Coldcut & Mixmaster Morris – Balanceakt für den guten Zweck

Credit: Liam Ricketts

Die sich um den gesamten Globus ziehende Reputation von Matt Black und Jonathan More ist durchaus beeindruckend. Die Briten veröffentlichten im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht nur unzählige erfolgreiche Singles und Langspieler, mit der Gründung von Ninja Tune – das heute zu einem der renommiertesten Plattenlabels der Musikwelt gilt – haben sie unzählige Genres maßgeblich beeinflusst und den Weg für eine Vielzahl von heute äußerst bekannten Künstler*innen geebnet.

Nun veröffentlichen Coldcut mit „@0“ eine Sammlung von bislang unveröffentlichten Ambient-Tracks, von ihnen in zusammengestellt und sequenziert (auf Vinyl und digital). Für das Projekt kollaborierten sie dazu mit Mixmaster Morris. Mit einer riesigen Auswahl an neuen Ambient- und Klassikstücken, die allesamt zum ersten Mal veröffentlicht werden, enthält diese Sammlung Musik von Legenden sowie von Newcomer*innen zugleich. 50 Prozent der Einnahmen spendet Ninja Tune dabei an die drei Charity-Organisationen CALM (Campaign Against Living Miserably), Mind und Black Minds Matter, um auf die Bedeutung psychischer Gesundheit aufmerksam zu machen. Veröffentlicht wird das Werk auf „Ahead Of Our Time“, dem ersten Label des Duos und heutigem Sub-Label von Ninja Tune. Ihr lest ein Interview mit Matt Black.

Matt, Glückwunsch zu diesem Mammut-Projekt. Matt, du hast gesagt „@“ sei ein „Balancepunkt“…

„@0“ bezieht sich auf den Grenzzustand, den ich oft erlebt habe, als meine mentale und emotionale Stabilität nicht 100 Prozent fest war und ich mich wie auf einer Null-Achse fühlte, kurz vor dem Absturz in die Depression oder, seltener, in die Manie. Ich fand heraus, dass Ambient-Musik, die keine psychischen Anforderungen stellt, oft einen gewissen Raum öffnete und mit ihrer sanften Faszination die Energie subtil anhob, was dazu beitrug, diese Abwärtsspirale zu vermeiden und langsam nach oben und aus dem Dilemma hinauszunavigieren. Daher bezeichne ich „@0“ als einen Balancepunkt.

Wie kam es zur Depression?

Als Erwachsener habe ich mein ganzes Leben lang mit meiner geistigen und emotionalen Stabilität zu kämpfen gehabt. Ich könnte es als einen leichten Hang zur Depression bezeichnen, bei dem ich oft das Gefühl hatte, das Leben nicht ausreichend zu genießen oder ein langweiliger oder schrecklicher, kalter oder nutzloser Mensch zu sein. Das Gefühl der Wertlosigkeit hat mich oft gepackt, und die Musik war eines der Dinge, die mir geholfen haben, dem zu entkommen und mir einen Ausweg zu bieten. Mir ist auch klar geworden, dass viele Menschen solche Gefühle haben und dass ich nicht allein bin. Manchmal spüre ich, wenn ich kurz davor bin, in eine schwere Depression zu geraten. Es ist ein bisschen wie mit dem Wetter: Es gibt Anzeichen für das, was kommen wird. Ich muss sagen, dass sich meine geistige und emotionale Stabilität in den letzten zehn Jahren sehr verbessert hat. Das verdanke ich vor allem der Meditationstechnik „Short Moments“, auch „Balanced View“ genannt, die von einer Amerikanerin namens Candice O’Denver populär gemacht wurde. Sie ist eine Form des Dzogchen-Buddhismus. Außerdem habe ich mich mit meiner Frau Dinaz Stafford zusammengetan, die heute den größten Einfluss auf mein Leben hat, da sie eine sehr herzliche, liebevolle und glückliche Person ist. Sie gibt mir den dringend benötigten Ausgleich und die Inspiration für meine manchmal introvertierte Persönlichkeit.

