeffer hinweisen. Aber der absolut wichtigste sowie direkte Einfluss auf die Techno-Szene ist die Geschichte von Detroit-Techno und die kulturellen Hintergründe, warum Techno in Detroit überhaupt entstanden ist. Ich empfehle jedem, der sich dafür interessiert, sich mit Detroit zu befassen.

Du hast es vorhin angesprochen: Auf Social Media kann man dir quasi dabei zusehen, wie du deine Tracks produzierst. Du hast dir sozusagen deine eigene Version von Social Media erschaffen, die sehr eng an den Bedürfnissen der Zuhörer*innen orientiert ist. Wie bist du darauf gekommen?

Genau, man kann auf Social Media quasi meinen künstlerischen Weg in Echtzeit verfolgen. Man sieht, an was ich arbeite, was dann zu einem Album zusammenfließt oder auf anderen Labeln erscheint. Angefangen habe ich damit schon um 2014/2015 herum, als ich zunächst mit Videos auf Facebook experimentiert habe. Das war damals aber noch nicht sehr ausgefeilt, u.a. wegen schlechtem Internet (16.000er-Leitung …) und noch ohne echtes künstlerisches Ausdruckslevel. Das hat sich dann erst mit der Pandemie, dem Umzug in ein neues Studio und schnellerem Internet geändert. Ich habe früh gemerkt, dass das ein neues kreatives Ausdruckslevel für mich ist. Ich nutze Social Media nicht nur, um mich als Künstler und Performer zu präsentieren, sondern auch, um meine Gedanken niederzuschreiben und sie mit den Menschen zu teilen.

Foto: Sebastian Mast

Man sieht in der Tat recht selten, dass ein solch reger Austausch zwischen Künstler und Publikum auf Social Media stattfindet. Geht es da dann nur um Anthony Rother oder auch mal um andere Künstler*innen?

Natürlich entstehen auf diese Weise auch gelegentlich mal Kollaborationen o.Ä., aber primär geht es für mich darum, aus meiner Komfortzone auszubrechen und darüber zu berichten, was eigentlich in mir vorgeht bei dem, was ich hier mache. Meine Intentionen und Gedanken spielen diesbezüglich eine wesentliche Rolle, um mit dem kreativen Raum, in dem ich mich befinde, in neue Sphären vorzudringen. Das Musikmachen ist nur ein kleiner Teil. Der größte Teil ist, wie mein Leben ausgerichtet ist, damit ich überhaupt die Freiheit habe, so naiv hier zu agieren im Studio, die Welt in einer gewissen kryptischen Form zu erfassen und sie zu beschreiben mithilfe von Maschinen als Synonym für menschliche Dinge oder menschliche Erzählungen, um Gefühle auszudrücken. Social Media sind für mich also nicht nur für die Öffentlichkeitarbeit relevant, sondern auch ein kreatives Instrument – vielleicht auch eine Art Tagebuch. Wer weiß, vielleicht fasse ich ja irgendwann mal alles, was ich bisher geschrieben habe, zu einem einzigen PDF zusammen, das dann auf Knopfdruck per KI in alle Sprachen der Welt übersetzt werden kann.

In den frühen Jahren deiner Karriere hast du dir u.a. mit einigen verwendeten Samples den Ruf erworben, technologiekritisch zu sein. Mittlerweile ist das nicht mehr so, oder irre ich mich da? Du hast allerdings auch gesagt, dass du versuchst, einen digitalen Detox-Kurs zu fahren, was Social Media betrifft. Erläutere uns dein ambivalentes Verhältnis zu Technologie.

Meine Technologie-Kritik ist eher dystopischer Natur. Ich bin kein Gegner oder Aktivist. Ich bin eher sehr stark technikinteressiert und nutze zum Musikmachen das neueste Musikequipment. Ich interessiere mich für die neuesten technischen Entwicklungen in allen Bereichen, vor allem in der Computer- und Softwareentwicklung, z.B. künstliche Intelligenz. Mein digitaler Detox bezieht sich momentan auf den Konsum von digitalen Unterhaltungsmedien oder Texten im Internet. Da musste ich feststellen, dass ich das gesunde Maß überschritten hatte und ich als moderner Mensch mit diesem Überangebot verantwortungsvoller sowie kontrollierter umgehen muss. Keine neue Erkenntnis, aber jetzt hat es mich auch erwischt. Aus diesem Umstand habe ich für mich erkannt, dass ich mich stärker reduzieren muss; wie das geht, finde ich gerade heraus.

