Neon Graveyard – Schmerz, Realität und Wandel

Neon Graveyard – Schmerz, Realität und Wandel / Foto: Tien Duc Pham

Ob Tracks – irgendwo zwischen sphärischen Aphex-Twin-Breaks, euphorischen Trance-Closern und dystopischen Schranz-Grooves – oder Sets, die rastlos zwischen Genres hin- und herspringen: Neon Graveyard vereint, was unmöglich scheint und lebt dabei seinen Widerspruch. Der maskierte DJ und Produzent fällt in seinem Onlineauftritt immer wieder durch sein humoristisches Potenzial und wiederkehrende Absurditäten auf. Mal besiegt er als Kapitän des ersten FC Graveyard den VFL Dortmund oder bereitet sich mit Qi-Gong-Übungen auf einem pinken Tretboot für das Nibirii Festival vor. Auch Ausflüge und Discounter-Prosecco-Exzesse dürfen beim gelb maskierten Künstler niemals fehlen. Seine neueste Veröffentlichung auf WAHN – „ICD-10 F32.2“ – überzeugt jedoch mit Ernsthaftigkeit und Tiefgang. Der Diagnosecode des International Classification System for Deseases beschreibt rezidivierende depressive Episoden und bildet den Titel der EP.

Hallo, Neon Graveyard, heute wollen wir uns über dich und deine Konzept-EP austauschen. Was kannst du uns über „ICD-10 F.32.2“ und das Konzept deiner EP erzählen?

Der ICD-10 ist das internationale Klassifikationssystem für Krankheiten (10, weil zehnte Auflage). Unter dem Reiter „F“ sind alle psychiatrisch relevanten Krankheiten aufgeführt und 32.2 steht für rezidivierende, also wiederkehrende, schwere depressive Episoden. Die Diagnose als solche war für mich, aus heutiger Sicht, nicht ausschließlich negativ konnotiert. Viel eher sehe ich sie als einen starken Impuls zur Introspektion, zur Auseinandersetzung mit sich selbst und mit seiner Biografie, zur Akzeptanz und Annahme der eigenen Vulnerabilität.

Bei der EP wollte ich den emotionalen Ist-Zustand in einer akuten depressiven Episode vertonen. Angefangen von der sich langsam anbahnenden Gleichgültigkeit („ICD-10 F32.2“), die mit voller Wucht und Aggression in das depressive Mantra „I live in a world full of shit“ übergeht, dann in fragiler Trauer resigniert und zuletzt den einzigen Ausweg im eigenen Freitod sieht („Heaven is the cure“).

Zwar bin ich eher Fan von scheinbar „reiferen“, lösungsorientierten Konzepten, aber wenn du knietief in der Scheiße steckst, siehst du da erst einmal keinen Ausweg und bist absolut ohnmächtig. Natürlich weiß ich jetzt, dass es essenziell ist, Therapie zu machen, von Freunden und dem Umfeld in die richtige Richtung gepusht zu werden (Shoutout an KE:NT, der mir damals Mut gemacht hat, mich in die Psychiatrie einweisen zu lassen) und ein psychisches Fundament zu schaffen, um wieder am Leben teilnehmen zu können. In der akuten Episode aber war ich überwältigt von meinen Emotionen, da hat meine Amygdala meine Ratio ohne Spucke rektal genommen, und genau dieses Kapitel wollte ich ungeschönt vertonen.

Wie würdest du den Stil deiner Eigenproduktionen in Gegenüberstellung zu deinen DJ-Sets beschreiben?

Als ultimativ sexgeil. Scherz. Meine Sets unterscheiden sich tatsächlich sehr stark von meinen Eigenproduktionen. Da fahre ich eher den Weg der professionellen Schizophrenie. Im Club will ich einfach tanzen, eine schöne Zeit haben oder einfach mal geil saufen. Daher glaube ich, dass meine DJ-Sets in der Außenwahrnehmung als eher gut gelaunt aufgenommen werden. Im Studio hingegen gehe ich lieber in die Introspektion und nutze Musik als ein intimes Medium, um meiner Seele Ausdruck zu verleihen. Frei nach Rick Rubin möchte ich im Studio fließen lassen, was gerade da ist und das ist nun einmal nicht immer 4-to-the-Floor-Peaktime-Techno. Dabei ist es mir auch relativ egal, ob das Ganze EINE musikalische Linie verfolgt. Ich meine, zwischen „Fickalarm“ und „No Words of Farewell“ liegen Welten. Man könnte meinen, da waren zwei verschiedene Menschen am Werk, aber Emotionen sind nun einmal wandelbar, und meine Musik erfüllt für mich einzig und allein den Zweck, meine Seele zu channeln.

