Gesaffelstein – Gamma mal so machen

Foto: Jordan Hemingway

Wenn du den Auftrag hast, den Soundtrack für einen Film zu produzieren, dann weißt du mehr oder weniger, was auf dich zukommt. Auch wenn du dir The Weeknd ins Studio holst, führt das zu gewissen Erwartungshaltungen. Erweitern die anschließenden Ergebnisse aber nun dein Repertoire oder verfälschen sie am Ende den Künstler, der du eigentlich bist? Eine direkte Antwort darauf liefert Gesaffelstein mit seinem neuen Album inhaltlich nicht. Indirekt wirkt sein Comeback-Album „Gamma“ dennoch wie ein Befreiungsschlag.

Der französische Star-Produzent zählt sicherlich zu den kreativsten und progressivsten Musikmachern seiner Zeit. Schon zu Beginn der Nullerjahre verschaffte er sich mit seinen ersten Releases auf renommierten Labeln wie Tigas Turbo Recordings, Zone und Bromance Records weltweite Aufmerksamkeit. Sein 2013 veröffentlichtes Debütalbum „Aleph“ sorgte dann für den großen Durchbruch und hievte ihn auf die größten Festivals und Bühnen der Welt. Nach seinem Soundtrack für Alice Winocours Neo-Noir-Thriller „Maryland“ und seinem zweiten Album „Hyperion“ landete Gesaffelstein dann endgültig in der Champions League der Musikszene, inklusive Kollaborationen mit The Weeknd, Pharrell Williams, Haim, The Hacker und Electric Youth.

Spannend am musikalischen Werdegang von Mike Levy, so sein bürgerlicher Name, ist, dass er trotz absoluter Mainstream-Nummern wie „I Was Never There“ (kratzt an einer Milliarde Klicks allein auf Spotify) gleichzeitig seiner visuellen Ästhetik und seinem härteren, düsteren Sound stets treu bleibt. Mit „Gamma“ läutet Gesaffelstein nun eine neue Schaffensära ein und sorgt für einige Überraschungen. Da wäre zum Beispiel die Dauer des Albums. Mit unter einer Stunde Spielzeit stellt das Album nicht weniger als ein atmosphärisch dichtes und künstlerisch radikales Statement dar. Zehnminütige Tracks wie „Humanity Gone“ oder aber auch poppig-funkige Songs wie der großartige „Blast Off“ mit Pharell Williams haben hier keinen Platz.

Features müssen draußen bleiben

Während sich Gesaffelstein auf seinem Debüt noch durchgehend instrumental präsentierte und „Hyperion“ 2019 noch von einer Vielzahl an Gast-Features geprägt war, hören wir auf dem Neuling nur eine einzige Stimme – und das fast durchgehend. In einem Interview mit Valerie Claire O. Soschynski im Jahr 2017 sagte Gesaffelstein einmal, er rede einfach nicht gerne: „Musik ist meine Sprache. Es ist einfacher, mich, und wenn ich ‚mich‘ sage, meine ich Gesaffelstein, zu verstehen, wenn man sich mein Album anhört.“ Vor dem Hintergrund umso interessanter, dass er die Stimme auf „Gamma“ einzig und allein Musiker und Sänger Yan Wagner anvertraut. Einen Vorgeschmack auf den Sound, der dabei herauskommt, lieferte bereits die Vorab-Single „Hard Dreams“.

Druckvolle Synthesizer und Basslines liefern einen Dark-Wave-Track, der wie eine Hommage an den 80er-Electro-Pop erinnert und auch dank Wagners Stimme sofort Assoziationen mit Depeche Mode oder New Order kreiert. „Ich bin so aufgeregt und stolz, dass dieses Lied, das ich geschrieben und gesungen habe, endlich veröffentlicht wird, freut sich der Songwriter, der auch als „The Protagonist“ in Erscheinung tritt und 2021 sein letztes Album „Couleur Chaos“ veröffentlichte. Sein tiefer, teils mysteriöser Gesang verleiht „Gamma“ definitiv eine unique Konsistenz innerhalb der Gesaffelstein-Diskografie. Auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal. Was aber sorgt für dieses Gefühl des Befreiungsschlags?