Das Ergebnis ist eine beeindruckende 29-Track-Compilation mit Pionier*innen, aber auch Newcomer*innen. Wie war die Auswahl der Tracks und die Arbeit mit allen Künstler*innen?

Ursprünglich dachte ich, wir würden nur eigene Stücke und auch Tracks von Freund*innen verwenden. Aber Adrian Kemp von Ninja Tune, der das Label betreibt, schlug vor, dass wir versuchen könnten, einige bekanntere Künstler*innen zu fragen. Also haben wir eine Liste mit unseren Lieblingskünstler*innen aus den Bereichen Ambient und moderne Elektronik erstellt und diese in die engere Wahl gezogen. Die erste Künstlerin, die positiv auf unsere Anfrage antwortete, war Suzanne Ciani. Die Synthese-Pionierin. Eine Frau, die auf eine 40-jährige Karriere in der elektronischen Musik zurückblicken kann, aber bis vor Kurzem ziemlich übersehen worden war. Sie wurde kürzlich in der wunderbaren Dokumentation „Sisters with Transistors“ über weibliche Pioniere der elektronischen Musik vorgestellt. Sie schickte mir innerhalb von 24 Stunden eine E-Mail, in der sie mir mitteilte, dass sie die Idee der Ambient-Musik als Hilfe für psychische Gesundheit sehr schätzt und uns einen Track dafür zur Verfügung stellen würde. Das gab dem Projekt einen großen Schub. Steve Roach ist ein weiterer Ambient-Favorit der alten Schule, den ich mag. Ich erinnere mich daran, wie Ninja Tune auf seiner Tournee durch Amerika seinen Track „Structures In Silence“ in einer Schleife im Tourbus gespielt hat.

Skee Mask ist ein modernes Talent, das mich wirklich begeistert hat. Ich habe großen Respekt vor seinem Sound und er hatte einen Remix für unser Keleketla!-Projekt gemacht. Also stand ich mit ihm und Ilian Tape, seinem Plattenlabel, in Kontakt und schickte ihm ein Zen Delay, unsere neue Hardware-Unit in Kooperation mit Ninja Tune. Und wieder hat er sehr schnell geantwortet und binnen 48 Stunden sogar einen Track geschickt. Es gibt noch viele andere Künstler*innen auf dem Album. Ich bin allen dankbar, dass sie zugesagt haben. 

Einige Tracks wurden neu interpretiert und neu arrangiert. Wie lange hast du insgesamt an dem Projekt gearbeitet und wie war die Studioarbeit mit Mixmaster Morris?

Das Projekt dauerte etwa zwei Jahre von der Konzeption bis zur Fertigstellung, und ich möchte einem Freund von mir, einem jungen Freund namens Alex, der, glaube ich, 21 Jahre alt ist, meinen Dank aussprechen. Ich habe diesen jungen Mann kennengelernt und er ist ein Musik- und Ninja-Tune-Fan. Er erzählte mir, dass er mit Panikattacken zu kämpfen hat und dass ihm Ambient-Musik sehr geholfen hat, mit diesen Panikattacken und den stressigen mentalen Zuständen umzugehen. Das war eins der Dinge, die mich auf den Gedanken brachten: „Vielleicht können wir hier etwas mit Ambient-Musik machen, das den Leuten hilft?“ Das war kurz bevor das Coronavirus ausbrach. Als wir dann in den Lockdown kamen, wurde es offensichtlich, dass die Isolation und andere Faktoren die psychische Gesundheit der Menschen beeinträchtigten. Es war für viele Menschen eine stressige Zeit, und das verstärkte die Idee, mit Musik etwas Positives zu tun. Morris kenne ich jetzt schon seit 34 Jahren, seit den Anfängen von Coldcut und wir sind so etwas wie „Brothers in sound“. Vor ein einigen Wochen war er mit ein paar Freunden zu Besuch und ich hatte ihm vorgeschlagen, diesen Mix für uns zu machen. Eigentlich hatte er schon einen Mix gemacht – eine Art Proto-Version des Albums, die nur eine andere Auswahl an Tracks enthielt, die ich ursprünglich aus meinem eigenen Archiv und von Freunden bekommen hatte. Aufgrund der neuen Gegebenheiten blieb er eine weitere Woche bei uns. Wir richteten ihm ein kleines Studio im Dachgeschoss unseres Hauses ein, mit ein paar schönen Genelec-Lautsprechern und einem kleinen Mischpult. Er hatte auch seinen Traktor S4 dabei, den er eigentlich als kreatives Musikinstrument benutzt.
Ein DJ-Mix wie dieser ist eine Zwischenstufe zwischen dem Abspielen eines Haufens von Tracks und dem Musikmachen. Coldcut haben schon einmal gesagt: „Ein Discjockey spielt nur Platten, ein DJ spielt mit Platten.“

