ODESZA – Musik, in der Hoffnung steckt

Auf dem Langspieler-Parkett debütierten Harrison Mills und Clayton Knight im Jahr 2012. Mit „Summer’s Gone“ ließen sie sich soundtechnisch schon damals nur schlecht in eine Schublade stecken – von Chillwave, Future Bass, Experimental, Ambient bis hin zu Warm Summer Sounds lassen sich in den Tiefen des Internets so einige Beschreibungen finden. Heute, genau zehn Jahre später, lassen sich ODESZA noch immer schwer greifen. Genau das könnte man mittlerweile als eine Art Markenzeichen des Duos aus Seattle bezeichnen. Mit ihrem neuen und vierten Werk „The Last Goodbye“ kommen Harrison Mills und Clayton Knight auf 13 Titeln symphonisch, weit und emotional mitreißend daher und liefern pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum das wohl bisher ambitionierteste Album ab. Es verbindet persönliche Vergangenheit mit der Gegenwart und macht zeitgleich Lust auf die Zukunft, die endlich wieder miteinander zelebriert werden kann. Dabei kollaborierten sie unter anderem mit Acts wie Ólafur Arnalds, der portugiesischen MARO, Charlie Houston und der legendären Blues- und Soul-Sängerin Bettye LaVette.

Bei ihrer letzten Tour waren sechs Sattelschlepper, eine Streichergruppe und eine sechsköpfige Drumline im Einsatz. Die seinerzeit 198.000 verkauften Tickets für 35 Shows dürften für die anstehende Tour bereits jetzt getoppt sein. Und dies, obwohl keiner der Songs ihres letzten Albums „A Moment Apart“ (2017) zu einem waschechten Radio-Hit avancierte. Erfolge feiert das Grammy-nominierte Duo dennoch in unglaublichen Dimensionen – schon jetzt sind viele der angesetzten Tour-Termine ausverkauft. Veröffentlicht wurde das neue Album am 22. Juli auf Ninja Tune sowie dem eigenen Label Foreign Family Collective.

Zehn Jahre ODESZA. Welche Gefühle durchlebt ihr dieser Tage bei eurem Jubiläum?

Clayton: Irgendwie fühlt es sich an, als würde die Zeit rasen – auf der anderen Seite haben wir in dieser Zeit so viel erlebt, was locker auch für die nächsten 20 oder sogar 30 Jahre reichen würde. Es ist komisch und wahnsinnig zugleich, dieses Jubiläum zu feiern.

Harrison: Wir hätten niemals gedacht, dass wir solch eine Zeitspanne überstehen und freuen uns wahnsinnig. Wir sind quasi nach dem ersten Album auf Tour gegangen und sind daraufhin nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Wir dachten zunächst, dass wir ein paar kleinere Shows spielen und einige tolle Erinnerungen sammeln würden. Dass daraus ein Projekt entsteht, das unser Leben verändert, haben wir nicht für möglich gehalten.

Welche Momente aus diesem Jahrzehnt würdet ihr als besonders bezeichnen?

Harrison: Einer der ersten absoluten Meilensteine war sicherlich, das damals berühmt-berüchtigte Festival Sasquatch! in Washington zu spielen. Das Festival fand zwischen 2002 und 2018 immer traditionell am Wochenende des Memorial Day im George Amphitheater in Washington statt. Dort zu spielen, war lange ein absoluter Traum von uns. Wir hatten das wahnsinnige Glück, 2013 und 2015 dabei sein zu dürfen. Auch das Red Rocks in Colorado zu spielen und auszuverkaufen, kam für uns einem Ritterschlag gleich. Das ist hier in den Staaten etwas ziemlich Großes. Es gab unzählige solcher Highlights in diesem Jahrzehnt und wir möchten keines davon missen. Es fühlt sich oft noch immer wie ein Traum an.

Eure letzten drei Longplayer wurden stets in einem Dreijahres-Rhythmus veröffentlicht. Jetzt hat es etwa fünf Jahre gedauert, wobei ihr 2020 gemeinsam mit Golden Features das BRONSON-Projekt gemacht habt. Wie waren eure letzten Jahre?

