DEICHBRAND Festival – Interview mit Annett Gapstream

Das inoffizielle Motto des FAZEmag lautet: „Es gibt immer was zu feiern“. Gerade, wenn man sich Festivals anschaut wie das DEICHBRAND. Das baut Woche für Woche sein Line-up aus und präsentiert sich wie kaum eine andere Großveranstaltung mit einer bombastischen Namensauflistung von Künstlern aus sämtlichen Bereichen der populären Musik. Techno, Rock. House, Pop. Hip-Hop, Singer/Songwriter. Dank einer hoch professionellen Umsetzung pilgern sicher auch 2020 wieder rund 60.000 Partygäste in den hohen Norden, um Superstars und Shootingstars zu feiern. Eine, die schon fast zum technoiden Inventar des DEICHBRAND gehört, ist Annett Gapstream. Mit ihr haben wir über tolle Themen wie musikalische Vielfalt, große Festivals und kleine Clubs geplaudert – aber auch über derzeit leider unangenehme Themen wie Corona, Event-Absagen und Klopapier.

 

Du warst bereits 2019 beim DEICHBRAND auf der Stage. Gib uns doch mal einen kleinen, persönlichen Rückblick – und einen Ausblick auf deine Show in 2020.
Genau. Und das allererste Mal sogar 2017. Seitdem hat sich echt so einiges im elektronischen Line-up getan. Die Electric Island Stage steht seit letztem Jahr auf dem Festivalgelände – das zeigt, finde ich, dass das Thema Techno und House mittlerweile einen echt hohen Stellenwert bekommen hat und nicht mehr nur nebenbei mitläuft. Ich freu mich schon sehr auf meinen Gig am Samstag.


Jetzt läuft auf dem DEICHBRAND nicht nur elektronische Musik. Gibt es Acts, die du dir als „ganz normaler Zuschauer“ nicht entgehen lässt? Und was läuft in deinem heimischen Wohnzimmer, wenn du mal deinen persönlichen Akku auflädst?

Ja, ich freue mich immer, wenn ich auf Festivals lande, bei denen nicht nur ausschließlich die Musik läuft, die ich selbst mehr oder weniger spiele. Ein paar Explorer-Runden übers Festivalgelände sind also fest eingeplant – z. B. zu den Beatsteaks. Ansonsten gibt’s uhause schon überwiegend elektronische Musik, oft langsamer und mit slightly mehr Vocals als ich selbst produziere oder in meinen Sets zu hören sind. Wenn’s wirklich mal was anderes sein soll, lande ich meist bei Jennifer Rostock, Placebo oder Depeche Mode.


Nun ist DEICHBRAND ein Event mit 60.000 Besuchern, allerdings spielst du auch auf kleineren Veranstaltungen. Wenn du beides miteinander vergleichst: Wo liegt jeweils das Pro, und wo das Kontra aus deiner DJ-Sicht?

So richtige Pros und Kontras, die ich ausschließlich an der Größe eines Festivals festmachen kann, gibt’s da für mich gar nicht. Tendenziell sind bei kleineren Festivals die Gäste eine homogenere Gruppe und die Wahrscheinlichkeit, dass viele Menschen vor der Bühne stehen, die genau meine Musik mögen könnten – auch (und vor allem) wenn sie mich nicht vorher kennen – ist größer, was es für mich als DJ natürlich oft schöner werden lässt. Andererseits hab ich selbst als Gast vor mehr als zehn Jahren die Erfahrung gemacht, dass die Wow-Effekte auf gemischten Festivals noch mal viel größer sind. Immer wieder an Bühnen zu kommen, bei denen man null Ahnung von Opener bis Headliner hat, kann manchmal auch ganz neue Einblicke schaffen und einen zu Musik bringen, die man nie im Leben auf den Schirm bekommen hätte. Und ich selbst probiere natürlich auch möglichst viele Leute, die einfach mal so an der elektronischen Bühne vorbeilaufen, zu catchen, und in unsere Technowelt zu lotsen. (lacht)


Dein Stil beschreibst du mit „Day Techno. Colorful dark.“ Erzähl doch mal ein bisschen was darüber für die Leute, bei denen es da auf Anhieb nicht klick macht.

