„Über den Wolken … muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …“ summte uns einst Reinhard Mey ins Ohr und löste damit bei vielen Menschen ein neues Gefühl der Abenteuerlust und Unabhängigkeit aus. So richtig „über den Wolken“ befinden wir uns meist aber nur dann, wenn wir im faradayschen Käfig eines Flugzeugs sitzen, geschützt durch Metallkonstruktionen und aus einem winzigen Fenster blickend. Anders ein gewisser Ben Böhmer, der im Rahmen eines Cercle-Livestreams einen Heißluftballon besteigen und seine träumerischen Deep-House-Klänge über der malerischen Landschaft Kappadokiens verbreiten durfte. Mit „Begin Again“ releaste der gebürtige Göttinger 2021 darüber hinaus ein Album, das bisweilen über 40 Millionen Streams einheimsen konnte und dem Protagonisten 30 bis aufs letzte Ticket ausverkaufte Shows auf dem gesamten Globus einbrachte. Am 15. Juni erscheint nun das heiß erwartete Remix-Album zu „Begin Again“, mit Beiträgen von The Blaze, HAAi, Matador, MEUTE und vielen mehr. Ben Böhmer befindet sich gerade wohl tatsächlich über den Wolken. Und darüber hinaus bei uns im Heft im Rahmen des großen Cover-Interviews. Viel Spaß beim Lesen.
Hallo, Ben, schön, dich bei uns zu haben. Was treibst du derzeit Feines?
Vielen Dank für die Einladung zum Interview. Aktuell befinde ich mich auf großer Nordamerika-Tour, war aber vorübergehend wieder kurzzeitig in good old Germany zu Gast, um Familie und Freunde zu treffen und ein wenig die Reserven aufzufüllen. Im Anschluss ging es dann wieder straight nach Kanada, wo ich meine Tour fortgesetzt habe. Insgesamt waren die letzten Wochen und Monate schon recht busy, zumal ich mich zwischenzeitlich mit Corona infiziert hatte und einige Gigs entsprechend nachgeholt werden mussten. Jetzt bin ich aber wieder voll dabei und genieße es sehr.
Corona ist ja aktuell kein allzu großes Thema mehr (zum Glück). Kurz darüber sprechen wollen wir aber dennoch. Die knapp zwei Pandemie-Jahre waren gerade für Künstler*innen eine Zeit voller Auswirkungen. Was hat der Lockdown mit Ben Böhmer gemacht?
Bis man realisiert hatte, was genau eigentlich gerade passierte, musste erst einmal ein wenig Zeit vergehen. Der Schock, den ich im Anschluss erlitt, war zwar prägnant, aber Gott sei Dank nur relativ kurzweilig. Ich habe es dann recht schnell geschafft, mir die positiven Aspekte der Pandemie zunutze zu machen, wozu auch Selbstreflexion zählt. Vor der Krise bin ich jedes Wochenende von A nach B nach C gereist, ohne die Emotionen und Erlebnisse, die an die Auftritte gekoppelt sind, überhaupt nachhaltig reflektieren zu können. Mit dem plötzlichen Break und der damit einhergehenden Entschleunigung konnte ich wieder mehr Freude und vor allem Zeit im alltäglichen Leben finden: Sport machen, Freunde treffen etc. Ich glaube, so eine Pause tut jedem Künstler mal gut.
Versuchst du denn, aus dieser Zeit gewisse Tugenden mit in die Post-Corona-Zeit zu integrieren?
Ich will es auf jeden Fall probieren, allerdings ist das leichter gesagt als getan. Gerade in 2022, wo es wieder mit Touren und Festivals losgeht, will man natürlich so einiges aufholen. Fakt ist aber, dass meine Trips nun besser geplant und strukturiert sind, sodass keine unnötigen Wege entstehen und man seinen ökologischen Fußabdruck zumindest ein wenig reduzieren kann.
Sprechen wir doch direkt einmal über die aktuelle Tour. Kannst du da ein bisheriges Highlight ausmachen?
