Kappa Futur Festival – Architektur, Fashion & Rock’n’Roll

Kappa Futur Festival – Architektur, Fashion & Rock’n’Roll / Bild von Ortili Matteo

Kappa Futur Festival – Architektur, Fashion & Rock’n’Roll

Ein Festivalbericht von Carsten Becker

Zum 10ten Mal jährte sich in diesem Frühsommer ein Techno-Festival der Superlative, das vom 30.06. – 02.07.2023 in Turin stattfand. Ein unglaubliches Line Up an DJs, Acts und Künstlern machte einen Besuch des FAZEMag unumgänglich, nachdem wir in unserer Mai-Ausgabe mit einem 1-Pager bereits intensiv die Werbetrommel gerührt hatten. Nachstehend die Aufarbeitung einer schweißtreibenden, ekstatischen Angelegenheit.

Die Location

Im Norden der italienischen Stadt gelegen, musste der Dora Park, die einstige Produktionsstätte von Fiat, Ende der 00er Jahre schließen. Das Gelände mit seinen ikonischen Gebilden aus Beton und Metallstreben war wie geschaffen für eine kraftvolle und harte Musikrichtung, wie sie Techno in seinen Grundfesten darstellt. Und so griffen die Macher des zukünftigen Festivals zu, knüpften Kontakte zur Stadt und konnten, wenn auch anfangs unter nicht immer ganz einfachen Bedingungen, allmählich ein über die Grenzen Italiens, ja über Europa hinaus, internationales Techno-Festival etablieren. Inzwischen hat die Stadt den kulturellen Mehrwehrt von Kappa Futur und die touristische Sogwirkung erkannt.

Die Orga

Eigenorganisiert mit einem Umsatzvolumen von 8 – 10 Mio Euro, ist eine solche Unternehmung einem nicht unerheblichen, wirtschaftlichen Risiko ausgesetzt. Zudem mal sich gut 90.000 Besucher an drei Tagen, 120 DJs und Acts auf fünf Bühnen, 1.200 Kräfte vor Ort (Sicherheit, Service, Orga-Team, Erste Hilfe, Catering u.v.m.) als Herausforderung positionierten – das muss erst einmal vernünftig koordiniert werden. Nach den gesammelten Eindrücken lief dies prinzipiell auch reibungslos, selbst längere Schlangen am Einlass waren nur zu Stoßzeiten festzustellen.

Nachholbedarf besteht allerdings seitens der lokalen Organisation hinsichtlich Künstlermanagement und Koordination von Interviews. Sämtliche, weit im Voraus und später noch mehrfach angefragte Interviews (u.a. Floorplan, Cral Craig, Joe Claussell, Egyptian Lover) fanden allesamt nicht statt mit der Begründung, dass die Künstler im Vorfeld nicht darüber informiert worden seien. Anscheinend eine allgemeingültige Herangehensweise im Süden Europas, die ich 2013 bereits beim Sonar in Barcelona (u.a. mit Kraftwerk, Jurassic 5, Major Lazer, Richie Hawtin, Maya Jane Cole, Modeselektor) erfahren durfte.

Die Preise

Von November bis April 2023 ließ sich das 3-Tageticket zu sehr moderaten Early Bird Preisen von 120 € ergattern. Kurz vor dem Festival musste man dann 100€ pro Tag (!) und für den VIP Bereich 300€ pro Tag (!) berappen. Nicht ganz gerechtfertigt, denn als VIP konnte man lediglich den etwas höher gelegenen, beschatteten Terrassenbereich der jeweiligen Floors und das großzügige VIP-Gelände mit komfortablen Sitzmöglichkeiten genießen. Preis/Leistungsverhältnis etwas unsauber.

Inflation, Energiekrise und Festival eben ließen die Preise für Speisen und Getränke kräftig nach oben kraxeln. Unter 10 Euro gab es keinen Hamburger, die Getränkekarte habe ich vorsorglich nicht unter Augenschein genommen.

Die Stimmung

Bombe! Auch wenn unter den aktuellen Ereignissen in Osteuropa politisch nicht ganz korrekt, ein Knaller, ein Kracher! Von 12 bis 0 Uhr wurde gefeiert als ob es kein Morgen gäbe. In der wabernden Masse wurde jede Klimax und die folgende orgastische Entspannung frenetisch mit vertikalen Armbewegungen gefeiert. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die ein oder andere Stimulanz bei einem Großteil des Publikums, die mit weiten Pupillen Erleuchtung fanden.

Die Leute waren teilweise gestylt wie zu besten Mayday Anfangstagen. Dazu trug auch der kostenneutrale Schminkbereich bei, der von allen Geschlechtern intensiv genutzt wurde. Die Damen der Zunft trugen meist, außer einer recht knappen Bikini-Kombi, drapiert mit einem Nichts an Rock/Überwurf und Plateauschuhen, viel nackte Haut zur Schau – bei 30 Grad die logische Schlussfolge; die Männer aalten ihre Adonisoberkörper hedonistisch in der prallen Sonne, Sonnenbrand inclu.

