Anthony Rother: die Erforschung von Electro

Anthony Rother: die Erforschung von Electro. Credit: Timo Schlenstedt

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Seit den 90er-Jahren gilt er als Avantgardist der Electro-Szene, nun meldet sich Anthony Rother mit einem neuen Album zurück. „Future Kids“, das an Heiligabend über sein neues Label 3MULATOR BOY auf Bandcamp erschien, verspricht ein spannender Mix aus Techno und Electro zu werden – oder wie er es nennt: Technobeat-Electro. Bereits vorab gab es mit dem Track „We Are Futurists“ und einem dazu passenden Musikvideo von Timo Schlenstedt einen ersten Einblick in das futuristische Klanguniversum des Werks. Im Interview erzählt der Offenbacher von der kreativen Freiheit des Eigenvertriebs, seinem Streben nach Innovation und Eskapismus als Leitmotiv. Wie schafft man es, innerhalb eines Jahres ein neues Genre zu definieren, dabei die digitale Welt kritisch zu reflektieren und den Fokus dennoch auf die Musik zu behalten? Wir haben vor Erscheinen des Albums mit Anthony gesprochen und hier einen tiefgründigen Einblick in die Gedankenwelt eines Künstlers für euch.

„Die Zukunft kann nicht vorhergesagt werden, sie wird erfunden.“ Wie spiegelt sich diese Idee in deinem neuen Album wider, und wie beeinflusst sie deine Herangehensweise an Musik und Kunst?

Künstlerisch gesehen ist diese Aussage selbstverständlich eine Anmaßung und schlimme Übertreibung, aber zugleich enthält sie auch einen wahren Kern. In der Welt der Konzerne stimmt diese Aussage, in der Welt der Kreativen gelten andere Gesetze. Der Kreative findet bei seiner Suche. Die Art, wie er sucht, kann er idealerweise bestimmen, was er dabei findet, liegt in einem der Welt unbekannten Bereich und ist keine Erfindung. Im kreativen Bereich von Erfindung zu sprechen, bedeutet, dass jemand genial gesucht hat und höchst aufmerksam beim Finden war.

Du hast erwähnt, dass du noch mitten im Mastering steckst und vielleicht noch einen Track hinzufügen möchtest. Wie beeinflusst dieser offene, experimentelle Prozess die finale Vision des Albums?

Im kommerziellen Vertrieb muss dein Album ein halbes Jahr vorher komplett fertig sein. Ich war nie ein Fan von langweiligen Album-Promo-Texten, vollgestopft mit Superlativen. Ich liebe Spontaneität. Die Freiheit, so intensiv an meinem Album zu arbeiten, habe ich nur durch das digitale Format und weil ich meine Musik selbst exklusiv auf Bandcamp veröffentliche. Das ermöglicht mir, sehr lange an Details zu schrauben, am Klang vom Mastering zu feilen und am Design des Covers zu experimentieren. Das Cover und den neuen Albumnamen „Future Kids“ hatte ich vor zwei Wochen erst umgeändert, das war ein Wechsel aus dem kreativen Fluss heraus – und das ist dann ohne Probleme möglich, weil bis zur letzten Minute vor Release vieles offen bleiben kann. Das gilt auch für das Musikvideo zu „We Are Futurists“. Timo (Schlenstedt) hat an dem Video bis zum letzten Moment vor der Veröffentlichung gefeilt und ich am Mastering des Tons dazu.

Das Musikvideo zu „We Are Futurists“:

Viele deiner neuen Tracks wie „Take Me to the Future“ oder „I’m Not Real“ scheinen eine Form von Eskapismus zu thematisieren. Ist das für dich ein Leitmotiv? Wie definierst du Eskapismus in unserer digitalen Gegenwart?

Mir ist es wichtig, dass die Musik eine Gefühlswelt erzeugt, die sich real anfühlt und wie bei einem guten Film den Zuhörer in eine Welt eintauchen lässt. Beim Musikproduzieren im Studio versuche ich, die Stimmung der Musik aufzunehmen und herauszufinden, was für eine Welt da zu hören ist. Wenn ich dann eine innere Vorstellung habe, dann arbeite ich intensiv daran, dass die Musik, die Sounds, die Vocals diesen inneren Film so gut und so glaubhaft wie möglich erzählen. Das ist für mich Eskapismus und ein wichtiger Faktor beim Musikmachen. Ich selbst und dann später hoffentlich auch die Hörerinnen und Hörer sollen mit der Musik in eine andere Welt abtauchen.