Und ich denke, ein DJ-Mix ist ein gutes Beispiel für die Form des DJs: Er kann alles sein, vom einfachen Abspielen von Tracks nacheinander bis hin zum Zusammenstellen von Songs. Coldcuts „Journey by DJ“ war ein Versuch, das Mischen einer Reihe von Platten auf eine höhere Ebene der Komplexität zu bringen, und das ist es, was wir mit diesem Mix erreichen wollten: eine Gestalt, die mehr ist als die Summe der Teile. Morris ermittelte also zunächst die Tonart jedes Tracks und nutzte sie als Grundlage für eine Art harmonische Sequenz – denn mit harmonischen Sequenzen kann man den Wechsel von einer Tonart zu einer anderen musikalisch passend gestalten. Das hat er als Grundlage für den Mix verwendet. Außerdem entwickelte er eine ganz neue Technik, bei der er das Stereofeld so manipulierte, dass beim Ausblenden eines Tracks dieser nach links und der neue Track auf der rechten Seite eingeblendet wird, was zu einer interessanten räumlichen Mischung in der Mitte deines Kopfes führt. Dann habe ich das, was Morris mit dem Mix gemacht hatte, so bearbeitet, dass es auf die CD passte, und noch ein paar zusätzliche Elemente hinzugefügt: Ich bezeichne das als „Multi-Threading“. 

Die Hälfte des Erlöses geht für wohltätige Zwecke an CALM, MIND und Black Minds Matter. Erzähl uns hier mehr darüber.

Es ist nicht allgemein bekannt, aber People of Colour sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen. Ich denke, der Grund dafür liegt auf der Hand: Es liegt am Rassismus und an dem erhöhten Druck und der Diskriminierung, die sie in Ländern wie Großbritannien und den USA erfahren haben. Diskriminierung, Rassismus und Vorurteile verstärken psychische Erkrankungen. Black Minds Matter ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dies zu ändern, und sie ist einer der Partner, an die wir einen Teil unserer Gewinne weiterleiten. Ich hatte das Glück, in den letzten 34 Jahren von der Musik leben zu können, und ich weiß dieses Glück wirklich zu schätzen. Ich muss mit dem, was ich tue, eigentlich kein Geld mehr verdienen, ich habe ein gutes Einkommen und Ninja Tune ist auch ein erfolgreiches Label. Daher schien es mir angemessen, den Anteil des Labels an den Gewinnen an Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, um etwas zurückzugeben. Wir bei Ninja Tune sind wirklich der Meinung, dass wir hier sind, um der Gemeinschaft zu helfen und nicht nur, um Geld für uns selbst zu verdienen und coole Musik zu veröffentlichen.

Aus dem FAZEmag 118/12.21
Text: Triple P
Credit: Liam Ricketts
www.facebook.com/coldcutofficial