Besonders gefallen hat mir unter anderem der Auftritt in Vancouver. Die Crowd war einfach super und auch generell sind die Leute in Nordamerika sehr offen und herzlich. Das Feedback war echt überwältigend. Ein weiteres Highlight war mein Konzert im Fonda Theatre in Los Angeles – eine sehr geschichtsträchtige Venue direkt am Hollywood Boulevard. Legendäre Bands wie Nirvana, The Red Hot Chili Peppers oder Coldplay haben dort schon gespielt. Sich mit solchen ikonischen Musikern und Musikerinnen eine Bühne „teilen“ zu dürfen, ist schon eine echte Ehre für mich.
Das glauben wir gerne. Du blickst nun schon auf mehrere Tourneen in den USA und vielen weiteren Ländern zurück, aber die Welt ist bekanntlich groß. Wo möchtest du unbedingt mal auftreten? Was steht noch auf deiner Bucket List?
Ich möchte auf jeden Fall noch einmal nach Kolumbien zurück. 2019 habe ich dort in Medellín auf einem Festival gespielt und das ganze Szenario, von der Atmosphäre bis hin zum Setting und der Crowd, war einfach unglaublich. Ich freue mich riesig auf meine erste Südamerika-Tour, die bald stattfinden wird. Mich erreichen schon ständig Nachrichten aus Brasilien und Co., in denen meine Konzerte herbeigesehnt werden. Ein tolles Gefühl, für das ich sehr dankbar bin. Jetzt ist es endlich bald so weit.
Andere Länder, andere Sitten. Konntest du bei deinen internationalen Touren Unterschiede in den jeweiligen Feierkulturen ausmachen? So ein Gig in Asien läuft doch sicher ganz anders ab als in Europa, oder?
Ohja, definitiv. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir meine erste Tour in Indien. Das Publikum ist da sehr laut und lässt einen sozusagen hören, dass es ihm gefällt. Es wird viel gesungen und mitunter auch geschrien, was ja bei elektronischer Musik – zumindest im westlichen Raum – eher selten der Fall ist. Entsprechend habe ich am Anfang eine kurze Phase der Eingewöhnung benötigt.
Wie sieht es im Allgemeinen mit deiner internationalen Fanbase aus? Die wächst vermutlich stetig, aber bist du im globalen Raum schon genauso bekannt wie hierzulande?
In den letzten Jahren habe ich tatsächlich häufiger in Amerika gespielt als in Deutschland. Die Nachfrage war noch größer und ich konnte dort auch einfach mehr Präsenz zeigen. Gleiches gilt unter anderem für Indien, wo das Interesse trotz der Pandemie enorm gestiegen ist. Meine kommende Indien-Tour ist bereits vollständig ausverkauft, was mich natürlich unglaublich freut. Das soll im Umkehrschluss aber nicht heißen, dass die Entwicklung meiner Fangemeinde in Deutschland ins Stocken geraten ist. Ganz im Gegenteil. Im Rahmen der zweiten „Begin Again“-Tour finden wieder vermehrt Shows in Europa statt, wie unter anderem im Berliner Velodrom mit 5.000 Besucher*innen. Das ist schon eine krasse Nummer, die mich ganz schön umhauen wird. Fühlt sich schon fast surreal an.
Surreal ist ein gutes Stichwort für unser nächstes Thema. Während des Lockdowns hast du ein Set für Cercle gespielt. Die sind ja bekannt für ihre ausgefallenen Locations, aber das Setting, das für dich hergerichtet wurde, sprengt nochmal alles: ein Heißluftballon. Erzähl mal, wie war‘s und wie wurde das überhaupt technisch umgesetzt?
