Ben Haviour – Die Kraft der Erinnerung

Foto: Antje Taiga Jandrig

Muss Melancholie zwingend etwas Schlechtes sein? Nein, findet der Weimarer Produzent Ben Haviour, und schickt mit „Melancholy Rave“ sein Debütalbum ins Rennen, das nicht etwa – wie es die offizielle Begriffsdefinition vorgibt – von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität geprägt ist, sondern vielmehr als Ausdruck von Sehnsucht und Bewältigung interpretiert werden kann. Und so entführt uns der gebürtige Sachse aus Mittweida auf einen nostalgischen Trip durch die Vergangenheit, geprägt vom Schwelgen in Erinnerungen, von jeder Menge Überraschungen und einer geballten Portion Intuition. Das musikalische Resultat ist ein eleganter Spannungsbogen aus innovativer Electronica und roughem Post-Rock, angesiedelt zwischen analoger Wehmut und digitaler Leichtigkeit.

Ben Haviours musikalische Reise beginnt in Chemnitz. Zwischen 2005 und 2010 wurde er hier in verschiedenen Clubs der Stadt sozialisiert. Eine Zeit der Subkultur und Vielseitigkeit, die ihn bis heute prägt und auch auf „Melancholy Rave“ immer wieder zum Vorschein kommt: „In Chemnitz bin ich im Cube Club, Voxxx und Südbahnhof das erste Mal mit elektronischer Musik in Kontakt gekommen. Von Drum & Bass, Dubstep, Dancehall, Techno über Experimental war alles dabei. Hinzu kamen Genres wie Gothic, Surf Rock, Punk und Hardcore. Die Mischung aus all diesen Stilen hat mich sehr beeinflusst. Das Album ist wahrscheinlich ein Versuch, diesen Vibe einzufangen und zu konservieren“, erklärt Haviour, der an der Bauhaus-Universität Mediengestaltung und Sounddesign studierte. Die Früchte dieser Ausbildungsarbeit erntet er seit 2015 und befüllt regelmäßig die Kataloge auf internationalen Labeln wie Traum Schallplatten, RFT, Miracle Music und Bad Bat Records. Zudem betreibt er mit Alien Allies sein eigenes Imprint, auf dem auch „Melancholy Rave“ erscheint.

Nach Aufenthalten in Island und Berlin ist Ben Haviour mittlerweile wieder in Weimar gelandet. Der deutschen Hauptstadt konnte er während seiner mehrmonatigen Residenz nur wenig abgewinnen: „Ich habe schnell gemerkt, dass es mich im Alltag mehr nervt als, dass es mich inspiriert. Ich habe erwartet, dort besser netzwerken zu können, was ein Irrtum war. In Reykjavík und Weimar fühle ich mich eindeutig wohler. Vielleicht komme ich irgendwann nicht mehr drumherum, einen Zweitwohnsitz in Berlin zu haben, aber trotzdem werde ich Wohnorte mit mehr Bezug zur Natur immer vorziehen.“ Und so wundert es nicht, dass Ben vom „blauen Himmel im Kontrast mit gelben Blättern“, vom „Geräusch des Windes“ und vom „Wald in Nebel gehüllt“ erzählt, wenn er von Erinnerungen spricht, die bei ihm mit „absurd starken Glücksgefühlen assoziiert sind“. Doch ist er auch ein Kind der 90er-Jahre: „… vor Glück strahlende Gesichter im Strobolicht, das Geräusch des VHS-Recorders beim Überspielen des neuen ZERO-Skatevideos, was dein bester Freund dir geliehen hat, der Geruch der Lederjacke nach einer ganzen Nacht im Club – mein Kopf komponiert einfach den Soundtrack dazu und ich versuche, es dann umzusetzen“, erläutert er. Genauso geschehen im Herbst 2022, als Ben Haviour sich mit seinem Prophet-Synthesizer in ein Hotel in Leipzig einquartierte, um sich der Vergangenheit zu stellen. Am Ende dieser Konfrontation, die ihn über Unbeschwertheit, Rastlosigkeit, Zufriedenheit, Liebeskummer, Geborgenheit bis hin zur Ekstase führte, steht „Melancholy Rave“, das nun auf seine Album-Release-Tour wartet. Diese beginnt am 7. Oktober im Weimarer Zebra und wird mutmaßlich bis über die Festival-Saison 2024 andauern. Schon bald darf also wieder in Erinnerungen geschwelgt werden.

„Melancholy Rave“ ist am 29. September via Alien Allies erschienen.

Aus dem FAZEmag 140/10.2023
www.instagram.com/benhaviour
Text: Hugo Slawien
Foto: Antje Taiga Jandrig