Booka Shade – Erfolg ist, wenn man trotzdem lacht

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Die durchschnittliche Dauer einer Ehe beträgt enttäuschende 14 Jahre. Die musikalische Beziehung von Arno Kammermeier und Walter Merziger hält schon bedeutend länger, auch wenn ihr Booka Shade getauftes Baby erst vor rund zehn Jahren ins Rampenlicht der elektronischen Musikszene rückte. Nach 15 Jahren Produktionsarbeit im Hintergrund des vermaledeiten Popbusiness gelang beiden in einer Nacht- und Nebelaktion der Absprung. Ihre Entscheidung, sich trotz aller finanzieller Sicherheit aus den Fängen der Popindustrie zu lösen und noch einmal ganz von vorn anzufangen, brachte das mit DJ T. und den M.A.N.D.Y.s gegründete Label Get Physical, Hits wie „Mandarine Girl“ und „Body Language“ und bis dato vier Alben hervor. Und sie brachte Walter und Arno ihren Seelenfrieden zurück. Ihr fünfter Longplayer„Eve“ erscheint nach ihrem zwei Jahre zurückliegenden Ausstieg bei Get Physical nun bei Embassy One/Blaufield Music. Im Embassy-Büro treffe ich die zwei dann auch an einem sonnigen Freitagmorgen im September zum Interview.

Mit „Eve“ ist Arno und Walter ein glänzendes Stück elektronischer Musik mit vielen Facetten gelungen, das durch seine Zeitlosigkeit besticht, ohne dafür den Zeitgeist zu vernachlässigen. Schubladen für ihren Sound zu finden, war schon immer unmöglich, und daran ändert auch dieser Longplayer nichts. Sich selbst zu wiederholen gehört ebenso wenig zum Konzept Booka Shades, wie sich ständig komplett neu zu erfinden. Nach all den gemeinsamen Jahren im Studio ist es wohl kein leichtes Unterfangen, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden? „Es war bisher das schwerste Album. Abgesehen von zwei Maxis in den 90ern auf Touché, die keiner mehr kennt, gibt es uns jetzt seit zehn Jahren als Booka Shade. Als wir seinerzeit mit Get Physical starteten, war das äußerst romantisch. Sechs Freunde, die zusammen Musik machten. Wir gegen den Rest der Welt. Das war ein ganz anderes Gefühl als das, was wir vorher erfahren hatten. Der Erfolg von ‚Memento‘ in 2004 und ‚Movements‘ in 2006 hat uns dann total überrollt“, erinnert sich Walter an die Anfänge. Als Folge dieses Erfolgs wuchs Get Physical enorm hoch und enorm schnell und brachte die Frage mit sich, wie es für Booka Shade musikalisch weitergehen sollte. Nach „The Sun & The Neon Lights“ verließen die zwei den schützenden Get Physical-Hafen und waren auf sich allein gestellt. 2010 erschien mit „More“ das vierte Album der Wahlberliner bei Cooperative Music. „Wir waren fürs Coachella Festival gebucht, was uns massiv unter Druck setzte, das Album vorher fertig zu stellen. Da sind dann viele Sachen schief gelaufen – von der Musik bis zum Artwork. Das stand unter keinem guten Stern. Diesen Fehler wollten nicht noch einmal machen.“ Und doch stand wieder Coachella vor der Tür, und erneut war das Album nicht zufriedenstellend im Kasten. „Es ist eine wahnsinnige Ehre, dort eingeladen zu sein. Die Red Hot Chili Peppers als kalifornische Band haben in diesem Jahr zum ersten Mal dort gespielt. Daran sieht man, wie schwer es ist, dort reinzukommen. Und wir sind zudem Headliner einer Bühne, was für einen deutschen Act noch sensationeller ist. Da kannst du dann nicht einfach anrufen und absagen.“