Das Spiel mit der Erwartungshaltung

Auf seinem neuen Album lädt der 1985 geborene Franzose mit „schon bekannten Sounds und Gefühlen aus vergangenen Zeiten ein zu einem nostalgischen Trip durch seinen Maschinenpark, während er gleichzeitig der Zukunft zugewandt ist“, heißt es in einem Pressetext. Also ein wenig von dem, was wir schon kennen und ein wenig Neues? Auf jeden Fall steigt „Gamma“ mit beiden Beinen ein in die Retro-Wave-Welle. Hier ein bisschen grooviger und fast schon satirisch, wie im Opener „Digital Slaves“, dort etwas düsterer, wie in „Your Share Of The Night“. Wagners Stimme kommt dabei komplett zur Geltung. Ein 80er-Tribut also? Nein. Auch nicht. Nach drei Tracks folgt ein absurd-konsequenter Stilbruch.

„Hysteria“ dauert keine zwei Minuten und drischt auf den Hörer ein wie ein Koffeinschock. Verzerrte Synths, die an Anfänge von The Bloody Beetroots erinnern. Nach einer Minute macht der Track eine kurze Pause und holt für wenige Sekunden Luft, nur um kurz darauf ein zweites Mal loszulegen. Irgendwo zwischen Live-Shows von The Prodigy und den effektüberladenen Gitarren von The Qemists fühlt sich der aufmerksame Gesaffelstein-Fan hier an elektro-punkige Songs wie „Orck“, „Ignio“ oder „Metalotronics“ von der 2019er „Novo Sonic System“-EP erinnert. Es soll nicht der einzige Ausflug zum rohen Garagen-Sound bleiben. Doch vorher gibt’s direkt den nächsten Wtf-Moment.

Die Gedanken sind frei. Gesaffelstein auch.

In „The Urge“ macht Gesaffelstein vermeintlich eine 180-Grad-Drehung zurück zu Synthies und Retro-Wave, ehe sich der Song zu einer Elektro-Pop-Nummer entwickelt. Käme Levy aus Deutschland, man würde diesen Track gut und gerne als „Neue Deutsche Welle“ bezeichnen und niemand würde meckern. Mit einem gewissen Elektro-Funk des frühen Boys Noize, vielleicht. Das ist witzig, taugt im Club, aber die letzten 30 Sekunden sind dann völlig drüber. Aus dem Nichts singt Wagner plötzlich nur noch „I Remember“ auf Repeat. Schnulzig und zu einem Mix aus Synthesizern und Melodien, die an Balladen der 50er- und 60er-Jahre erinnern. Spätestens jetzt wird klar: Gesaffelstein hat Bock und macht einfach.

Kaum haben wir uns von den 30 Sekunden Melancholie erholt, fliegt uns auch schon „Mania“ um die Ohren. Erneuter Elektro-Punk, rauhe Kicks, BPM auf Techno-Level, kreischende Soundeffekte im Hintergrund und bissige Synth-Sägen. Ein wilder Ritt, der nur zweieinhalb Minuten dauert, bis „Lost Love“ dann eine Vollbremsung vollzieht. Plötzlich scheint sich Yan Wagner komplett in Elvis verwandelt zu haben, der zu Piano und jazzy Bass „I’ve been looking for my love“ schmettert, ehe er beinahe pornös ins Mikrofon haucht. Gesaffelstein macht Blues. Was darf Satire?

In „The Perfect“ lebt Wagner seinen inneren Dave Gahan aus, ehe er plötzlich aus den restlichen drei Songs verschwindet. Mit „Psycho“ folgt ein Industrial-Biest, vollgepackt mit Distortions, knarzenden Drums und groovigen Bässen. „Tyranny“ entführt uns dann noch einmal mit Elektro-Pop à la Goldfrapp meets Chemical Brothers, und der sphärische „Emet“ beendet die Achterbahnfahrt mit einem ruhigen, melodischen Outro. Das war’s. Alles fühlt sich nach „Ich mache nur noch, was ich will“-Attitüde an. Frei von Vorgaben. Kreative Anarchie. ADHS. Trap, Soul, aber auch Elektro-Klassiker wie „Pursuit“ oder „Hate Or Glory“ sind hier nicht zu finden. Ob das einen Ausflug oder eine Weiterentwicklung des Künstlers Gesaffelstein darstellt, weiß wohl nur der Franzose selbst. Es macht ihn auf jeden Fall noch unberechenbarer.

Aus dem FAZEmag 146/04.2024
Text: scharsigo
Foto: Jordan Hemingway
www.gesaffelstein.com