Vorneweg: Es war mit Abstand die krasseste Erfahrung, die ich jemals in meinem Leben hatte. Das Cercle-Team hat rund acht Monate an der Idee gefeilt und erst zwei Wochen, bevor es losging, bekam ich den Anruf, dass ich das Set auf einem Heißluftballon spielen würde. Anfangs wusste ich überhaupt nicht, was ich sagen sollte, zumal ich Höhenangst habe und demzufolge weder je in meinem Leben mit einem Heißluftballon geflogen war, noch jemals Interesse daran hatte, dies zu tun. Jetzt war offenbar der Zeitpunkt gekommen …
Wir sind also nach Kappadokien in der Türkei geflogen – eine wunderschöne Gebirgslandschaft – wo es ans Eingemachte ging. Allein die technische Umsetzung war schon eine Meisterleistung, da man in derart luftiger Höhe nur eine sehr schlechte Verbindung hat und das Ganze ja sogar live übertragen werden sollte. Des Rätsels Lösung war ein Gerät mit acht SIM-Karten, das eine Verbindung zu einem Truck, der unter dem Ballon fuhr, herstellte. Keine Ahnung, wie das genau funktioniert hat, aber allein, dass acht SIM-Karten benötigt wurden, spricht ja schon für sich (lacht). Auf dem Ballon selber hat uns dann ein Generator mit Strom versorgt, der allerdings nicht sonderlich powerful war, sodass beispielsweise keine High-End-Lautsprecher eingesetzt werden konnten. Weil die Geräuschkulisse aber sowieso extrem laut da oben ist, habe ich das Set dann mit meinen Beyerdynamic-Kopfhörern gespielt.
Sprechen wir doch kurz über ein Ereignis, das ebenfalls große Wellen schlug. Jedoch eher im negativen Sinne. Gemeint ist das Soundstorm Festival in Saudi-Arabien, wo im vergangenen Dezember so ziemlich alles, was Rang und Namen innerhalb der elektronischen Szene besitzt, auftrat. Das Event wurde bekanntlich von der saudischen Regierung finanziert, die ja seit geraumer Zeit arg in der Kritik aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und dergleichen steht. Wie stehst du zu der Sache? Kann man es als international renommierter Act moralisch mit sich vereinbaren, dort zu spielen?
Das ist für mich gar keine Frage. So etwas sollte auf keinen Fall unterstützt werden, zumal es in keinerlei Hinsicht den Werten und Normen der elektronischen Szene entspricht. Gleiches gilt aber auch für zahlreiche andere Massen-Events, wie zum Beispiel die Fußball-WM in Katar, wo beim Bau der Stadien Tausende Menschen ihr Leben lassen mussten.
Widmen wir uns doch wieder erfreulicheren Themen. Zum Beispiel deiner musikalischen Laufbahn. Wie ist deine Liebe zur elektronischen Musik entstanden?
Oft sind es singuläre Erlebnisse, die einen zu seiner zukünftigen Passion bringen. In meinem Fall war das der Film „Berlin Calling“ mit Paul Kalkbrenner, den ich 2010 zum ersten Mal sah. Ich habe zwar schon davor selber instrumentelle Musik gemacht – mit dem Klavierspielen bin ich schon sehr früh in Kontakt gekommen – aber die Produktion elektronischer Musik war dann eine völlig neue Dimension für mich, in die ich unbedingt eintauchen wollte. Der Film „Berlin Calling“ und auch das Album haben einen wesentlichen Beitrag für diese Entwicklung geleistet. Paul Kalkbrenner ist für mich immer noch die Musik von morgen – prägend für den gesamten elektronischen Kosmos und unglaublich faszinierend.
Und das war dann der Startschuss für die Karriere von Ben Böhmer …
Kann man so sagen. Die Vorstellung, mit dem Rechner Musik zu machen, hat mich sofort gecatcht, und kurze Zeit später habe ich mir dann FL Studio heruntergeladen und angefangen, selber zu produzieren. Der Anfang war sehr stockend, zumal es 2010 noch kaum Tutorials oder Ähnliches gab. Andererseits waren diese Umstände, glaube ich, sehr förderlich für meine Entwicklung, da ich mir alles selber beibringen und mich sehr intensiv mit der Materie befassen musste. Meine ersten hörbaren Releases gingen dann 2014 an den Start, die ich dank Kontaktknüpfungen in der Berliner Szene mit mehr oder weniger Erfolg unter die Leute bringen konnte.