Aber ich habe dadurch einen neuen Zugang zu physischen Medien wie Büchern oder Zeitschriften entdeckt, die für ein gewisses seelisches Wohlgefühl wichtig sein könnten. Eine Redaktion, die für mich eine qualitative Vorauswahl trifft, finde ich jetzt doch wieder attraktiv. Vor einer Woche war ich da noch anderer Meinung, ich bin gespannt, wo mich das noch hinführt. Aber für mich ist klar, dass ich nicht mehr bereit bin, einfach so meine Lebenszeit im Internet zu verschwenden.

Apropos Technik. Du bezeichnest dich selbst als kleiner Technik-Nerd und deine analogen Geräte sind ein essenzieller Bestandteil deines Schaffens. Magst du uns mit auf eine kleine Reise durch deine Geräte-Landschaft nehmen?

Das ist schon richtig, ich arbeite am liebsten mit Hardware. Ich arbeite gerne körperlich, bewege mich gerne im Studio und drehe auch gerne an vielen Knöpfen gleichzeitig. Außerdem komme ich ja auch aus einer Zeit, in der man nun einmal mit Hardware gearbeitet hat. Klar, das ist komplexer als das heutige Arbeiten ‚in the box‘, aber Musikmachen mit der Maus ist jetzt nicht unbedingt mein Ding. Eine vollständige Auflistung meines Equipments würde sicherlich den Rahmen sprengen, wer sich dafür interessiert, kann aber bei mir auf der Bandcamp-Seite bei den verschiedenen Alben in die Textbeschreibung schauen. Dort steht, mit welchen Geräten ich welche Tracks gemacht habe.

Aus der Hüfte: Mit welchen Geräten hast du „Don’t Give Up“ gemacht?

Mit dem MODOR DR-2 Drumcomputer und dem SOLAR 50 Synthesizer von Elta – ein ukrainischer Hersteller.

Ich sehe hier gar keine 303?

Ich wollte mir immer mal eine kaufen, allerdings kostet die mit Sammlerwert mittlerweile so viel, das bin ich nicht bereit zu zahlen. Aber natürlich habe ich einen Klon.

Den Vertrieb deiner Musik regelst du mittlerweile vollständig autark auf Bandcamp. Release-technisch erscheint das meiste über dein eigenes Imprint, du machst gelegentlich aber auch noch Kollaborationen mit anderen Labeln. Kannst du uns einen kleinen Überblick geben?

Letztes Jahr habe ich meine „BM9“-EP auf Marcel Dettmanns Bad Manners veröffentlicht, deren Entstehungsprozess ich auf Social Media auch ausführlich begleitet habe. Anfang des Jahres ist das Stück „XOR-909“ im Rahmen der Jubiläumscompilation von skryptom erschienen, und auf System 108 aus Moskau habe ich vor dem Krieg mit Danny Daze zusammen eine EP produziert. Kürzlich war ich zudem Teil der neuen Clone-Compilation anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens. All diese Zusammenarbeiten sind aus persönlichen Kontakten entstanden. Marcel Dettmann hat mich damals ins Berghain eingeladen, mit Antoine von skryptom war ich zusammen im Kilomètre 25 in Paris und Serge, der Chef von Clone, hat mich damals auf dem Dekmantel-Festival besucht. Mir ist es sehr wichtig, die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, vorher kennenzulernen. Das hat einfach einen großen Mehrwert für mich, da das Musikbusiness heute echt schwierig ist.

Ein gutes Stichwort: Du hattest früher selber den Ruf, schwierig zu sein. Wie ist das zustande gekommen?

Schwer zu sagen. Ich komme ja schon aus einer sehr konsequenten Techno-Schule mit einer klaren und rigorosen Underground-Philosophie. Das war eine Art Richtlinie für mich, und diese Attitüde habe ich lange Zeit auch beibehalten und gepflegt. Je länger ich in der Szene unterwegs war und die Welt bereist habe, desto mehr habe ich dann aber irgendwann gemerkt, dass ein Großteil dieser Regeln und Maximen Schwachsinn ist. Jemanden nur nach seinem Musikgeschmack zu beurteilen, ist einfach bescheuert. Ich habe das dann Stück für Stück versucht abzulegen, was aber nicht immer funktioniert hat. Es gab da beispielsweise mal einen Frankfurter Radiosender, der eine Compilation kuratiert hat und unbedingt „Father“ lizenzieren wollte. Ich habe mich dann dagegen gewehrt, weil der Sender nach meinem Geschmack zu kommerziell war. Diese Art „Zickigkeit“ ist dann wohl das, was dazu geführt hat, dass man mich manchmal als schwierig bezeichnet hat. Klar habe ich eigene Ansichten, ich bin ein Mensch, der seine Freiheit liebt, und das kommt dann vielleicht hier und da zum Tragen, da ich mich schnell eingeengt fühlte, obwohl das vielleicht gar nicht so gemeint ist. Und natürlich bin ich auch kein Kind von Traurigkeit, aber jeder Mensch hat bekanntlich seine Fehler.