Wie hat sich dein Fokus seit den Alben „AI Space“ und „Robo Pop“ verändert? Was unterscheidet den kreativen Prozess zu „FUTURE KIDS“ von jenem deiner früheren Arbeiten?

Während der Corona-Pandemie hatte ich eine kurze, interessante Konversation mit Jeff (Mills) und wir sprachen über die Absichten, die man als Künstler hat, und wie man seine individuelle Bestimmung kreativ in sein Werk einbringt. Dieses Gespräch hatte mich erst etwas verwirrt, dann aber zum Weiterdenken inspiriert. Ich hatte anschließend meine Herangehensweise im Studio geändert, weg von Produktivität hin zum Fokus auf das konsequente Verschieben der Grenzen meiner Kreativität. Das mache ich nun seit den Alben „AI Space“, „Robo Pop“ und jetzt auch mit „FUTURE KIDS“. Dadurch ist mein Produktionsprozess extrem langsam geworden.
Es geht mir in erster Linie darum, etwas Frisches zu finden, und das benötigt seine Zeit. Man kreiert einen riesigen Berg von Material und hofft dann, in diesem großen Haufen dieses eine besondere Element zu entdecken, das einem einen interessanten Weg aufzeigt. Diese Art, Musik zu machen, unterscheidet sich gewaltig vom intuitiven Musikproduzieren, wo man einfach draufloskomponiert. Metaphorisch gesehen scheitere ich 99 Prozent der Zeit im Studio, um dann dieses eine Ding zu finden.

„AI Space“ von Anthony Rother erschien am 23. Dezember 2022:

Der Begriff „Technobeat-Electro“ taucht mehrfach im Kontext des Albums auf. Wie würdest du dieses Konzept beschreiben, und warum ist es ein zentraler Bestandteil deiner aktuellen Musik?

Letztes Jahr im Januar habe ich DJ Mell G in Barcelona im Human Club bei einer Mechatronica-Label-Night auflegen gehört. Wir hatten das erste Mal im Lehmann in Stuttgart zusammen gespielt und uns damals beim Artist-Dinner intensiv über Electro im Club unterhalten. Ihr Set in Barcelona hat mich dazuinspiriert, meine eigene Variante von Technobeat-Electro zu erforschen. Den Genre-Begriff Technobeat-Electro habe ich mir für die Arbeit an dem Album „FUTURE KIDS“ ausgedacht. Um mir meine eigene Themenwelt zu erschaffen, in der ich dann kreativ an dem sogenannten Technobeat-Electro forsche.

Du entwickelst dein Hybrid-Electro-Set weiter und integrierst Technobeat-Electro. Welche neuen Elemente oder Technologien nutzt du dabei?

Bei der Arbeit an meinem Album „FUTURE KIDS“ kam mir die Idee, wie ich in Zukunft die Technobeat-Electro-Tracks in mein Hybrid-Electro-Set integrieren möchte. Das wird ein längerer Prozess mit dem Ziel, dass in meinem zweistündigen Hybrid-Set die letzte Stunde dann komplett mit Technobeat-Electro gefüllt sein wird. Mit den nächsten Alben werde ich diesen Stil weiter erforschen und hoffe, mein Ziel innerhalb der nächsten zwei Jahre zu erreichen. Der Prozess sieht, wie die letzten Jahre schon, so aus: Musik produzieren, im Hybrid-Set spielen und mit den Erfahrungen und Eindrücken aus dem Club wieder zurück ins Studio gehen und Musik machen. Ein Kreislauf aus Kreativität und Performance. Es ist eine Studioidee, die dann von den Ereignissen in der echten Welt geformt wird. Create/Perform.

Anthony Rother mit einem seiner Hybrid-Electro-Sets:

Mit deinem Fokus auf die Zukunft: Glaubst du, dass Technologie die menschliche Kreativität bereichert oder einschränkt? Und wie siehst du die Rolle von künstlicher Intelligenz in der Musikproduktion?