Und dann kam Eve. In diesem Fall bedurfte es allerdings keiner Frau, um das Problem zweier Männer zu lösen, sondern einer neuen Herangehensweise und eines anderen Surroundings. Die EVE Studios in Manchester sind ein „residental vintage recording studio“, in dem man rund um die Uhr mit rarem Equipment arbeiten und vor Ort auch gleich wohnen kann. „Dort haben wir uns wieder wie ein Band gefühlt, das hat uns den nötigen Kick gegeben.“ Coachella hat man zwar dennoch ohne neues Album spielen müssen, dafür liegt nun aber ein Produkt vor, mit dem die Künstler zu 100 Prozent glücklich sind – von der Musik bis zum Artwork. „Natürlich hat auch ‚More‘ gute Elemente. ‚Regenerate‘ und ‚Teenage Spaceman‘ sind gute Songs“, meldet sich nun auch Arno zu Wort. „Nur in der Gänze war es nicht so die perfekte Zeit. Du hast ja nicht nur die Zeit, die du in das Album steckst, du hast danach ca. zwei weitere Jahre, in denen du damit auf Tour bist.“ Als „Eve“ schlussendlich als fertig galt, war das genau der Punkt, der Arno und Walter bei „More“ gefehlt hatte – die totale Zufriedenheit mit dem eigenen Produkt und dessen musikalischer Aussage. „Wir haben nun mal keinen Sänger, keine Stimme, die du sofort erkennst, und so müssen wir uns über den Sound definieren“, erklärt Walter die Krux daran. „Es gibt Songs, bei denen du sofort hörst, dass es Booka Shade ist, weil wir gewisse Dinge auf eine besondere Art angehen. Die passen mal in die Zeit, mal nicht. Es ist ganz schwierig, diesen Sound, den du über Jahre kreiert hast, in die Jetztzeit zu transportieren, ohne dabei deine Identität zu verlieren oder irgendwelchen Trends hinterher zu rennen.“ Und so geht es bei Booka Shade nicht um die schnelle Nummer Eins, sondern um das Album als Gesamtkunstwerk und die Möglichkeit, es auch in fünf oder zehn Jahren noch anhören zu können, ohne dass es wie aus der Zeit gefallen wirkt. Sicherlich erfüllt auch „Eve“ diesen Anspruch, und maßgeblich daran beteiligt – und daher wohl auch Namenspatron – waren die besagten Studios in Manchester. Doch nicht nur. „Da kamen einige Sachen zusammen. Klar, das Studio heißt EVE, dort hatten wir die beste Zeit seit langem“, so Arne, und weiter: „Das Artwork von der Agentur La Boca kam dazu, auf dem man das Gesicht eines Mädchens sieht. Da stellte sich dann die Frage, wer dieses Mädchen wohl ist. Eve? Das V in Eve könnte auch für das fünfte Album stehen …“ Walter fügt an: „Es gibt zwar von Alan Parsons Project schon ein ‚Eve‘-Album, aber das Ganze ist auch noch nicht total überstrapaziert. Unsere Musik hat eher weiblichere Töne als die harte Fraktion aus dem Berghain. Daher war der Name naheliegend. Den Besitzer der EVE Studios freut es.“ Eine dem iTunes-Download beigefügte Dokumentation über die Zeit im Studio in Manchester wird – um die Sache so richtig rund zu machen – von einer „Eve“ aus dem Off begleitet.

