Ein Freizeichen. Ein langes Tuten. Niemand hebt ab. Dann klingelt parallel hierzu ein Telefon. Einmal. Zweimal. Ein weiteres läutet. Ein ganz anderer Klang. Retro. Diesmal aus der linken hinteren Ecke des Raumes. Schließlich greift jemand zum Hörer. „Hello?”, fragt eine männliche Stimme. Dann setzt die Melodie ein. Die Melodie von „Looking Out For You”. Sanfte Pianoklänge, gespielt auf dem Synthesizer. Gespielt von Schiller. Bass setzt ein. Die Drums kommen hinzu. Erst kaum wahrnehmbar, später bombastisch, brachial und mit voller Wucht. Die Vocals von Tricia McTeague, die Strophen und Refrain singt. Einige Minuten später ist der Track vorbei. Ruhe. Der riesige Proberaum erstarrt in seiner vollen Stille. Die Musiker: hochkonzentriert und mit geschlossenen Augen. Dann ein erleichtertes „Yeah”-Raunen, das durch den Raum schallt. „Great, but can we do it one more time?”, fragt der Schlagzeuger. Ein Freizeichen. Ein langes Tuten. Niemand hebt ab …
Das waren die ersten Minuten nach meiner Ankunft im Rehearsal – einem großen, bestimmt sechs Meter hohen Proberaum, rundum mit schwarzen Stoffen verhangen. Gut zwei Meter hohe Boxenblöcke. Eine straßenlaternenartige, dezente Beleuchtung, auf Live-Set und Musiker gerichtet. Eine Vier-Punkt-Beschallung, die den Surround-Sound generiert. Ich bin live dabei, wenn Christopher von Deylen alias Schiller mit seiner zum Teil neu zusammengestellten Band für die große Arena-Live-Tournee probt. Hier, im Studio 20/20, bei einem der weltweit führenden Event-Ausstatter und Bühnenbauer: satis & fy, im nordrhein-westfälischen Werne. Tontechniker Peter Amoneit reicht mir den berühmten „Knopf im Ohr”, wie ihn die Musiker bei ihren Live-Konzerten tragen, damit ich den Sound nicht nur über die P.A. höre. Der Beginn einer wunderbaren musikalischen Reise für mich. Denn eigentlich waren mir 60 Minuten Zeit eingeräumt. Doch aus 60 Minuten wurden fünf Stunden.
20 Jahre Schiller. 1999 bis 2019. Zwei Dekaden außergewöhnliches Schaffensdasein eines musikalischen Ausnahmekünstlers, dessen Stil bis heute weltweit einmalig ist. Oft kopiert, nie erreicht. Ein kreativer Kopf und Visionär, den es von Hamburg nach Berlin nach Global Planet verschlagen hat. Ein Zuhause? Hat der wegweisende Synthesizer-Pionier, sympathische Freigeist und bodenständige Kosmopolit nicht. Sein Zuhause ist die Welt. Und seine Welt ist der Klang. Sphärisch, elementar, poetisch, melodiös, verträumt und hypnotisch. Mal beatorientiert, mal vocallastig. Immer zum Nachdenken, Abschalten, Relaxen und In-sich-Gehen anregend. Runterfahren. Oder „downcoolen”, wie man heutzutage auch sagt. Klare Arrangements und Strukturen in den Werken, kraftvolle Tracks mit einer prägnanten Symbiose aus rollenden, sich peu à peu steigernden Inhalten und eingängigen, langen Flächenpassagen. Mit Feinsinn und Fingerspitzengefühl komponiert. Sieben Millionen verkaufte Tonträger. Gold- und Platin-Auszeichnungen. Nr-1-Alben. Ausverkaufte Tourneen. Aufwendige Licht- und Laser-Installationen und exzellent ausgesteuerter Surround-Sound. Das ist Schiller. Das ist Christopher von Deylen, der in den 1990er-Jahren als Praktikant in Hamburger Tonstudios den Grundstein seiner Karriere legte und lernte, wie man Musik produziert und Alben aufnimmt. Das ist Christopher von Deylen alias Schiller.
