DJ Hell – Schöne neue Welt

 

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DJ Hell – Schöne neue Welt

Es ist ein Mittwochnachmittag Mitte April. Während sich das Draußen nicht zwischen Frühling und Winter entscheiden kann, sitze ich in der Lobby des Westin Grand Hotels in Berlin-Mitte und warte auf Helmut Josef Geier. Und warte. Und warte. Ich warte, um nach einer Stunde und mehreren fehlgeschlagenen Anrufen festzustellen, dass – vermutlich aufgrund fehlerhafter Kommunikation im Vorfeld – unser Termin gerade vorbei ist, als Helmut Josef Geier eintrifft. Aufgrund einiger anderer Interviewanwärter an diesem Hell’schen Promotag fahre ich also erst mal wieder nach Hause, um zwei Stunden später einen neuen Anlauf zu starten. Bin ich auch von der Pole-Position auf Platz drei gerutscht, ist DJ Hell – trotz bereits zahlreicher beantworteter Fragen – noch gesprächig genug für diesen Artikel. Anlass des Treffens mit Hindernissen ist sein Ende April erschienenes Langspielwerk „Zukunftsmusik“.

„Auf seinem fünften Studioalbum ,Zukunftsmusik’ verschmilzt DJ Hell zahlreiche seiner ,signature moments’: seine Leidenschaft für die Subversion von Regeln, Genres und Stilgrenzen, für großartige kosmische Soundscapes, für plötzliche Ausbrüche von Dancefloor-Dynamik und für subtiles Songwriting.“ Das sagt zumindest die Presseinfo. Doch was sagt Hell selbst? Den Rauswurf des FC Bayern München aus der Champions League durch Real Madrid am Vorabend hat er jedenfalls gut weggesteckt. Durchaus kritisch reflektiert Helmut noch kurz die Ereignisse, die dazu führten, um abschließend drauf hinzuweisen, dass man eben auch verlieren können müsse. Für einen eingefleischten FCB-Fan nach der Schiri-Schmach ein äußerst analytischer Ansatz. Doch sind wir natürlich nicht hier, um über die Fehler von Trainer Ancelotti oder die Verletzung von Manuel Neuer zu sprechen, sondern über „Zukunftsmusik“.

Helmut, du beschäftigst dich seit gut 40 Jahren intensiv mit Musik. Viele Entwicklungen und Interessen deinerseits schlagen sich nun in deinem fünften Album nieder. Du sagtest an anderer Stelle mal, es sei intuitiv entstanden. Wie ist das gemeint?

Das habe ich gesagt? Okay. Es entsteht natürlich aus vielen Erfahrungen, Reisen, Erlebnissen, Begegnungen, Vorlieben. Intuitiv ist für mich, dass ich die ersten Gedanken, Entscheidungen, kreativen Ansätze wahrnehme und nicht hinterfrage, sondern dem Impuls folge. Das habe ich mein ganzes Leben so gemacht. Ich will grundsätzlich nicht die Erwartungen anderer erfüllen, nicht dem entsprechen, was es sein könnte oder sein sollte. Der erste Ansatz vor Jahren war, ein Technoalbum zu machen. Zurück zu den Wurzeln, Detroit, Chicago, Anfang der 90er, Berlin natürlich auch. Planet, E-Werk, Tresor, frühe Loveparade, UFO, Fischlabor. Ich komme aus der Punk- und New-Wave-Zeit, habe mich lange auch mit Hip-Hop beschäftigt. Da sind so viele musikalische Einflüsse und Vorlieben, dass man das gar nicht so genau definieren kann. Ich habe auch keine Beschreibung für die Musik auf dem Album. Manche denken, es sei Chillout, Electronica, „easy listening“. Genau das ist es für mich nicht. Es ist Clubmusik für moderne Clubs. Allein „I Want U“ ist ja schwer Berghain-tauglich, mit Remixen von Marcel Dettmann und Terence Fixmer. Mehr Techno-Club geht eigentlich kaum. Und sehr vieles vom Album kann man gerne auch in der Panorama Bar spielen. Den Rest dann vielleicht auf dem Weg dorthin.
Besonders elementar für dein Schaffen scheinen aber die deutlich hörbaren Einflüsse von Künstlern wie Kraftwerk, Can, Brian Eno und Boards Of Canada. Also doch eher raus aus dem klassischen Clubkontext?