Ein möglicher Name für Album wäre auch „Fritz“ gewesen, immerhin finden sich auf der Liste der Gäste gleich zwei Männer mit diesem Vornamen. Zum einen ist da Fritz Helder von Azari & III, zum anderen Fritz Kalkbrenner. Und gerade der Track mit Kalkbrenner wirft Fragen auf, meint man ihn doch schon bei den ersten Takten von „Crossing Borders“ – noch weit vor dem Einsetzen seiner Stimme – am Sound zu erkennen. Ein Zufall, oder hat Fritz Kalkbrenner doch nicht nur als Gastvokalist fungiert? „Es ist wirklich der einzige Track, der nicht die typische Booka Shade-Trademark-Geschichte aufweist. Man kann tatsächlich glauben, dass er daran mitgearbeitet hätte, hat er aber nicht“, versichert Walter. „Es gibt aber eine gewisse Art von Sound, die passt einfach super zu seiner Stimme.“ – „Es gab ein Grundplayback, das wir Fritz geschickt haben“, erzählt Arno die ganze Geschichte. „Er ist dann zu uns ins Studio gekommen, hat den Text fertig geschrieben und vorgesungen, und dann haben wir es aufgenommen. Anschließend haben wir uns den Song aber noch einmal vorgenommen, und er hat sich noch einmal komplett geändert.“ Wie Fritz K. kam auch Fritz H. mit konkreten Ideen zu Booka Shade ins Berliner Studio. Walter: „Fritz Helder kam direkt von einer Party, hatte einen Stift dabei, hat nach einem Stück Papier gefragt und das dann aufgeschrieben. Danach hat sich der Song aber auch noch mal extrem verändert.“ Und während diese Gäste den Sound des Albums mitgeprägt haben, hat auch der Sender ARTE seinen Teil dazu beigetragen. Zumindest hinsichtlich des Tracks „Maifeld“, der – wie dieAlbuminfo verrät – auf Monumentalarchitektur und gigantomanische Pläne verweist. Maifeld – für alle Nichtberliner und Geschichtsschwachen – ist die Sportrasenfläche vor dem Olympiastadion, die 1936 von den Nationalsozialisten als Platz für die Mai-Aufmärsche und andere Propaganda-Veranstaltungen angelegt wurde. Sie dient heute u. a. als Austragungsort großer Konzerte. Eine eher ungewöhnliche Inspirationsquelle, die auf einen Abend Walters vor dem Fernseher verweist: „Es ist einer unserer düstersten Tracks der letzten Jahre. Ich habe eine Dokumentation über Hitlers Architekten und deren Bauwerke gesehen. Das war kolossal beeindruckend – das Monumentale, die Dimensionen. Am nächsten Morgen bin ich ins Studio gegangen, und da waren dann noch immer diese Eindrücke, durch sie entstand dieser Song. Er ist so geblieben, wie ich ihn an dem Tag aufgenommen habe.“ Dass ARTE und Berlin zu einem Stück inspirieren, bleibt trotz der Effektivität des Ergebnisses eher eine Rarität im Berufsleben Booka Shades. Weit mehr Ideen entwickeln sich in fremden Ländern, an anderen Orten, während des Reisens. „Wir sitzen viel an Flughäfen und in Hotelzimmern, in Lounges und Restaurants – dort entstehen die Layouts, dort hast du wahnsinnig viele Eindrücke. Die Musik im Radio, die von Land zu Land und Kontinent zu Kontinent unterschiedlich ist. Ich denke schon, dass es extrem beeinflussend ist, wo die Sachen entstehen“, ist sich Walter sicher und wird in seiner Meinung von Arno unterstützt: „Das Reisen überhaupt, die Leute die du triffst, das geht nicht einfach alles so an einem vorbei. Doch nicht nur das: Wir haben zudem diesmal noch mehr Sachen live aufgenommen. Natürlich ist das dann alles noch in den Computer gegangen und klingt trotzdem elektronisch, das war uns schon wichtig.“ Am Ende ging es Arno und Walter um den Flow des gesamten Albums, nicht um den einen großen Hit und ausreichend Füllmaterial drumherum. „Das war schon immer so. Hits wie ‚Body Language‘ und ‚In White Rooms‘ haben sich dann später herauskristallisiert, die haben wir vorher gar nicht so gesehen“, verrät Walter und ist heute sicherlich dankbar, nicht allzu beratungsresistent gewesen zu sein. „‚In White Rooms‘ wäre von uns aus sogar fast rausgeflogen und ist dann zu einem unserer größten Hits geworden. Auch bei ‚Body Language‘ musste man uns ein Dreivierteljahr breit quatschen, damit wir es als 12Inch veröffentlichen, und erst dann ist es zu dem geworden, was es heute ist …“ Ein Erfolg, der nachhallt.