Ja, da steckt tatsächlich etwas Interpretationsspielraum in der Beschreibung. Ich liebe und spiele Techno – wenn da jetzt nur Techno stehen würde, käme aber sicher in der Vorstellung der meisten Menschen etwas deutlich härteres, schnelleres und düsteres bei raus als es letztendlich ist. Daher ist „Day“ die erste Relativierung und schwächt das mächtige Wort „Techno“ schon mal etwas ab, da es mit Licht und Sonne in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus stehe ich schon sehr auf düsteren und drückenden Sound, mag aber Abwechslung und vor allem auch Melodien. Diese, genau wie das glückliche und extrovertierte Lebensgefühl auf der Tanzfläche, sollen letztlich mit dem Wort „colorful“ abgebildet werden.


Im Dezember 2019 kam mit „Finally“ dein latest Release raus. Gib uns doch mal Einblicke in die Produktion, Infos über das Label und dein „neues Hobby“ als Sängerin.

(Lacht) Sängerin ist gut. Tatsächlich stand ich das erste Mal im Tonstudio hinter dem Mikrofon, um ein paar sehr dezente Vocals für „Finally“ einzusingen, oder besser gesagt: einzusprechen. Das was man dort hört, bin also tatsächlich ich. Neben der Arbeit mit Ableton am Computer war das auf jeden Fall der abenteuerlichste Teil der Produktion. Der Track ist auf der „Utopia 3“-Compilation des Labels Rebellion der Träumer rausgekommen. Ich freu mich sehr über dieses erste Release auf dem heimischen Label. Mit Rebellion der Träumer hab ich die liebenswerteste Gang, mitreißende Charaktere und produktive Persönlichkeiten sowie nicht zuletzt tolle DJs plus Producer um mich rum.


Derzeit (Ende März 2020) steht die Veranstaltungsbranche Corona-bedingt leider still. Doch irgendwann wird diese Krise (hoffentlich) vorbei sein und die Events finden wieder statt. Welche bisher bestätigten Gigs hast du, worauf freust du dich besonders und was war dein „most exciting moment“ bisher?

Das hoffe ich auch sehr. Livestreams waren jetzt zwar auch mal ganz cool, aber ich wäre auch wieder äußerst bereit für echte Gigs mit echten Menschen, ganz nah. 2020 sieht auf dem Papier schon mal mega aus, ich hoffe, dass die Festivals im Sommer stattfinden können und dass sich die Clubs über die Zeit retten. Das Jahr ging auf jeden Fall super los und mein bisheriges Highlight war das Carnival Upside Down Festival am Playa Venao in Panama sowie Gigs in Panama City. Mitte Februar war die Welt dort noch in Ordnung und ich hatte eine tolle Zeit. Die Leute wussten die Musik wirklich zu schätzen, waren sehr herzlich und dankbar. Ende März wäre ich eigentlich in Thailand bei für mich einer der schönsten Veranstaltungen, dem Thaibreak, gewesen. Neben Thaibreak und Thaibreak Festival hätte ich auch noch das erste Mal bei dem Half Moon Festival auf Koh Phangan gespielt – das muss wegen des Virus wohl noch ein Weilchen warten. Ich hoffe, es gibt nächstes Jahr die Chance, das nachzuholen und dann wieder mit viel guter Laune gemeinsam zu tanzen. Ansonsten ständen im April und Mai zum Beispiel Bucht, Kater Blau und Mensch Meier in Berlin auf dem Plan. Ab Ende Mai würde dann auch endlich meine geliebte Festivalsaison starten, im Juni mit dem Jubeljahre Festival und der Fete de la Musique. Im Juli sind das Feel Festival und Deichbrand Festival meine Highlights. Für August sind das Detect Festival, Artlake Festival und Eulenflug Festival bestätigt. Im September kommt meine erste Kolumbien-Tour. Und im Oktober steht schon fett, rot und dreifach unterstrichen „7 Jahre Rebellion der Träumer“ in meinem Kalender. Langweilig wird es also nicht. – Most Exciting 2019 war zweifelsohne der Gig auf der Fusion. 2018 im Kafes, eine sensationelle Outdoor Location in Istanbul.