Absolut richtig. Das Album ist aber vor allem sehr frei gedacht. Losgelöst von allen Formen und Denkweisen. Es ist meine DNA, die da einfließt, und ich war immer sehr offen für alles. Was natürlich auch gefährlich ist, weil es oft missverstanden wird, wenn man sehr persönlich agiert. Und ich bin noch einen Schritt weiter gegangen: Ich schreibe Texte. Ich bekenne mich zu Sachen, spreche es aus, schreibe es auf. Das ist für mich eine neue Errungenschaft und ich musste erst lernen, wie man Texte schreibt oder auch mal Themen auf den Punkt bringt. Clubmusik war zwar nicht von Anfang an unpolitisch, aber sie hat sich dazu entwickelt. Was aktuelle Lebenslagen oder Befindlichkeiten angeht, was Leute beschäftigt … Clubmusik ist frei davon. Da ging es immer um eine höhere Form der Kommunikation. Wenn man nichts mehr erklären muss, dann fängt die Musik an, dann ist es ein universelles Verständnis. Spirituelle Erfahrungen im Club, das ist mir alles bewusst, auch damit arbeite ich. Für mich war es wichtig, dass es ein sehr musikalisches, ein sehr harmonisches Album wird. Ich finde, es ist – hoffentlich – fast romantisch. Wenn es mir gelungen ist, die Seelen und die Herzen der Leute zu erreichen, dann ist es ein gutes Album.

Also ist „Zukunftsmusik“ ein Album, das raus musste? Immerhin ist seit „Teufelswerk“ im Jahr 2009 kein Studioalbum von dir mehr erschienen. Das ist eine durchaus lange Zeit.

Es kam aus dem Bauch, aus dem Kopf, von überall. Intuitiv eben. Ich spüre es deutlich, wann ich im Studio unkreativ bin und wann ich so viele Ideen habe, so viel gefiltert durch meine Reisen, durch Gespräche, Kinofilme, Begegnungen, neue Erfahrungen – da kann ich in meinem Rhythmus alle fünf Jahre ein Album machen oder zum Beispiel ein Buch schreiben. Klar, ich könnte es so machen wie Bowie und in einem Jahr drei Alben veröffentlichen. Das Material ist sicher vorhanden. Ich habe viel gemacht die letzten sieben, acht Jahre, das nicht veröffentlicht wurde. Das wird jetzt alles Stück für Stück kommen.

Inwieweit bist du in den Prozess nach der Produktion eingebunden?

Ich bin sehr stark involviert. Marketing, Presse, Promo. Wie platziere ich was? Und ich bin stark involviert in visuelle Abläufe. Ich habe zu den Songs sofort das Videokonzept. Ich weiß, wie das Cover aussehen wird. Ich mische mich sogar in die Presseaussendungen ein, bis ins letzte Detail. Bis zum Interview mit dir. Für mich steht die visuelle Umsetzung an zweiter Stelle – direkt nach der Musik. Mein Ziel für die Zukunft ist, nicht mehr zu sprechen, keine Interviews mehr zu geben. Weil ich ja mit meiner Performance als DJ und eventuell auch bald in der Virtual Reality sehr viel preisgebe, Cover, Bilder, Sprache und Musik anfertige. Wenn ich das alles noch erkläre, gebe ich viel von der Magie weg. Ich möchte, dass sich jeder daheim selbst etwas dabei denkt und es versteht, sieht, dass es eine Beeinflussung und mögliche Weiterwicklung und keine Kopie ist … Ich wollte mit meinen Sachen immer eine mögliche, nahe Zukunft projizieren. Ich wollte auf keinen Fall das machen, was gerade alle favorisieren, sich plakativ verkauft. Das hat mich nie interessiert.