Clayton: Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 begann, waren wir zunächst irgendwie befreit. Vor allem von dem ganzen Tour-Stress, E-Mails und den vielen Deadlines, die uns im normalen Alltag immer wieder begegnen. Es war wie eine Pause der gesamten Industrie, die uns persönlich die Möglichkeit gegeben hat, mal durchzuatmen. Nach sechs bis acht Wochen wandelte sich diese Befreiung allerdings in absolut negative Gedanken. Angst, Unsicherheit, Zweifel – nicht nur an uns selbst, sondern auch an der Welt im Allgemeinen. Niemand wusste ja zu dem Zeitpunkt, wie sich die Thematik entwickelt und ob es überhaupt jemals eine Rückkehr in die altbekannte Normalität geben würde. Es hat eine Weile gedauert, im Studio wieder Inspiration zu finden und einfach Musik zu machen, die wir gut fanden. Musik, die Hoffnung in sich trägt.

Harrison: Auf unseren Platten geht es ja nicht selten um Hoffnung.

Ich habe gelesen, ihr hattet in den letzten Monaten eine Menge Zeit, um über das Leben nachzudenken. Auch über eure Familien und Freund*innen sowie über die Frage, wer ihr eigentlich seid.

Harrison: Die ganze Idee zum Album begann ja mit absolut unvorhersehbaren Umständen. Wir hatten also nicht nur die Möglichkeit, sondern wurden quasi an den Punkt gebracht, an dem wir nicht nur über uns, sondern über das Leben im Allgemeinen, unsere Familie und auch unsere Freunde nachgedacht haben. Wer wir sind, was es bedeutet, das zu tun, was wir tun, und letztendlich, für wen wir das tun. Wir haben uns auf den Einfluss konzentriert, den unsere Familien und Freunde auf uns ausgeübt haben, und wie wir diesen Einfluss auf unserem Lebensweg weiter ausstrahlen wollen. Wir fanden Trost in der Tatsache, dass diejenigen, die wir lieben, bei uns bleiben, dass sie in gewisser Weise ein Teil von uns werden. Gibt es wirklich ein letztes Lebewohl? Wir glauben nicht. Daher der Albumtitel. Eine Zeit der absoluten Selbstreflexion, die sehr gesund für uns war.

Clayton: Definitiv. Und das hat das Album und den Prozess des Schreibens ungemein beeinflusst. Wir haben kurze Soundfragmente von alten Soundaufnahmen von unseren Familien gesampelt und auf dem Album integriert. „The Last Goodbye“ ist also auch ein sehr persönliches Werk.

Harrison, in einem Interview mit Billboard sagst du, dass das Verrückteste wohl sei, dass du auch nicht wirklich wüsstest, wo ihr hingehört und ihr oft erklären müsstet, wer ihr seid. Ihr habt unglaubliche Erfolge und füllt ganze Arenen, ohne jedoch den typisch kommerziellen Erfolg durch Radio- oder Chartplatzierungen zu haben. Wie war euer Ansatz beim neuen Album?

Clayton: Ich glaube, wir haben noch immer unsere Herausforderung damit zu erklären, was wir für einen Sound machen. Zumal dieser sich ständig weiterentwickelt und permanent beeinflusst wird von allem Möglichem, das uns begegnet. Wir verändern uns also immer und immer wieder. „Bronson“ war ein grandioses Projekt, um uns zwei aus unserem damals gewohnten Sound-Kosmos herauszuholen. Wie eine Blaupause für uns, einfach mal etwas Neues auszuprobieren und dabei ins Dunkle hinein zu produzieren, ohne wirklich ein klar definiertes Ziel vor Augen zu haben. Wir hatten beim jetzigen Werk den gleichen Ansatz und keinerlei Erwartungen. Und genau so haben wir auch den Spaß am Musikmachen wiederentdeckt.

Harrison: Wir haben also keine Musik gemacht, von der wir dachten, dass die Leute sie von uns erwarten. Bei diesem Prozess, der sehr befreiend war, haben wir viel gelernt – auch technisches Zeug im Studio. So haben wir uns während der Arbeiten am Album auch selbst weiterentwickelt. Neue Synths, neue Plug-ins, weitere Hardware, die wir bis dato noch nicht benutzt hatten. Es hat Spaß gemacht und unsere Musik mit Sicherheit maßgeblich geprägt.

Clayton: Wir haben z.B. viel mehr Dance-Music integriert bzw. uns mit dieser beschäftigt. So sind wir damals vor zehn Jahren ja auch gestartet, es war alles wesentlich elektronischer und melodischer. Ich persönlich habe den Eindruck, dass unsere letzten Sachen eher intimer und für Kopfhörer gedacht waren. Das neue Album könnte man gefühlt Freitagabend im Auto auf dem Weg zu Freunden hören, ehe man den zweiten Teil tanzend verbringt (lacht). Ich finde diese wellenförmige Veränderung über die Jahre spannend.