Tatsächlich machst du derzeit einen sehr entspannten Eindruck. Hat das vielleicht etwas mit deiner neuen künstlerischen Verwirklichung zu tun? Du scheinst im Reinen mit dir zu sein.

Ich denke, das trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn ich mich an die Datapunk-Zeiten erinnere, also so um 2006/2007 herum, dann war das schon mit sehr viel Verantwortung und Erwartungsdruck verknüpft, womit ich womöglich nicht sonderlich gut umgehen konnte. Ich hatte Angestellte, ich hatte Auszubildene, die teilweise sehr jung und überhaupt nicht in der Lage waren, mit Kritik umzugehen. Ich habe einfach gemerkt, dass ich dafür nicht ready, sondern überfordert war. Datapunk ist damals krass explodiert und im Anschluss auch mindestens genauso schnell wieder zerfallen. Das war schon eine Zeit, in der ich sehr neben mir stand. Als das alles vorbei war mit Datapunk, der Booking-Agentur und Co., bin ich nach Indien verschwunden, um den Kopf frei zu kriegen. Um all das zu verarbeiten, habe ich dann bestimmt fünf, sechs Jahre gebraucht. Scheint aber irgendwie auch dazuzugehören, davon ausgehend, was ich so in anderen Artist-Biografien gelesen habe. Erst geht die Rakete hoch und dann kommt der tiefe Fall.

Was läuft heute anders?

Ich habe mein System so gebaut, dass niemand auf mich angewiesen ist und prüfe sämtliche Verbindungen, die ich mit anderen eingehe, im Vorfeld auf Herz und Nieren. Kollaborationen mit anderen bedeuten auch immer, dass man zwei Meinungen hat, und ich will einfach nicht mehr, dass jemand auf mich sauer ist, nur weil wir unterschiedliche Ansichten vertreten. Ich habe auch gelernt, alles immer direkt zu kommunizieren und die Karten sofort auf den Tisch zu legen. Auf Missverständnisse habe ich keine Lust mehr. Zu Zeiten von Datapunk oder meinem Electro-Label war es oft so, dass die Erwartungen der Künstler nicht erfüllt werden konnten, und wenn dieser Fall eintritt, ist ja glasklar, wer dann daran Schuld hat. Die haben ihren Unmut dann oft auf mich abgeladen und erst später realisiert, dass ich im Grunde genommen nur fair zu ihnen war.

Sprechen wir doch noch einmal über dein Album. Du sagst, du seist dir nicht sicher, ob du nicht möglicherweise doch zu weit gegangen bist, was die poppigen Sounds betrifft. Woher kommen diese leisen Zweifel?

Wie ich bereits sagte, habe ich das Album ja unter der Prämisse gemacht, dass ich einige Electro-Pop-Tracks produziere, die ich dann in mein Hybrid-Set integrieren kann. Irgendwie entgleitet mir dieser Gedanke aber immer wieder und ich erwische mich dabei, wie ich mich frage: „Bin ich jetzt doch wieder in der falschen Ecke gelandet? Geht das jetzt doch in so eine kommerzielle Richtung, die ich gar nicht einschlagen will?“ Als Künstler hat man bei jedem Produkt seine Zweifel, das ist ganz natürlich, und sie kommen und gehen. Ich denke, dass es bei diesem Album etwas schwergewichtiger ist, weil ich eben meine Komfortzone verlassen und etwas gemacht habe, was über die Grenzen des Standard-Electro hinausgeht. Man weiß nicht, was passieren wird, und genau an dieser Ungewissheit arbeite ich mich momentan ein wenig ab, auch wenn ich vom Album als Musikprodukt natürlich vollkommen überzeugt bin.

„In the factory
where we want to be
robot industry
metallic symphony“

TOUR DATES

 

Aus dem FAZEmag 143/01.2024
Interview: Sven Schäfer
Text: Sven Schäfer, Milan Trame
Foto: Sebastian Mast
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