Leidiges, aber unverzichtbares Thema: Corona. Wie gehst du selbst damit um, deckst du dich selbst mit „Hamsterkäufen“ ein, und wie gefährdet ist die Eventbranche?

Ich hoffe sehr, dass wir bald wieder „Play“ drücken können und das gesamte Leben rund um Musik und Veranstaltungen dann noch mehr zu schätzen wissen. Von Hamsterkäufen und auch Klopapierbergen hab ich abgesehen – so viel Vertrauen hab ich dann doch in unsere Regierung und Gesellschaft. Als ich Ende Februar aus Panama zurückkam und mir drei Packungen Nudeln gekauft habe – die ich immer kaufe, da Pasta mit und ohne Krise einfach mein Lieblingsgericht ist – hatte ich schon das Gefühl, komisch angeguckt zu werden. Das war wirklich merkwürdig. Dennoch gibt’s bei allen grausamen Sachen auch positive Nebeneffekte. Hier in Berlin ist wirklich viel Solidarität und Unterstützung zu spüren. Die Musikbranche kann auch zusammenhalten, wenn’s drauf ankommt, das freut mich echt – da genau das leider viel zu oft zu kurz kommt, wenn normalerweise jeder nur mit sich beschäftigt ist. Innerhalb kürzester Zeit konnten übergreifende Initiativen wie „United We Stream“ von u. a. der Clubcommission Berlin oder Quarantine Club – für die ich auch selbst schon mit einem Livestream aus der Bucht dabei war – ins Leben gerufen werden, um Clubs und Kulturstätten finanziell zu unterstützen. Das gibt Hoffnung, dass unsere Lieblingsspielplätze auch nach der Krise noch Raum bieten. Für Festivals, Veranstalter, Techniker, DJs etc. sieht es leider ähnlich finster aus. Ich bin gespannt wie sich die Hilfspakete der Bundesrepublik entwickeln und hoffe sehr, dass sich die Zuschüsse „richtig“ verteilen. Im Großen und Ganzen bleib ich positiv, dass wir das schaffen. Krisen bringen ja auch immer neue Sichtweisen mit sich und zeigen, auf wen Verlass ist. Zudem geht die Digitalisierung flächendeckend voran. So unglaublich viele Firmenchefs entdecken gerade, dass es doch nicht zwingend notwendig, ist ihre Mitarbeiter für jedes Minimeeting irgendwo hinfliegen lassen zu müssen, virtuelle Meetingräume hätten ohne Corona wohl in vielen Firmen noch einmal zehn oder 20 Jahre gebraucht, ehe überhaupt einer auf die Idee gekommen wäre.


Zum Schluss noch etwas Positives: Techno boomt. Wer sind deine persönlichen Helden und Idole?

Yesss, Techno boomt! Jede Menge Helden, große und kleine. Die Großen sind für mich DJs/Producer, die richtig was gerissen haben und trotzdem auf dem Boden geblieben sind, mit ihren Labels, und die Nachwuchs-DJs diverse Plattformen geben und einen zwar schräg von der Seite angucken, wenn man Fragen stellt, deren Antworten man längst wissen sollte, sie aber trotzdem umfangreich beantworten. Die kleinen Helden sind die vielen guten Producer, die dafür sorgen, dass es auf den großen Tanzflächen der Welt nie langweilig wird – sie aber selbst nicht unbedingt als DJ sehen und dennoch dran bleiben.


Gib uns doch bitte noch deine aktuelle Top-5.

Township Rebellion – Humanity Offline (Stil vor Talent)
Matchy – Escape Reality (Rebellion der Träumer)
Innellea – The World Returns (Afterlife)
Tony Casanova & Frida Darko – Flopster (Rebellion der Träumer)
Annett Gapstream – Finally (Rebellion der Träumer)

Line-up: Sven Väth, Oliver Huntemann, Annett Gapstream, Lilly Palmer, Steve Aoki, Anahit Vardanyan, Drunken Masters, Beatsteaks, Bilderbuch, Clueso, Bausa, Passenger, Maxixmo Park, Querbeat, Afrob u. v. m.

www.deichbrand.de

DEICHBRAND Festival // 16.-19.07.2020 // Seeflughafen, Cuxhaven