„Looking out for you?”, ist meine erste Frage, die ich Christopher stelle, nachdem wir uns in die gemütliche, loungeartige und mit großen Ledersesseln ausgestattete Media-Ecke zurückgezogen hatten. Vor uns: zwei Flaschen Wasser auf dem kleinen Glastisch. Rechts neben uns: ein Fernseher. Ein LED-TV, auf dem in Endlosschleife Schiller-Einspieler laufen. „Looking out for you”, antwortet Christopher. „Großartige Neu-Interpretation und in den großen Arenen sicher ein klasse Effekt”, erwidere ich. „Ja, definitiv. Wir lassen die Telefon-Sounds in Surround ertönen. In Quadro-Sound sogar, von hinten und links und rechts“, erzählt er weiter. „Wer sagt denn das ,Hello’?”, will ich wissen. Es war Gary. Gary Wallis, der Schlagzeuger, der auf der gesamten „Es werde Licht”-Tournee die Drums spielen wird. Ich kenne Gary. Nicht persönlich, aber ich weiß, dass er eine Legende ist und bereits 1994 mit Pink Floyd auf der „Divison Bell”-Tour dabei war. Er als Schlagzeuger, ich damals als Zuschauer in München. „Gary war auch schon auf der ersten Schiller-Tour als Drummer im Team”, erzählt mir Christopher. 2004. Das war vor 15 Jahren. Zum 20. Schiller-Jubiläum ist der Brite wieder an Bord. „Wir haben seither den Kontakt auch nie ganz verloren und ich hätte ihn auch gerne bei anderen Touren im Band-Ensemble gehabt. Aber es hat aus terminlichen Gründen einfach nicht geklappt. Umso glücklicher bin ich, dass er bei der kommenden Live-Reise dabei ist. Gary saß auch im Studio bei den Album-Aufnahmen an den Drums – und auf Tour wird das Ganze noch mal größer, stärker, kraftvoller und mächtiger klingen.“ „Wie habt ihr euch denn kennengelernt?”, hake ich interessiert nach. „Das war im Jahr 2001. Und unser allererster gemeinsamer Probetag war der 11. September 2001. Wir haben gestern noch darüber geredet, wie wir damals zusammensaßen und jemand reinkam und sagte, wir sollen den Fernseher anmachen, denn es sei etwas Schreckliches passiert.“ Kurze Pause. Christopher hält inne und richtet seinen Blick auf Doug, der just in diesem Moment auf dem Flatscreen zu sehen ist. Doug Wimbish, Bassist, ein bekanntes Gesicht in der Band. Der US-Amerikaner, der in seiner musikalischen Vita Namen stehen hat wie Madonna, Depeche Mode und Mick Jagger. „Doug … Er ist eine absolute Bereicherung. Er ist so ein Perfektionist”, schwärmt Christopher, freut sich, dass Doug seit der letzten Tour 2016 mit von der Partie ist und fährt fort: „Auch Tricia McTeague ist kein Neuling, stand sie ja bereits bei der letzten Tournee ,Zeitreise’ am Mikrofon. Zweite Vokalistin ist Sophie Hiller. Sie ist neu im Team. Und besonders freue ich mich auf ihre Performance mit der Querflöte. Ich wusste bis vor ein paar Tagen gar nicht, dass sie Flötistin ist. Als sie es mir erzählte und meine Begeisterung bemerkte, zögerte sie nicht – sie rief ihre Mutter an und ließ die Querflöte einfliegen. Vor drei Stunden kam sie an.”
Von der Flöte zu den Vocals. Peter Heppner, Xavier Naidoo, Der Graf. Und jetzt Nena.
Nena. Endlich Nena. (lacht) Nena, weil Nena dem Titelsong „Morgenstund” eine ganz besondere, stimmliche Note verleiht. Wir haben uns kurz nach „Weltreise“, dem zweiten Album, in unserer damaligen Heimatstadt Hamburg getroffen und wollten etwas zusammen machen. Aber irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Dann verstrich die Zeit. Und jetzt war die Zeit reif für eine Zusammenarbeit.
Und warum Nena?
