Gayle San – Eine Konstante

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Bevor es die 1967 in Singapur geborene Gayle San in den frühen 90er-Jahren nach London zog, spielte sie in ihrer Heimat das Vorprogramm für Bands wie Kool And The Gang, Earth Wind And Fire und The Commoderes. Wenig später wurde sie Resident in Clubs wie dem Universe Final Frontier, Club UK, Complex in London und dem berühmt-berüchtigten Omen in Frankfurt, in dem sie zu internationaler Bekanntheit gelangte. 2015 veröffentlichte die mittlerweile in Heidelberg lebende Künstlerin auf Labels wie Tonic Soundz, Phobiq, Naked Lunch, Different Is Different und Toolroom/Rhythm Distrikt. ihrem 2011 gegründeten Label GSR möchte Gayle San im kommenden Jahr mehr Zeit widmen und dafür mehr Output produzieren.

Kurz vor dem heiligen Fest blickt Gayle – wieder einmal – auf ein ereignisreiches Jahr zurück: „Es ist bemerkenswert, wie schnell die letzten zwölf Monate an mir vorbeigezogen sind. Ich habe mich in 2015 mehr denn je meinen zwei Leidenschaften gewidmet – der Musik und dem Skydiven. Diese zwei Sachen halten mich permanent auf Trapp. Seitdem ich meine Gigs auf vier bis fünf im Monat reduziert habe, verbringe ich zudem wesentlich mehr Zeit im Studio. Auch wenn man das Gefühl hat, dass es nie Zeit genug gibt, um alle Projekte unter einen Hut zu bekommen. Aber irgendwie klappt es dann doch noch rechtzeitig.“ Unter den Projekten war auch ein ganz besonderes: „Auf dem Label Different Is Different habe ich mit dem Track ‘Mirage’ an einer Compilation mit ausschließlich weiblichen Künstlern mitgewirkt. Das war äußerst interessant, zumal ich sonst kein Freund davon bin, bei geschlechtergetrennten Projekten mitzumachen bzw. mich in diese Diskussion einzubringen. Wir leben in einer Zeit, in der Geschlechter Nebensache sein sollten. Vor allem in unserer Szene sollten sie von keiner großen Bedeutung sein. Auf der Bühne oder im Studio liefert jeder die gleiche Qualität ab – egal ob als Mann oder als Frau. Aus diesem Grund machen für mich auch Partys keinen Sinn, auf denen ausschließlich Frauen spielen und bei denen das auch noch groß so beworben wird. Wir leben nicht mehr in den 1950er-Jahren. Dennoch hatte ich Lust auf das Projekt und habe mich einmalig involviert – mit dem Ergebnis bin ich ziemlich zufrieden.“ Neben weiteren Releases auf ihrem eigenen Label plant Gayle San auch eine Mix-Serie auf GSR: „Ich werde mich nach dem Jahresanfang verstärkt um das Brand kümmern und dadurch seltener auf anderen Labels zu hören sein. Auf GSR werden 2016 wieder einige bekannte Acts wie Cari Lekebusch, Sasha Carassi und Ken Ishi veröffentlichen, die ja in der Vergangenheit bereits bei mir ein Releases hatten. Und wie ich es immer gesagt habe: Das Label ist auch eine Plattform für neue, unbekannte Künstler. Mir ist es wichtig, neue Talente zu fördern und ihnen eine Art Sprachrohr zu bieten, da es in der heutigen Zeit und bei der Masse an Musik oftmals schwer ist, Aufmerksamkeit zu generieren. Wenn ich das Gefühl habe, dass Tracks zu GSR passen, möchte ich über eine Veröffentlichung nachdenken. Für die Mix-Serie plane ich einige besondere Künstler einzuladen, ihre Titel in den Vordergrund zu rücken, anstatt einen herkömmlichen Clubmitschnitt abzuliefern.“

Ihrer Philosophie bzw. ihrem Credo, unter dem sie vor vier Jahren das Label gründete, ist Gayle San bis heute treu geblieben: „Ich habe nach wie vor eine ganz besondere Vorstellung von dem musikalischen Stil, der auf dem Label präsentiert werden soll. Anfangs war es recht schwer, Künstler mit dem für mich richtigen Sound zu finden – aber mit der Zeit kamen sie, und ich konnte meine Vorstellungen realisieren. Ich bin froh über den Umstand, dass ich nicht den Druck bzw. die Notwendigkeit habe, alle sechs Wochen etwas herausbringen zu müssen. Das möchte ich so auch gar nicht. Wenn etwas passt, erscheint es. Und wenn nicht, ist es besser, nichts zu veröffentlichen statt aus der wilden Flut an Demos irgendwas zu nehmen, nur um etwas vorweisen zu können. Dafür steht GSR nicht. Heutzutage, wo fast jeder sein eigenes Label hat, ist es natürlich schwer, dieses Vorhaben beizubehalten. Aber ich habe nicht vor, davon abzuweichen.“