Ein essenzieller Meilenstein für deine Karriere erfolgte dann im Jahr 2017 mit einem Release auf deinem jetzigen Label Anjunadeep …
Genau. Anjunadeep bat mich damals, Demos einzuschicken, und der Aufforderung kam ich selbstverständlich nach. Tracks wie „After Earth“ und „Flug & Fall“ wurden direkt gesignt und stießen auf ein sehr positives Feedback, was mir weitere Schritte im Business und internationale Auftritte bescherte. Zuvor hatte ich lediglich ein paar Gigs in Deutschland in meiner Vita stehen und plötzlich spielte ich auf der ganzen Welt. Das war schon sehr überwältigend.
Auf besagtem Anjunadeep erscheint nun am 15. Juni auch das Remix-Album zu deiner Erfolgs-LP „Begin Again“. Wie kam es dazu und wie habt ihr die Artist-Selection getroffen?
Ich bin allgemein ein großer Fan von Neuinterpretationen und gerade für Alben ist so eine Remix-LP ein tolles Add-on, um das Gesamtprodukt noch diverser und ausgefeilter zu gestalten. Die Auswahl hinsichtlich der Remix-Künstler und -Künstlerinnen geschieht bei uns immer kollektiv im Team. Es werden Vorschläge unterbreitet und anschließend wird zusammen evaluiert, ob der jeweilige Artist musikalisch dazu passt. Schönerweise haben viele Künstler*innen während der Pandemie viel Zeit gehabt, sodass wir aus einem recht großen Pool wählen konnten. Besonders gefreut hat mich das bei The Blaze, die normalerweise nie Remixes machen. Da fühlt man sich dann auch als Originalkünstler sehr wertgeschätzt.
Das Release des Originalalbums ist ja noch gar nicht so lange her. Vielleicht kannst du uns abschließend noch ein wenig über „Begin Again“ erzählen. Konntest du beim Produktionsprozess eine Entwicklung bei dir festmachen, gerade im Hinblick auf die Vorgängeralben?
Der Lockdown hat dazu beigetragen, dass ich intuitiver ans Produzieren herangegangen bin, und das spiegelt sich meiner Meinung nach auch auf „Begin Again“ wider. Bei den Vorgänger-LPs hatte ich oft eine klare Idee, an der ich mich festgehalten habe. Durch dieses „Loslassen“, wie es bei „Begin Again“ geschehen ist, sind dann wiederum völlig neue Dinge entstanden, die auch den Sound und die Einflüsse des Albums verändert haben. Gute Beispiele hierfür sind „Matter of Time“ – ein 134-BPM-Track – und „Escalate“, ein Stück mit vielen Indie-Komponenten und leicht rockigem Touch. Solche Tracks hätte vorher wohl niemand von mir erwartet.
„Begin Again“ (Remixes) mit Neuinterpretationen von The Blaze, HAAi, Matador, Rezident, Barry Can’t Swim, niia und MEUTE erscheint am 15. Juni via Anjunadeep.
Tourdaten Europa:
02.06. NorthSide, Aarhus (Dänemark)
03.06. Distortion, Kopenhagen (Dänemark)
13.06. Cova Santa, Ibiza (Spanien)
18.06. Junction 2, London (UK)
19.06. Explorations, Dhermi (Albanien)
29.06. Balaton Sound, Zamardi (Ungarn)
01.07. Kappa Futur Festival, Turin (Italien)
02.07. Barutana, Belgrad (Serbien)
04.07. Cova Santa, Ibiza (Spanien)
14.07. Electric Castle, Cluj (Rumänien)
15.07. Rituel Days, Paris (Frankreich)
17.07. Dour Festival, Dour (Belgien)
18.07. Cova Santa, Ibiza (Spanien)
29.07. Audiodriver, Plock (Polen)
30.07. Tension Festival, Basel (Schweiz)
01.08. Cova Santa, Ibiza (Spanien)
12.08. Brunch In The City, Barcelona (Spanien)
14.08. WECANDANCE, Zeebrugge (Belgien)
Aus dem FAZEmag 124/06.2022
Text: Hugo Slawien
Foto: Tobias Schult
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