Würdet ihr sagen, dass das Album ohne die Pandemie anders klingen würde? Viele Künstler*innen betrachten die Auszeit als einen großen Einfluss auf ihre Musik, entweder negativ oder positiv.

Harrison: Definitiv, ja. Alleine dadurch, dass wir mal mehrere Tage und sogar Wochen am Stück im Studio waren und, wie schon erwähnt, die Möglichkeit hatten, neue Dinge auszuprobieren. Diese Freiheit war in den letzten Jahren aufgrund der eng getakteten Agenda einfach nicht möglich. Wir waren plötzlich in der Lage, Routinen zu etablieren. Ohne die Pandemie hätte das Album wahrscheinlich einen größeren Live-Charakter.

Erzählt uns etwas über den Produktionsprozess. Ihr hattet einige intensive Sampling-Sessions, z.B. mit Videos aus eurer Kindheit.

Clayton: Wir hatten anfangs gar keine wirkliche Intention oder gar Idee dazu. Im Laufe des Prozesses, quasi zeitgleich mit den Momenten mit unseren Familien und Freunden, merkten wir, dass wir im Studio auch emotionaler waren. So formte sich das eigentliche Thema des Albums erst im Prozess selbst. Wir folgten dieser Intuition und fragten uns währenddessen immer wieder, warum wir uns zu gewissen Sounds und Dingen so hingezogen fühlten. Wir tauchten in unsere eigenen Gefühlswelten ein und tauschten uns sehr oft über unsere Emotionen und Gedanken aus. Diese Dinge, gepaart mit den Beziehungen zu unseren Liebsten, entwickelten sich immer mehr zu einer Quelle der Inspiration. Weil sie solch eine bedeutende Rolle einnahmen, wollten wir, dass sie auch ein Teil des Albums werden. Dann begannen wir, Sounds aus Videos oder Sound-Aufnahmen zu sampeln.

Harrison: Das war superwitzig. Als ich das letzte Mal alte Familienvideos angeschaut hatte, war ich 15 oder so. Es war schön und gab uns die Möglichkeit, unsere Eltern z.B. auch aus einer neuen Perspektive zu sehen.

Neben den „Features“ mit der eigenen Familie gab es auch zahlreiche Kollaborationen mit Acts wie Ólafur Arnalds, The Knocks, Bettye LaVette und MARO aus Portugal.

Harrison: Ja, was für eine fantastische Liste an Künstler*innen. Wir sind von jedem einzelnen sehr fasziniert und freuen uns sehr, dass sie Teil des Projekts sind. Im Prinzip begann alles damit, dass wir im Studio saßen und ein paar E-Mails an Künstler*innen verschickt haben, die wir sehr mögen. Wir haben viele angeschrieben, nicht alle haben geklappt, aber am Ende sind wir mit den Resultaten sehr zufrieden und glücklich. Es war uns wichtig, dass die jeweiligen Künstler unsere Musik in ein neues Licht rücken und alles durch ihren Stil prägen. Mit vielen haben wir Ideen einige Male ausgetauscht, hin- und hergeschickt, sodass die Stücke dadurch oftmals auf ein neues Level gehoben wurden.

Clayton: Im Prinzip versuchen wir das bei jeder Kollaboration so zu händeln. Wir pushen den jeweiligen Act in eine neue Richtung und vice versa. Ich finde, genau das macht ein gutes Feature aus.

Welche Kollaboration war eurer Meinung nach die überraschendste?

Harrison: Die sicherlich interessanteste war wohl die Zusammenarbeit mit Bettye LaVette. Wir haben großen Respekt vor ihr und ihren Vocals. Und wenn man Dinge sampelt, hat man zunächst nie wirklich die Garantie, dass die jeweilige Person das Resultat mögen wird. Man hofft gefühlt permanent, dass das Gegenüber das Gleiche fühlt, wenn er oder sie den Song hört. Auch wenn es länger gedauert hat, weil das Stück generell sehr lang ist und viele Twists hat, war das Ergebnis sehr gut und wir freuen uns, dass wir Bettye auf gewisse Weise auch würdigen konnten. Ihr Song „Let Me Down Easy“ aus dem Jahr 1965 hat uns extrem fasziniert. Wir mussten einfach etwas damit machen.