Gibt es etwas Spannendes in deiner Zukunft, wovon du erzählen möchtest? Was hast du für deinen zukünftigen Karriereweg geplant?

Tatsächlich macht Marcus (mein Booker bei der Shift Agency und Co-Veranstalter bei der WAHN, ich nenne ihn häufig „Vater“) einen wunderbaren Job, weswegen nächstes Jahr sehr viele internationale Gigs auf verschiedenen Kontinenten anstehen. Dafür bin ich extrem dankbar und nach knapp acht Jahren Musik spüre ich endlich einen Impact.

Mit Fertigstellung der EP konnte ich gleichzeitig meine Diagnose final bearbeiten. Für mich ist das Kapitel der Depression vorerst abgeschlossen, vielleicht hält sie noch einmal Einzug (weil rezidivierend), aber aktuell möchte ich mich Positiverem widmen. It was time to turn pain into power. Jetzt habe ich sowohl kognitiven als auch seelischen Platz für schöne neue Kollaborationen, z.B. mit einem meiner besten Freunde, Micha. Wir arbeiten gerade an mehreren EPs und einem (Hybrid-)Live-Set. Wird sehr spannend, aber alles zu seiner Zeit.

Außerdem interessiere ich mich momentan sehr stark für Sonnenblumen. Sonnenblumen sind einfach schön. An der Stelle ein Tipp für alle: Immer in der Liebe bleiben, denn Liebe ist Licht und ohne Licht keine Sonnenblume.

Veröffentlicht wird „ICD-10 F.32.2“ über WAHN, das Label, das du zusammen mit KE:NT führst. Hat es eine besondere Bedeutung, dass du die EP speziell auf diesem Label releast?

KE:NT und ich haben 2018 das Label WAHN gegründet, um frei von Konventionen eigene Musik zu veröffentlichen. Dabei haben wir nicht die Erwartungshaltung verfolgt, einen Release-Katalog zu führen, der von stetigem Wachstum und zig Artist-Kollaborationen geprägt ist, sondern wir wollten eine Release-Plattform schaffen, um eher konzeptionellere EPs herauszubringen, die dem eigenen Wahnsinn (im umgangssprachlichen Sinne) entspringen. Man könnte behaupten, WAHN sei eine Zwei-Personen-Selbsthilfegruppe.

Prinzipiell ist es auch genau das, da jedes Release von einem hohen Maß an Introspektion und implizit, ab Fertigstellung, von Katharsis geprägt ist.

Was kann man von WAHN sonst noch so in Zukunft erwarten?

Am 7. Oktober hatten wir unser erstes WAHN-Event in Bielefeld, das supererfolgreich lief. Unser Ziel bei den Events ist es, über die Nacht hinweg divers aufgestellte Line-ups zu kuratieren, bei denen sich jeder DJ-Slot in die Dramaturgie der Nacht einbettet. Würde man also alle DJ-Slots zusammenfassen, entstünde ein langes konstant steigendes Set. Beispielsweise haben die Gast-DJs bei der ersten Veranstaltung in folgender Reihenfolge aufgelegt: Supergloss, Lucinee, In Verruf, B2, Neon Graveyard b2b KE:NT. Man startet also mit Groove, geht über ins treibend Trancige, wird dann von den signature Saw-Basslines des klassischen R-Label-Sounds abgeholt, um die Nacht bei Hardgroove und Schranz zu beenden.

Die Idee dahinter entstand durch die Ermüdung von Bookings anderer Veranstalter*innen, bei denen permanent dieselben Acts mit demselben Sound gebucht wurden. Zwar ziehen die Bookings einschlägiger Namen und sind häufig ein Garant für einen vollen Club, aber ich hatte häufig ein Gefühl der Überstimulation, wenn über eine gesamte Nacht hinweg ausschließlich Hard-Techno, Rave Stabs und Schranz auf mich eindonnerten. Gleichzeitig war uns wichtig, eine Reminiszenz an eine Ravekultur darzubieten, in der es weniger um den nächsten heftigen Drop, sondern vielmehr um eine sinnliche tranceartige Dramaturgie geht, in der es dennoch energetisch geladene Momente gibt. Letztere haben meiner Meinung auch erst dann einen größeren Impact, wenn die auditive Stimulation langsam, stetig, fast schon tantrisch, über die Nacht hinweg in einen kollektiven Höhepunkt mündet.

Außerdem arbeiten wir mit dem Detmolder Kreativ-Kollektiv Labor7 zusammen und sorgen für verschiedene visuelle Stimuli, beispielsweise über Installationen, um den WAHN auch auf visueller Ebene darzustellen. Ich freue mich auf die Zukunft und hab’ Bock auf Leben.

Aus dem FAZEmag 142/12.2023
Foto: Tien Duc Pham
Text: Anna Noll
www.instagram.com/neongraveyard.wahn