Dank Digitalisierung haben sich Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeitsspanne der Menschen enorm minimiert. Gute Soundqualität ist dem praktischen Nutzen von mp3 gewichen. Beschäftigen dich solche Entwicklungen?

Weil ich mich viel mit der Zukunft beschäftige, bin ich oft schon konfrontiert mit Sachen, die kommen werden, und nicht überrascht, dass sie passieren. Kraftwerk haben „Computerwelt“ 1980 gemacht, da wusste keiner, von was die da eigentlich reden. Das war so weit vorgegriffen – und es hat sich alles bestätigt. Durch meine Reisen, verschiedene Kulturen, die ich erfahre, kann ich in meinem Kosmos vielleicht keine 20, aber fünf Jahre voraussehen. Ich habe vor zehn Jahren in Japan schon technische Errungenschaften gesehen, die erst viel später zu uns kamen. Die Welt hat sich radikal verändert und ich finde das absolut faszinierend. Aber um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ich sehe natürlich die Kids mit Kopfhörern. Ich mag Musik so nicht wahrnehmen, das spiegelt auch gar nicht das wider, was ich im Studio gemacht habe. Es ist eine minderwertige, digital komprimierte Version davon. Aber ich habe die Möglichkeit, das im Club mit einer professionellen Soundanlage ganz anders erlebbar zu machen. Wenn ich selbst im Auto Musik höre, dann auf einer sehr guten HiFi-Anlage. Zu Hause höre ich übrigens kaum Musik, weil ich mich den ganzen Tag mit neuen Releases, Promos und Demos beschäftige und froh bin, wenn mal Ruhe ist.

Zuhause ist ein gutes Stichwort. Oder: Heimat. Du lebst in München, aber auch in Berlin. Du hast dich nie wirklich für eine der beiden – erst mal doch sehr unterschiedlichen – Städte entschieden.

Ich habe immer in Berlin gelebt. Die ganzen 90er, habe damals bei Hard Wax in Kreuzberg gearbeitet. Sogar in Treptow habe ich gelebt, kurz nach der Wende. Es war noch gefährlich, aber auch günstig. Viele Clubs hier waren am Anfang noch illegal. Keiner hat sich um Notausgänge oder Feuerschutz geschert. Wäre damals im Tresor etwas passiert, wärst du da nicht mehr rausgekommen. Aber es war schon eine unfassbar faszinierende Zeit, ein Neuanfang. New York, Berlin, München waren immer meine Städte. Das Label mache ich jetzt inzwischen wieder in Berlin, mit allem Drum und Dran. Aber ich habe München nie aufgegeben. Ich weiß oft selbst nicht so genau, wo mein Lebensmittelpunkt gerade ist. Als reisender DJ kann ich mich schnell anpassen und bin in einer Woche überall heimisch, egal ob in Brasilien oder in Japan. Japan fand ich immer faszinierend, denn dort zählt nichts von dem, was man hier gelernt hat. Ich könnte mir auch vorstellen, dort zu leben. Der Umgang der Menschen miteinander ist wahnsinnig höflich und respektvoll, das haben wir hier total verloren. Das kommt meinen idealen Vorstellungen wahnsinnig nah.

Gigolo Records feiert in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag und nach wie vor ist das Label eng verbunden mit der Queer-Kultur – dank eurer Künstler, eures Looks, eurer Einstellung. Mit dem Video zu „I Want U“ hast du das einmal mehr unterstrichen. Wie hat man bei der Tom of Finland Foundation auf deine Anfrage reagiert?