Clayton: Bei „Forgive Me“ mit Izzy Bizu gab es auch unzählige Versionen, bis wir alle wirklich zufrieden waren. Irgendwann verliert man sich auch in einem Stück und muss es eine Weile ruhen lassen, um Abstand zu gewinnen. Erst dann wird einem oftmals klar, was genau verändert werden muss. Das war bei diesem Stück der Fall.

Clayton, im selben Interview hast du gesagt, dass die Vorbereitung der Live-Show „im Grunde genommen wie das Schreiben eines weiteren Albums“ sei. Erzähl uns mehr darüber.

Clayton: Absolut. Wir haben unsere Live-Show schon immer als ein komplett eigenständiges Projekt angesehen, losgelöst von den jeweiligen Alben, mit denen wir getourt sind. Es gab eine Zeit, da mussten wir recht intime Songs „bühnentauglich“ machen, also mit mehr Energie und Dynamik versehen, damit sie in einer Live-Situation funktionieren. Mittlerweile haben wir eine solch lange Diskografie, dass wir ein Konzert sehr facettenreich gestalten können. Wir möchten eine Show immer so gestalten, dass wir sie uns selbst gerne anschauen würden. Sie muss zeitgleich powervoll, lustig und abwechslungsreich sein. Die Erfahrung all der Jahre auf Tour, gepaart mit den ganzen Songs, gab uns gute Voraussetzungen, um unsere eigenen Anforderungen zu erfüllen. Wir sind sehr auf das Feedback gespannt. Das Album ist seit rund drei bis vier Monaten fertig und unmittelbar danach haben wir uns an die Planungen zur Live-Show begeben.

Harrison: Wir nehmen dazu im Prinzip jeden Track nochmals komplett auseinander und sortieren die jeweiligen Stems in Kategorien wie Drums, Bass etc., so können wir smoothere und interessantere Übergänge kreieren. Ein Haufen Arbeit, die sich aber am Ende auszahlt. Auch visuell ist eine Menge passiert.

198.000 Tickets bei 35 Shows bei eurer letzten Tournee: unglaubliche Zahlen, die bei dieser Tour wohl schon getoppt sind. Viele Shows sind bereits ausverkauft. Die Veranstaltungsorte eurer kommenden Live-Tour sind sehr speziell, meist Amphitheater.

Harrison: Wir hatten gemeinsam mit unserem Team die Idee, in Venues zu spielen, die in der Regel für andere musikalische Welten bekannt sind bzw. ihren Fokus eher auf Bands oder Ähnliches hatten. Daher sind viele der Locations richtige Amphitheater. Der Vibe dort, mit den meist runden Tribünen, ist unglaublich. Wir kreieren dort eine Art Mini-Festival mit Food-Court und mehr. Und ja, viele Shows sind in der Tat schon ausverkauft, und wir können es nicht mehr abwarten, endlich wieder vor Publikum zu stehen nach all den Jahren der Durststrecke. Auch planen wir, im Herbst oder Winter nach Europa zu kommen.

Clayton: Es wird 27 Shows in Nordamerika geben, einige davon haben wir bereits gespielt. Am 29. Juli startete die Tour mit drei ausverkauften Shows in der Climate Pledge Arena mit rund 17.500 Plätzen. Sylvan Esso und San Holo sind ebenfalls Teil der Tour, und es macht riesigen Spaß. Luke Tanaka ist für die Visuals zuständig und Sean Kusanagi ist der Creative-Director. Wir sind mit 11 Trucks und einer Crew von über 100 Leuten unterwegs. Es ist unglaublich.

Das Album wird auf eurem Label Foreign Family Collective erscheinen. Erzählt uns mehr über die nahe Zukunft des Labels. Mitte August wird das neue Phantoms-Abum erscheinen, richtig?

Clayton: Es wird eine Menge neue Musik auf dem Label erscheinen. Auch planen wir ein paar Sachen wie z.B. Pop-up-Events, die aktuell noch geheim sind. Wir sind sehr stolz auf diese Plattform und darauf, Künstler*innen eine Möglichkeit zu bieten, gehört zu werden. Neben neuem Output von Phantoms wird es in diesem Jahr auch neue Sachen von Golden Features und Gilligan Moss geben.

FAZEmag 126/08.2022
Text: Triple P
Foto: Tonje Thilesen
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