Nicht jeder Hit bringt auch gleich die persönliche Erfüllung mit sich, wie Walter und Arno vor Booka Shade erfahren mussten. Eine Erkenntnis, die es ihnen heute ermöglicht, den Fokus anderes auszurichten als nur auf den einen großen Hit. „Das hatten wir ja vorher, als wir für die Charts produziert haben und immer daran gemessen wurde, wie viele Platten wir verkauft hatten“, resümiert Walter. „Dann haben wir realisiert, dass das scheiße ist. Ich stand vor der Wand mit 300 selbst produzierten Platten, mit denen wir ja sehr erfolgreich waren, und fragte mich, welche davon ich mir noch mal anhören wollte.“ – „Was würdest du davon deinen Kindern vorspielen, worauf bist du wirklich stolz?“, fragte sich Arno, und die eindeutige Antwort beider war: „Nichts!“ Heute verkaufen sie zwar nur einen Bruchteil dessen, was damals über die Ladentische ging, doch sind die Nachhaltigkeit ihrer Produktionen und der Respekt der Kollegen weitaus höher. „Uns hätten damals niemals Leute wie Björk, Moby, Sigur Rós oder Depeche Mode um einen Remix gebeten“, ist Walter sich sicher. „Wir haben alles geremixt, was wir jemals remixen wollten – und das alles in den letzten zehn Jahren. Davor war nichts. Da kam nur mal ein Popsternchen an und wollte was. Ja, was habe ich denn davon? (lacht) Dabei waren wir anfänglich schon verunsichert. Wir hatten einen Nummer Eins-Hit in Deutschland, und am selben Tag habe ich meine Sachen gepackt und bin weggelaufen.“ Der Drang nach Veränderung war so groß, dass auch der finanzielle Aspekt nichts ausrichten konnte. „In den 90ern waren die Charts die Bibel. Dann hast du die erste Nr. 1, dann willst du nächste und die nächste … das hört ja nicht auf. Doch irgendwann kommst du an einen Punkt, an dem du ausgebrannt bist. Trotzdem war es hart und risikoreich, diese Entscheidung zu fällen.“ Fast scheint es allerdings, als hätten Arno und Walter ein Abo auf Erfolg, denn auch ihr mit Philipp Jung, Patrick Bodmer und Thomas Koch gegründetes Label Get Physical entwuchs sehr schnell den Kinderschuhen und wurde zu einem der wichtigsten Labels der Szene – und das sogar international. Doch auch hier strichen die zwei 2010 die Segel, um sich mit Blaufield Music neu und vor allem bewusst wieder kleiner aufzustellen. „Wir hatten eine fantastische Zeit mit Get Physical, ein paar Kreative, die da zusammenkamen. Das war erst mal toll. Doch je größer das Ganze wurde, desto mehr Politik kam ins Spiel, Budgetierung etc. Da stellte sich dann heraus, dass es doch nicht so toll ist, wenn nur Kreative dabei sind, aber keiner, der wirklich was davon versteht. (lacht) So lange immer genug Geld da war, war das alles kein Problem, doch kamen irgendwann die finanziellen Probleme. Am Ende war es uns wichtiger, dass wir alle Freunde bleiben, daher entschieden wir uns für den Ausstieg. Blaufield soll nun kein neues Get Physical werden. Es soll vor allem unsere Plattform sein. Wenn wir aber die richtigen Leute treffen, dann bringen wir auch von denen mal etwas heraus.“ Und so hat man sich dazu entschlossen, für die Veröffentlichung von „Eve“ zu den Kollegen von Embassy One zu wechseln, die sich nun um das Geschäftliche kümmern und den Kreativen das Kreative überlassen. Und die toben sich dann bei der Entwicklung ihrer neuen Lives-Show aus, die soeben beim Amsterdam Dance Event Premiere feierte. Im November nun stehen einige Albumpräsentationshows in Gent, London, Paris, Basel, Madrid und Moskau an. Die Heimat taucht in dieser Aufzählung übrigens nicht auf. „Eine Deutschlandtour soll 2014 folgen. Wir haben Deutschland sträflich vernachlässigt, das wollen wir in der Zukunft unbedingt ändern.“ Zwei Männer, ein Wort!

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