Gegenfrage: Wen gibt es außer Nena? Es gibt Nena – und es gibt … Nena. Vor allem im deutschsprachigen Raum und als weibliche Künstlerin. Sie hat so eine Authentizität und ist ihrem Stil über all die Jahre so sehr treu geblieben. Das ist heutzutage absolute Seltenheit, zumal ja – gerade in der schnelllebigen Musikbranche – an Künstlern immer gezerrt und gerüttelt wird, sie sollten sich irgendjemandem oder an irgendetwas anpassen. Da hat Nena Gott sei Dank nicht mitgemacht. Sie ist klaren Blickes ihren Weg gegangen – und dieser Weg führte schlussendlich zu unserer Kooperation. (lacht)
Nena gibt dem Titelsong „Morgenstund“ eine Stimme. Ich bin sehr auf die Live-Version gespannt, zumal der Song … nun ja …
Ohne dich unterbrechen zu wollen, weiß ich, was du meinst. „Zumal der Song sehr vocallastig ist”, wolltest du sagen?! (lacht)
Exakt. Und ich vermute, dass Nena nicht auf der kompletten Tour mitreisen wird.
Nein, wird sie vermutlich nicht. Vielleicht ist sie an ein oder zwei Abenden dabei, aber das ist noch völlige Zukunftsmusik. Generell muss man da tatsächlich schauen, in welcher Form es „Morgenstund“ in die Live-Playlist schafft. Denn die Stimme ist maßgeblicher Bestandteil der Komposition und der Titel müsste musikalisch sehr verändert werden – vielleicht so stark, dass er sich für eine Live-Umsetzung nicht eignet. Das wäre dann der Grund für mich, „Morgenstund“ nicht live aufzuführen. Denn man kann einen Song auch „kaputt arrangieren“. Das möchte ich natürlich vermeiden.
Lass uns gerne noch mal zu Pink-Floyd-Drummer Gary Wallis zurückkehren. Bisher war es so, dass die akustischen Drums von jemand anderem gespielt wurden als die elektronischen Drums. Gary übernimmt 2019 beide Parts?
Genau. Im Grunde genommen ist es so, dass Gary einer der wenigen Schlagzeuger ist, die Akustik und ernst gemeinte Elektronik-Drums beherrschen und quasi parallel spielen und bedienen können. Das ist deshalb so besonders, weil es bei Elektronik-Drums immer eine minimale Verzögerung gibt, da der Sound ja von einem Synthesizer oder Computer abgerufen wird. Es sind eigentlich nur Mikro-Sekunden, aber wenn man ein Groove-Pattern spielt, das sowohl aus akustischen wie elektronischen Trommeln besteht, ist genau dieses Delay das – in Anführungszeichen – Problem. Und Gary beherrscht es, dass alles wie ein einziger Groove klingt.
Weiter erzählt mir Christopher, dass er und Gary schon seit Februar 2018 mit den Vorbereitungen der Tour beschäftigt seien und Gary das Drum-Kit extra für die Arena-Tour zusammengestellt habe. In dieser Form, Aufstellung und Konstellation gab es dieses Schlagzeug-Set bisher noch nicht. Stets an Garys Seite war und ist bis zur Tour: sein Techniker, der alles überwacht und abstimmt.
Gary Wallis sorgt für den richtigen Groove – Mike Rutherford für die richtigen „Saitenhiebe“.
(lacht) So kann man es auch sagen, ja. Auch Mike Rutherford ist kein Unbekannter. Er war bei Genesis bereits als Bassist und Gitarrist im Einsatz und ist der Gründer von Mike & the Mechanics.
Die schönsten Geschichten schreibt bekanntlich das Leben. Und die Geschichte, wie es zur Zusammenarbeit zwischen Schiller und Mike Rutherford kam, ist so skurril wie zufällig: Als Christopher und Gary Mitte August 2018 telefonierten, erzählte Gary, er sei bald in den The Farm Studios in Südengland – wo bereits Phil Collins und Genesis aufgenommen hatten –, um das Schlagzeug auf dem neuen Album von Mike & the Mechanics zu trommeln. Christopher war begeistert. Klar, als Phil-Collins- und Genesis-Fan. Irgendwie kam es im Laufe des Gesprächs dazu, dass Gary meinte „Hey, maybe we can record some drums there“. Und so fand sich Christopher bald in den legendären Studios ein und vier Songs für das neue Album wurden mit Gary an den Drums und mittels Dutzender Mikrofone aufgenommen: „Love“, „Avalanche“, „Universe“ und „Harmonia“. Während der Finalisierung von „Harmonia“ betrat Mike Rutherford den Raum. Er fand den Titel so gut, dass er anbot, eine Gitarre beizusteuern. Und so wurde aus einem Track, der ohne Drums und ohne Gitarre geplant war, ein Track mit Drums und mit Gitarre. Wer braucht schon einen Masterplan, wenn man solche Begegnungen hat?!