Sie sitzen in L.A. und kannten mich natürlich nicht. Ich wollte schon immer eine Tom-of-Finland-Kooperation. Also bin ich nach einem kurzen E-Mail-Kontakt dorthin geflogen. Das Konzept war, seine Zeichnungen zu Bewegtbild zu machen. Das Video ist jetzt tatsächlich für die Oberhausener Kurzfilmtage nominiert, das ist eine echte Bestätigung. Man könnte wohl auch durchaus einen Kinofilm daraus machen, worüber ich nachdenke. Aber erst mal möchte ich zum Beispiel auch T-Shirts machen, Kissen, Vorhänge, Handtücher, Bettwäsche … Es gibt Tausende Zeichnungen von Tom of Finland. Es wäre toll, wenn ich der Foundation damit einen Anschub gegeben und eben auch den Fokus mal wieder auf die Gay-Community gelenkt hätte. Denn das vergessen viele: Die Club- und DJ-Kultur ist genau daraus entstanden, aus der Disco-Ära, einer schwulen Community. Die ersten DJs, Clubs und Produzenten im Warehouse, im Studio54, Paradise Garage waren alle schwule Schwarze. Schwarze Gay-Männer aus Chicago. Und auch die Crowd war anfänglich wenig gemischt. Später erst kamen die Weißen und die Heterosexuellen dazu. Das ist aus einer fast hauptsächlich illegalen schwulen Clubkultur entstanden. Es ist mir wahnsinnig wichtig, das noch mal zu verdeutlichen, denn darauf basiert mein Leben, meine Kunst, meine Arbeit.

Ende April präsentierst du dein Album beim Galleryweekend in Berlin. Eben in einer Galerie unter Hinzuziehung der 360-Grad-Virutal-Reality-Technik. Wie muss man sich das vorstellen? Und ist das ausbaufähig, also bald auch woanders so zu erleben?

Für mich ist das alles totales Neuland. Viele Leute haben diese HD-VR-Brillen leider noch gar nicht, weil die wahnsinnig teuer sind. Daher macht es im Moment noch keinen Sinn, die neuen Sachen ins Netz zu stellen. Die eigentliche Idee ist: Du schließt einfach deine VR-Brille an und kannst das von überall erleben. Aber wir werden es jetzt erst mal in Berlin präsentieren und ich würde es gern auf Galerien in München und anderen Städten ausweiten. Wir werden in Berlin nur zwei VR-Brillen haben und bekommen noch gleichwertige Brillen von Google dazu. Es wäre doch eine Katastrophe, wenn da nur eine Brille hängt, aber 50 Leute dafür anstehen. Wir zeigen zwei 360-Grad-Videos von jeweils vier Minuten. Auch der Raum ist entsprechend ausgeleuchtet. Das ist alles sehr hochtechnisiert. Eigentlich würde ich mein Album gerne komplett auf diese Weise promoten, kein Live-Auftritt, keine DJ-Performance, nur Virtual Reality. Aber so weit sind wir noch nicht. Neben den Videos werde ich einen Song hinter einer riesigen Maske performen. Das muss man wirklich sehen. Es ist eine 3D-Maske von meinem Gesicht, die ich schon eine Weile besitze. Auf diese Maske wird dann noch mal mein bewegtes Gesicht projiziert. Das sieht bisweilen ziemlich bedrohlich aus. Ich versuche einfach, neue Wege zu gehen, statt einfach mit zwei CD-Playern, Mixer und einem USB-Stick zu performen.

Das heißt aber wohl auch, dass zum Album erst mal doch eher eine klassische Clubtour ansteht?

Die Videos kannst du dir dann bald auch in 2D bei YouTube anschauen. Aber sonst gibt es tatsächlich nach dem Release erst mal eine normale DJ-Tour durch die wichtigsten Clubs und Städte. Ich plane außerdem eine „Artformance“, weg vom DJ, der am Pult steht und animiert – was ich ja sowieso nicht tue. Dafür experimentiere ich mit vielen Dingen, die dann aber auch immer transportabel sein müssen, weil ich weltweit denke. Nächstes Jahr dann – nach dem Sommer vielleicht. Aber es darf kein Versuch sein, das muss dann schon alles perfekt sitzen. Ein holografisches Element auf der Bühne zum Beispiel ist gerade noch wahnsinnig kostspielig. Mein Traum ist unter anderem, mit der Hologramm-Technik simultan in verschiedenen Städten aufzutreten. Dazu brauche ich jetzt allerdings erst mal Unterstützer und Sponsoren.

Aus dem FAZEmag 063/05.2017
Fotos: Daniel Mayer
Text: Nicole Ankelmann