 

Die Bühnen

Die Jäger Stage (woher der Name wohl stammt) unter dem bedachten, 300 Meter langen Hallenkomplex, fungierte als Mainstage und hatte die fettesten Acts am Start – hier versammelten sich zur Prime Time gut 20.000 Raver. Eine Kategorie kleiner die Future Stage, immerhin noch mit Rainer Zonneveld, I Hate Models und Chris Liebing an den Decks. Die Nova und Kosmo Stage featurten kleinere Acts und Festivalnischenmusik wie Electro, House oder breakende Beats. Neu im Programm die Voyager Stage, mit einem imposanten Turm, auf dem u.a. die interessantesten DJ- Sets stattfanden.

Die DJs

Selten hat ein Festival ein derartig hochqualitatives Line Up gesehen wie Kappa Futur 2023. Die Bandbreite von House über Electro bis zu Techno war atemberaubend und man kann dem Festivalkurator nicht genug für sein famoses Händchen und  erlesenen Geschmack danken. Im Einzelnen lassen sich die Tage selektiv wie folgt aufgliedern:

Freitag:

YOUniverse überraschten mit einem fetten, harten Housesound (u.a. Ohmme „Little Helpers 341-5“), gefolgt von Joe Claussell b2b DJ Deep. Dabei unterlief Joe gleich zu Beginn ein folgenschwerer Fehler, indem er die Boxen schredderte. Das 15 minütige Fixing ließ seine Laune spürbar sinken, er konnte dennoch mit Tracks von Ron Trent, Kerri Chandler, Henrick Schwarz und DJ Spen überzeugen, obschon DJ Deep aus Paris den besseren Festivaleindruck hinterließ und mit Rebükes „The Pipe“ den Vogel abschoss. Derrick Carter heizte bei einsetzendem Regen die Massen an: Jimmy Edgar, Eric Sylvester, Daft Punk oder Arminoise begleiteten eine Kit Kat Club gleiche, begeisternde  Bühnenshow. Zum Abschluss mein persönlicher Lieblingsact des Festivals: Floorplan. Robert Hood im Zusammenspiel mit seiner Tochter. Als Live-Set propagiert, entpuppte sich das 2h Klangspektakel als DJ-Set, wobei Floorplanproduktionen den geringsten Raum einnahmen. Höhepunkte: WhO „The Poet“, Cajmere & Dajae „Brighter Days“ im Marc Lys Rmx, Williams Kiss „Like This“ und Floorplan mit „ We Give The Honor“. Die Nachmittagssets der Swedish House Mafia und von Major Lazor unterschlage ich an dieser Stelle – zwar sehr Festival-geeignet, aber für mich zu sehr Crowd-Pleasing, zu sehr melodiöses BummBumm.

Samstag:

Cuartero legte am frühen Nachmittag auf der Mainstage mit einem brillanten, harten Houseset los (u.a. Brian Harden „Tour De Chi“, Mustafa Alpar „Makeba“, Close To Custom „Like Thiszz / waFF Remix”, Dimmish “Rave” & “Faida”). Großes Kino zu Beginn, das danach von einem der beiden besten Sets des Festivals getoppt wurde: Fatboy Slim betrat die Bühne und hatte die Massen von Beginn an im Griff – kein Wunder, wenn mal eben mit Queen „We Are The Champions“ beginnt. Wahnsinn und bewundernswert, wie ein so langgedienter DJ noch Spaß an seinem Beruf hat und das so nach außen vermitteln kann. Jeden Song hat er intensiv, körperlich mit interpretiert, hat pro-aktiv den Kontakt zum Publikum gesucht und war sogar mit gelb-schwarzer Strickmütze bewaffnet zu komischen Einlagen bereit. Musikalisch wusste er die Meute mit Floormagnet, Jesse Jose („Toca PrA Min“) und natürlich seinem Festivalklassiker, dieses Mal im 2022 Remix „Star 69“ – dem perfekten Festivalravetrack – zu Jubelstürmen hinzureißen. Seth Troxler lieferte auf der Voyager ein solides Set, u.a. mit Rodamaal & Alex Finkin, Gary Beck „Take You Back”, Diplo „Express Yourself / Mochakk Remix” und dem Abräumer Fischer & Aatig „Take It Off“. Auf ihn folgte an gleicher Stelle Ricardo Villalobos. In der ersten halbe Stunde eine echte Enttäuschung mit leblosen Tracks, die keinen Festivalcharaker aufwiesen und erst mit Donna Summers – „I Feel Love im Sterac Instrumental Dub Edit“ eine Belebung fand, doch da hatte er mich bereits an Carl Craig verloren, der mit Jon Dixon live eine grandiose Show bot. Auf Tracks von Kolter „Final Showdown“, DJ Pierre „I Feel Love (Monkey Safari Remix)“, Distant Sun „Machine Lernt” und dem Kracher “69 – Rushed” vollzog er einen manuell-spielerischen Umgang mit den Keys, die er über die einzelnen Tracks legte und ein organisches Set von 75 Minuten zauberte – elementar und mega-beeindruckend. Und dann kam sie: Peggy Gou – die amtliche Queen des Festivals lieferte den Höhepunkt des zweiten Tages. Selten habe ich ein Publikum im Vorfeld so gespannt und im Set mitfiebern gesehen, Körper an Körper drückte sich bis 100 Meter vor der Bühne. Mit kleinsten Handbewegungen dirigierte sie das Publikum und brachte die Massen zum Ausflippen, u.a. mit Humano „Death / Len Faki Hardspace Remix“, Sash „Ecuador / Klubbheads Remix“, Eelke Kleijn „Transmission / A.v. Buuren Remix“ und dem Kracher Testpress „Hwfg“. Auch sie spielte die beiden Hits des Festivals in der ersten Stunde ihres Sets (s.u.). Anzumerken war die fantastische auf sie allein abgestimmte Videoshow, in der sie videoanimiert auf einem Drachen in rote Farbe eingetaucht zwischen Stroboblitzen dahinreitet – Wahnsinn! Die Aftershow mit Seth Troxler und Carl Craig im Herzen Turins soll voll und hochkarätig geflogen sein. Eine Gästekarte für den interessierten Journalisten konnte, wie nicht anders zu erwarten, natürlich nicht organisiert werden (s.o.) – Erwartungen runterschrauben und neue Kräfte schlafend für den nächsten Tag sammeln.