Interessanter Exkurs: Es war gar nicht vorgesehen, ein akustisches Schlagzeug für die neue Platte aufzunehmen, sondern es stand nur das elektronische auf der Agenda. Vier Titel also, die Gary Wallis untermalt. Alle weiteren Drums programmierte Christopher mithilfe der Technik. Kommt die Frage auf, wo er den Rest des Albums denn produzierte. „Zum Beispiel in Berlin“, antwortet Christopher. „Hier habe ich mit Thorsten Quaeschning von Tangerine Dream ein komplettes Studio mit zig analogen Synthesizern ausgestattet. Und wir haben einen ganzen Tag lang – ja, fast schon wortlos, kann man sagen – Musik gemacht.“ Das Ergebnis ist auf Disk 2 zu finden: „Morgenstern”, in seiner kompletten Vollendung. „Ein anderes Stück entstand in Teheran, wo ich fast zwei Monate (nahezu am Stück) war: Zweimal für Konzertreisen und einmal für Kompositions- und Studioaufnahme-Sessions, im Persian Sound City Studio Teheran.“ Entstanden ist „Berlin – Tehran“. Übrigens: Schiller war seit 1979 der erste westliche Künstler, der im iranischen Teheran auftreten durfte. „Eine ganz besondere Ehre“, wie er mir verrät.
Spannend, wie das alles damals angefangen hat. 20 Jahre ist es nun schon her. Kurz darauf die ersten Tourneen. Von kleineren Locations mit ein paar Hundert Leuten zu mittelgroßen wie dem Palladium in Köln mit 2000 Gästen. Und heute füllst du eine Arena mit 15 000 Plätzen. Das Licht: immer feiner, immer spektakulärer. Erst Moving-Lights, dann zusätzlich große Lasersysteme. Erwarten die Fans ein Mehr bei jeder Tour, sprich noch mehr Lichter, noch mehr Laser, noch mehr Show?
Ich finde, man darf oder sollte kreative Ziele nicht mit mehr Material gleichsetzen. Die Versuchung ist groß, dass man sich in der eigentlichen Produktion, in Licht und Inszenierung, verliert, dass man irgendwann an dem Punkt ist, an dem man bemerkt: „Für Musik hab ich jetzt eigentlich keine Zeit mehr.“ Die Musik muss einfach im Vordergrund stehen. Und ich habe immer versucht, die harmonische Balance zwischen Musik und Licht beizubehalten. Dennoch gab es in der Tat Momente, in denen ich mich selbst am Ärmel zupfen musste und sagte „Ganz kurz mal wieder zurück zur Musik“. Ich möchte die Musik mit Licht und Farbe bebildern – und nicht umgekehrt. Meine Vision ist ja nicht, einen Soundtrack für Lasershows zu machen.
Deshalb auch der komplette Verzicht auf Licht und Laser bei den Proben, bei denen ich heute zu Gast bin?
Ja, das haben wir bewusst so entschieden. Es geht in den gut zwei Wochen, in denen wir hier sind, nicht um Licht, sondern um die Musik. Es geht auch nicht darum, die Stücke einzustudieren. Das könnte auch jeder Musiker für sich separat machen. Danach würde man sich treffen und für die Tour proben. Nein. Dass wir uns in der gesamten Bandformation getroffen haben, hat den Grund, die Stücke neu zu erarbeiten, neu zu arrangieren und auf diese Besetzung anzupassen, beziehungsweise den Charakter etwas zu verändern. Es gibt ein Instrumentalstück, „Ultramarin”, das haben wir so verändert, dass es nun einen sehr mitreißenden Reggae-Charakter erhält. Aber subtil und ohne Effekthascherei. Wir proben hier auch so, als gäbe es kein Licht. Deshalb haben wir auch keines hier. Der Sound muss intensiv und mitreißend sein, auch wenn es keine einzige Lampe gibt. An diesen Punkt will ich kommen. Wenn das alles perfektioniert ist, wird das Lichtwerk hinzugefügt – und dann merkt man, dass eins plus eins gleich drei ist.