Genauso kompromisslos und anspruchsvoll agiert Gayle San seit ihrem Karrierestart vor über 20 Jahren. Sie war bekannt dafür, auf drei Plattenspielern zu performen. So tourte sie lange Zeit rund um den Globus – in die USA, nach Asien, Südamerika und Europa. Für viele gilt sie als eine der beliebtesten und sympathischsten Künst- lerin in diesem Geschäft. „Ich habe im Laufe der Zeit mein Setup auf der Bühne verändert. Von drei 1210ern bis hin zu Traktor, gepaart mit DB4 und einem K1 Controller habe ich schon so gut wie alles ausprobiert. Für mich als Oldschool-DJ habe ich aber bei diesem digialen Wahnsinn das Gefühl meiner Anfänge vermisst. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie oft ich aufgrund irgendwelcher Security-Checks am Flughafen wegen dieser ganzen Geräte meine Flüge verpasst habe. Irgendwann habe ich mich dazu entschieden, ausschließlich mit CDs zu spielen. So habe ich für mich eine Lösung gefunden, bequem zu reisen und zumindest annähernd das Vinyl-Gefühl auf drei CDJ 2000-Playern aufkommen zu lassen.“ Ihr Wochenende beginnt Gayle traditionell in Heidelberg, wo sie seit ihrem Umzug aus London wohnt. „Ich habe mich vor über zehn Jahren in diese Stadt verliebt, und so ist sie neben Florida seit eben dieser Zeit meine Heimat. Die Gegend hier ist großartig – voller Natur und Landschaften, im Gegensatz zu London. Die Stadt ist nicht groß, aber dennoch sehr kosmopolitisch aufgrund der vielen Universitäten und den historischen Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert. Die vielen grünen Berge sind ideal, um nach einem Wochenende abzuschalten und vor der Haustür frische Luft zu schnappen, da die hier um einiges besser ist als der Smog in den meisten Metropolen (lacht). Ich habe das Gefühl, dass die Lebensqualität hier um einiges höher ist als woanders. Man hat mehr Sonnentage als in anderen Gegenden. Ich wohne auf 300 Meter Höhe, umgeben vom Wald, und genieße das jeden Tag. Ich brauche nur acht Minuten bis in den Stadtkern – so habe ich Natur und Citylife kombiniert und das Beste aus beidem vereint.“

Für jemanden, der sich bereits seit zwei Jahrzehnten im Business bewegt, sind Veränderungen ein stets präsentes Gut geworden. Doch nicht immer sind diese Veränderungen positiv, findet Gayle: „Musik ist heute zweitrangig geworden. Ich habe das Gefühl, es kommt inzwischen mehr darauf an, wer du bist, wen du kennst, mit dem du abhängst und natürlich wieviele Likes du bei Facebook hast. Früher war das anders. Da war es vollkommen egal, wer du warst – du hast Musik produziert, und wenn sie die Leute zum Tanzen gebracht hat, wurde sie gesignt. Hast du dazu noch am Wochenende die Clubs auf Links gedreht, hattest du wahrscheinlich eine Menge Talent und damit gute Karten, bekannt zu werden. Heute ist das anders. Es ist meiner Meinung nach sehr politisch geworden. Binnen weniger Klicks ist man DJ – die Technologie mit all ihren digitalen Fähigkeiten ermöglicht es jedem. Es wird darauf geachtet, zu welchem ‘Clan’ du gehörst. Gruppierungen dominieren ganze Festivals und Genres. Wenn du nicht Teil von einer bist, findest du automatisch nicht statt. Das macht es vielen wirklich talentierten Künstlern schwerer, entdeckt zu werden. Wenn du kein Geschick für Social Media hast, nicht die richtigen Leute kennst bzw. wie ein Topmodel aussiehst, kannst noch so gute Skills im Studio haben es interessiert nur die wenigsten. Wie viele Künstler dort draußen geraten damit unter Druck und faken irgendwas? Flughafen-Selfie hier, Beatport-Charts dort. Das war früher alles uninteressant. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch eine Menge Vorteile. Man hat z.B. unlimitierten Zugang zu Musik. Während man früher stundenlang nach diesem einen Track suchen oder ganze Tage die Plattenläden auf den Kopf stellen musste, um mit einer zufriedenstellenden Anzahl an Tracks nach Hause zu gehen, kann man das heute wesentlich schneller und umfangreicher erledigen. Man kann sich entscheiden, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Im Endeffekt sollte jeder das Beste daraus machen. Ich gehöre jedenfalls nicht zu den Acts, die permanent den alten Zeiten hinterher trauern und in den üblichen ‘Früher war alles besser’-Gesprächen aufgehen.“ Dafür hat Gayle, die aktuell an einem Remix für Ken Ishi arbeitet, auch zu wenig Zeit. Doch dieser Tage freut sie sich unter anderem auf Weihnachten mit Freunden und traditionellem Truthahn: „Am 25. und 26. werde ich in Österreich spielen, so dass mein Weihnachts- essen wahrscheinlich auf den 27. fällt. An Silvester und Neujahr werde ich wie in den letzten 20 Jahren auflegen, und ich freue mich darauf, als wäre es das erste Mal.“ / Rafael Da Cruz

Aus dem FAZEmag 046/12.2015