Ich denke, Technologie bereichert und schränkt gleichzeitig ein. Die Freiheiten, die man heute als Künstler hat, haben auch ihre Einschränkungen. Durch das digitale Medium und die Art, wie Musik heute vertrieben wird, ist der ökonomische Wert von Musik stark gesunken. Die Zwänge, die sich durch die aktuelle Technologie ergeben und in denen sich Künstlerinnen und Künstler heute wiederfinden, sind teilweise sehr bedrückend. Noch vor einiger Zeit haben Konzerne Rechte durchgesetzt, die dann auch dem einzelnen Künstler zugutekamen.Heute werden Konzerne einfach Teilhaber am Geschäftsmodell ihrer Gegner. Probleme werden gelöst, indem man zum Geschäftspartner des Problems wird und daran mitverdient, anstatt eine gerechte Lösung für alle zu erstreiten. Das macht die heutige Technologie möglich.
Ich selbst nutze keine KI in meiner Musikproduktion. Es macht mir selbst zu viel Spaß, Musik zu machen, ich kann mir nicht vorstellen, da etwas von einer KI erstellen zu lassen. Ich habe letztes Jahr KI dafür genutzt, eine Vocoder-Stimme aus einem Track von mir zu separieren, um davon einen Remix zu erstellen. Mehr kann ich mir momentan nicht vorstellen. Ich nutze ChatGPT zur Lösung von kleinen Aufgaben, Berechnungen oder die Ausgabe von Phonem-Sequenzen für meine Speech-Maschine. Ich bin trotzdem offen und sehr interessiert am technischen Fortschritt, mal schauen, was da noch so passiert.

Deine Tracks wie „I’m Not Real“ laden zur Auseinandersetzung mit dem Thema Realität ein. Ist Eskapismus für dich ein Weg, die Welt besser zu verstehen, oder eher eine Flucht?

Unsere Realität hat die letzten Jahre stark gelitten. Eskapismus ist für mich im besten Fall ein immersives Erleben durch Musik. Das kann Flucht sein, aber auch die Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Meine Musik ist das Ergebnis aus meinem Leben und den Eindrücken, die ich täglich sammle. Außerdem geben mir die Musik und das Nachdenken beim Komponieren immer etwas Neues zum Verstehen, einen neuen Gedanken oder einen neuen Blickwinkel auf die Welt. Ich nähere mich der Realität mit der Hilfe von Musik. Ich finde das Thema Realität sehr interessant – besonders auch in Bezug zu künstlicher Intelligenz – sowie auch die verschiedenen Theorien zu Realität. Eine unerschöpfliche Quelle zur Inspiration.
Als ich jünger war, hatte ich so einige Erlebnisse im Selbstversuch, die mich bis heute immer wieder fragen lassen, was Realität ist, sei es wissenschaftlich oder spirituell. Ich hatte mich schon früh musikalisch mit dem Thema der Simulation der Welt beschäftigt.

Vinyl scheint in der heutigen digitalen Ära fast ein Akt des Widerstands zu sein. Was bedeutet Vinyl für dich und warum setzt du auf den exklusiven Eigenvertrieb über Bandcamp?

Die Bedeutung, die einem physischen Tonträger heute zugesprochen wird, ist eine tragische Illusion. Die Musik selbst ist ja das Wertvolle, nicht das Medium in Form einer Schallplatte oder einer CD. Während der Corona-Pandemie hatten die Presswerke Vorkasse verlangt und die Presszeiten lagen bei bis zu einem Jahr, da hatte ich beschlossen, kein Vinyl mehr zu machen und nur digital auf Bandcamp zu veröffentlichen. Jetzt habe ich vor, ein paar ältere Releases mit neuen Remixen von mir auf Vinyl zu veröffentlichen. Ich hatte das ganze letzte Jahr Angebote von Presswerken eingeholt, mit Plattenvertrieben verhandelt und dann alles bis ins Detail kalkuliert und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mein Vinyl im Eigenvertrieb über Bandcamp veröffentliche. Bei den kleinen Auflagen, die ich herstellen lasse, macht nur der Eigenvertrieb wirtschaftlich Sinn. Im März veröffentliche ich eine Doppel-12“ mit den Originalen und neuen Remixen von meinen Klassikern „Redlight District“ und „Destroy Him My Robots“, plus einigen anderen Stücken, insgesamt acht Tracks. Das ist der Anfang, wieder regelmäßig Vinyl zu produzieren. Meine neuen Alben erscheinen aber immer nur digital.

Das Artwork des (digitalen) Albums „Future Kids“

Bandcamp ermöglicht eine direkte Verbindung mit deinen Fans. Wie wichtig ist dir dieser direkte Austausch und wie unterscheidet sich das von anderen Vertriebswegen?