Sonntag:

Fulminanter Auftakt bei Höchsttemperaturen auf der Future Bühne mit dem Duo Carl Cox und Nicole Moudaber. In der ersten halben Stunde haben die beiden die Crowd so was von weggeblasen, wie ich es schon seit langer Zeit nicht mehr gehört habe – drittbestes Set des Festivals! Kickrey „Dark Place“, SRVD „Yard Man“, Marco Farraone „Pressure“, Green Velvet & Patrick Topping „Voicemail“, The Advent „Format / Marco Faraone Remix” gehörten zu den fantastischen Sechs, die alles kurz und klein schlugen und einige Besucher mit Kreislaufkollaps Schachmatt setzten. Auf der gleichen Bühne danach ein undankbarer Job für Minimal-House Spezialist Frank Wiedemann von Âme – er verlor mit seinem eher eklektischen Sound 95 (!) % des Publikums. Selber Schuld, wenn ich konsequent an meinem Stil festhalte; andererseits auch dämlich vom Veranstalter konzipiert. Nach 25 Minuten schwenkte er auf härtere Sounds um (Dom Dollar „Strangers / Nora En Pure Mix“, DJ Abang Banting Dedek Bang „Shain Mix“) und lieferte später mit der Eigenproduktion Âme & Karyyn „The Witness“ amtlich ab. Vermisst wurde Mathew Johnson, der eigentlich im Team mit Frank an den Start gehen sollte. Nach dem soliden DJ Stussy, performte zum Abschluss Hot Since 82 das beste Set der drei Tage und machte seinem Nimbus und den vielen Auszeichnungen, die er über die letzten 10 Jahre sammeln durfte alle Ehre. Schöner, grooviger, harter House Sound, der die Massen an der Voyager Stage fett begeisterte. Kostproben seines unglaublichen Sets: Makebo & Volen Sentir „Alchemist“ – welch ein Track!, Mane „Maya / Alex Neri Remix“, Diego Amura „Euphoria“, Gianni Firmaio „Tete Du Beat“ – auch er spielte einen der beiden Festivalshits und ließ die pickepackevolle Tanzfläche explodieren.

Die Songs

Zwei Titel dominierten das Festival und die hatten einige DJs im Gepäck. Unter anderem setzten Fatboy Slim, Peggy Gou und Hot Since 82 auf den 30 Jahre alten (!) Klassiker von Capricorn „20Hz“ auf R&S aus dem Jahr 1993 im neuen Remixgewand von Marco Lys – die zweimalig ratternde Percussionsequenz im Mittelpart verwendet DJ Dero „Batucada“, ähnlich ebenfalls bereits 1993. Das Video mit mordlüsternden, weiblichen Sexmonstern, die einen gestrandeten Schiffbrüchigen verspeisen, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Das Teil wird den gesamten Festivalsommer dominieren! Noch eine Spur raviger kam die neue Scheibe der Chemical Brothers. „All Of A Sudden“ feuert unglaublich und räumt mit den ravig-metallischen Percussions im typischen, trockenen CB Stil komplett ab – besser und mehr kann Festival nicht!!! Die nächtliche Videoshow hierzu im Set von Peggy Gou verstärkte die Wirkung auf ein Maximum und ließ das Gelände kollabieren.

Das Resumee

Ein Festival dieser Größe, mit einem perfekten Fit der Location zur Musik, einem höllisch guten Line Up und einem derartig ultimativen Musikgenuss sucht man anderorts (auch international) vermutlich vergeblich. Eine klasse und empfehlenswerte Veranstaltung, die an der einen oder anderen Stelle noch Nachjustierungsbedarf hat – aber wer hat das in diesen Dimensionen letztendlich nicht. Also Early Bird Catcher: Augen auf im Herbst, wenn die elfte Auflage des Kappa Futur Festivals online gelauncht und ein kulturelles Vergnügen in 2024 greifbar wird.