JA // Deichkind – Leider geil
Sechs Jahre ist es her, da probten Deichkind den Aufstand im Schlaraffenland. Die Band stand kurz vor der Auflösung und wagte mit ihrem dritten Album einen unglaublichen Befreiungsschlag – im vollen Bewusstsein, dass es der erste und letzte Schlag sein könnte. Als ich also damals ganz unvermittelt dieser Show gegenüberstand, war ich – um es mal ganz hanseatisch-kühl auszudrücken – äußerst angenehm überrascht. Müllsäcke, Pyramidenhüte, Schweiß, Sofas, Euphorie, Energie – kurz: Anarchie. Für alle. Der Rest ist Geschichte: Die Auflösungsgedanken verschwammen mit jedem Konzert mehr, der Virus zog immer größere Kreise und hatte vor allem eine sehr integrative Wirkung. Deichkind-Fans rekrutierten sich quer durch die musikalischen Lager, das Gesamtkunstwerk sprengte jede Grenze und verspottete sie.
Heute, eben sechs Jahre später und drei Jahre nach dem tragischen Tod des Mitglieds Sebastian Hackert, der das ganze Projekt natürlich wieder ins Wanken brachte, kehren Deichkind mit neuem Mut und neuer Energie zurück. Nicht nur mit ihrem fünften Album, sondern parallel dazu auch mit einer ganz neuen, schon einstudierten Show (mit genügend Platz für nicht einstudierte Teile). Keine langweilige Konzerttour, kein bis ins letzte Detail perfekt abgestimmte Platte, die im Lichte strahlt und für sich selbst steht, sondern ein kompromisslos verflochtenes Meisterwerk, mit Leidenschaft entworfen und wieder ein ganz großer Rundumschlag, um die Langeweile im Pop-Biz zu verlachen und mehr Emotionen aller Art zu produzieren, wie es kaum ein anderer Act schafft.
Tut mir leid, ihr Ignoranten und ach so genervten Kritiker, Deichkind sind einfach leider geil. Übt euch in Selbstkasteiung, ihr seid unwürdig! Noch. / Tassilo Dicke
NEIN // Früher war alles besser™
Ach Deichkind. Darf man euch eigentlich nicht mögen? Ihr habt mich jahrelang begleitet, ich habe damals den Text von „Bon Voyage“ auswendig gelernt, zu „Limit“ habe ich im Club geschrien und geschwitzt und konnte bei „Remmi Demmi“ sogar meine alten Flensburger Punkerfreunde die Möbel aus dem Fenster schmeißen sehen. Und jetzt das. Natürlich muss ich automatisch jubeln, wenn ich eure immer noch vor Wortwitz strotzdenden Texte höre, die sicherlich mit zu den besten Deutschlands gehören – das muss man selbst in der „Nein“-Kolumne neidlos anerkennen. Natürlich geht es jetzt thematisch mehr denn je um Saufen, prollige Sachen machen und Deutschland und das Establishment auch irgendwie doof finden. Punk’s ja schließlich immer noch not dead – und dass das gerade durch eine Band bewiesen wird, die sich mittlerweile voll und ganz der elektronischen Musik verschrieben hat, finde ich regelrecht toll, denn ich weiß, dass sich meine alten Flensburger Punkerfreunde unheimlich darüber ärgern. Nur: Was mein Ja zum neuen Album leider zum Nein werden lässt, ist die musikalische Produktion an sich. Wenn man einen Produzenten früher mal beleidigen (heute: dissen) wollte, musste man nur behaupten, seine Tracks klängen irgendwie nach Magix Music Maker – oder noch schlimmer: Data Becker Techno Maker. Und wenn man mal ehrlich ist, muss man leider sagen: Der heutige Sound von Deichkind ist echt dünn für eine Band, die sonst mit dicken Reimen und Bäuchen nicht geizt. Auf „Befehl von ganz unten“ sieht man leider in aller Deutlichkeit, wie viel von Deichkinds Brillianz mit dem Tod von Sebi Hackert verloren gegangen ist. Dass Deichkind mittlerweile ihr selbstgeschaffenes, eigenes Klischee bedienen – geschenkt. Aber ein Album an sich ist leider nur so gut wie das schwächste seiner Elemente, und da kann die Musik leider nicht dort anknüpfen, wo „Arbeit nervt“ aufgehört hat. „Befehl von ganz unten“ ist wie ein wirklich gut erzählter Witz – beim ersten Mal grandios, danach kennt man die Pointe schon. / Stefan Gubatz
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Faithless