Der große Teil des Musikbusiness‘ ist eine clevere Ausbeutungsmaschinerie. Wenn man sich Abrechnungen von Vertrieben und professionellen Plattenfirmen anschaut, muss man sagen, dass bei dem Zahlenwerk keiner mehr durchblickt und es einem hier und da seltsam vorkommt, was da abgerechnet wird. Bandcamp ist mein Zuhause. Nur dort gibt es meine neue Musik, aber auch meinen restlichen Backkatalog. Die Datapunk-Sachen gibt es zusätzlich auch bei den bekannten Streaming-Anbietern. Meine neuen Sachen aber wie gesagt nur auf Bandcamp. Das ist für mich eine bewusste Abgrenzung vom kommerziellen Massenmarkt. Ich verzichte auf die Präsenz in diesem Markt, um mit meiner Musik einen ökonomischen Rahmen zu haben, der für meine kleine Künstlerwelt sinnvoll ist. Meine Musik ist nicht Mittel zum Zweck oder ein Promotion-Tool, um Gigs zu bekommen. Musik ist für mich das Wichtigste. Bei Bandcamp habe ich direkten Kontakt zu meinen Leuten und die Freiheit, wie und wann ich was veröffentlichen möchte. Der Preis für diese Abgrenzung ist, für die Streaming-Hörer nicht existent zu sein. So ist das mit der Subkultur, aber mir macht es so am meisten Spaß.

Wie hältst du deine Kreativität in Fluss, wenn du gleichzeitig Musik produzierst, neue Ideen entwickelst und technische Details wie das Mastering im Blick behalten musst?

Das ist wie das Leben selbst, es funktioniert mal besser und mal nicht so, wie man es gerne hätte. Durch konsequente Kontinuität im Studio baue ich mir einen imaginären Zeitpuffer, den ich dann in kreativen Down-Phasen zur Verfügung habe. Alle anfallenden Büroarbeiten und Verwaltungsaufgaben erledige ich immer sofort, um mich frei zu fühlen. Ich schiebe so gut wie nichts auf. Mit diesen kleinen Taktiken schaffe ich mir den größtmöglichen inneren Raum, kreativ zu sein und im Studio fokussiert experimentieren zu können. Ordnung ist für mich nur Mittel zum Zweck. Ich bin ordentlich, um mehr Zeit zum Musikmachen zu haben, um besser kreativ sein zu können, nicht, weil ich ein ordentlicher Mensch bin.

Deine Fans freuen sich jedes Jahr zu Weihnachten auf ein neues Album. Hat dieser jährliche Rhythmus für dich eine besondere Bedeutung oder ist er eher eine kreative Herausforderung?

Dieser Rhythmus ist vor Jahren durch Zufall entstanden und ich habe über die letzten Jahre bemerkt, dass der Zyklus von zwölf Monaten für mich perfekt funktioniert. Ich höre praktisch nie auf, Musik zu machen, und damit bin ich glücklich. Ich habe immer mindestens ein Ziel: mein Album im Dezember. Außer wenn ich toure, bin ich jeden Tag im Studio, und es erfüllt mich mit großer Freude. Meine ganze Kreativität und meine Haltung zu Projektanfragen sind meinem Jahresziel untergeordnet. Das gibt mir eine gute Struktur und lässt mich erkennen, was wichtig für mich ist. Das Album zu Weihnachten ist mein Chef, der mir sagt, was zu tun ist, mein Leitmotiv und ein Geschenk für meine Leute

Hier könnt ihr in das Album „Future Kids“ von Anthony Rother reinhören und dieses (digital) käuflich erwerben:

Tracklist „Future Kids“:
1. Take Me To The Future 05:55
2. Programmed And Televised 07:45
3. Technobeat-Electro 06:16
4. Do You Love Me 07:43
5. I’m Not Real 07:15
6. 3L3C7RONIC 07:14
7. I Feel Love 07:44
8. We Are Futurists 06:59
9. Lifetime Memory 08:12

Das Album „Future Kids“ von Anthony Rother ist am 23. Dezember 2024 via 3MULATOR exklusiv über die Bandcamp-Seite des Künstlers erschienen.

Aus dem FAZEmag 155/01.2025
Text: Rafael Da Cruz
Credit: Timo Schlenstedt
Web: www.instagram.com/anthony_rother