Wer ist denn die – im wahrsten Sinne des Wortes – Lichtgestalt?
Vince Foster, der in Zusammenarbeit mit mir das gesamte Lighting entwirft. Und zwar für die fertigen Stücke, wie sie live gespielt werden, wie wir sie hier gerade proben.
Licht ist das eine. Ton ist das andere. Was wäre eine Probe zur Live-Tournee ohne perfekten Klang?! So kommt er ins Spiel: Peter Amoneit, seines Zeichens Monitor-Engineer. Nicht nur bei den Proben. Auch bei der gesamten Tour ist der Meister für Veranstaltungstechnik und L-Acoustics-Systemtechniker dabei. Sein Arbeitsplatz: nicht FoH, sondern on Stage. Nur wenige Meter von Christopher entfernt. Seine Workstation: Ein Yamaha-Mischpult der neuesten Generation. Mehr als 100 Kanäle. „Das Wichtigste in Sachen Ton ist, dass der perfekte Klang überall in der Arena zu hören ist”, sagt Peter. „Egal ob in der ersten Reihe oder am anderen Ende der Halle. Eine optimale und präzise Aussteuerung des Quadro-Surroundsystems ist das A und O. Die Krux dabei ist, dass jede Location natürlich mit einer unterschiedlichen Anzahl an Speakern bestückt werden muss. Größe, Architektur, Klang- und Raumverhältnis sind nirgendwo identisch.”
Christopher, noch mal kurz zurück zur Entwicklungsreise der Songs. Beispiel „Schiller“. Der Track ist auf deinem zweiten Album „Weltreise“ und zählt zu den Klassikern, die in keiner Show fehlen dürfen. Sieht man sich hier einmal die Entwicklung an, merkt man, wie sehr sich das Stück im Lauf der Jahre verändert hat. Auf dem Album noch eher minimalistisch, avancierte es bei deinen Liveshows mehr und mehr zum Bombast-Track mit Gänsehaut-Garantie.
Danke, das höre ich gerne. Und ich sag mal so: Wenn man ein Album macht, ist man gefangen zwischen Größenwahn und Todesangst. Oder anders: Man sagt sich „Das wird nie was“ oder „Das ist das Beste, das ich je gemacht habe“. Und man wünscht sich natürlich, dass jeder Ton für die Ewigkeit produziert ist. Einen Titel live zu spielen, bietet eben die Möglichkeit, etwas zu ergänzen, zu verändern. Um auf dein Beispiel „Schiller“ zu kommen: Das spielen wir 2019 in einer sehr puristischen Form, die sehr nah am Original ist. Vermutlich. (lacht)
Oder „Glockenspiel“. Schaut man sich die Ursprungsversion an und die Version auf der „Zeitreise“-Tour: ein Unterschied wie Tag und Nacht. In der Neuauflage hört man keine einzige Glocke. Sie werden allesamt durch den Bassisten Doug Wimbish interpretiert. Ein smoother Chill-out-Track mit großer Eleganz und Kraft.
„Glockenspiel“ stand bei der 2016er-Tour „Zeitreise” gar nicht auf der Setliste. Es war über die Jahre schon zu verfasert, sodass mir unklar war, wie man es auf eine kraftvolle Ebene bekäme. Deshalb wollte ich es gar nicht spielen.
Und dann kam Doug.
Doug, der Bassist. Schiller hat aber auch einen Gitarristen. Christopher nennt ihn ein Genie. Jemand, der nicht breitbeinig und omnipräsent auf der Bühne steht und die Aufmerksamkeit des Publikums sucht. Sondern jemand, der mit hintergründigen Taten überzeugt. Immer wenn man nicht damit rechnet, liefert Scott McKeon so überzeugend ab, dass die kreative Eingabe direkt in den Song aufgenommen wird.
Neben dem musikalischen Basement der Band sind es vor allem auch die Gastmusiker und Featuring-Partner, die das Gesamtkunstwerk „Morgenstund” zu dem machen, was es ist: ein Gesamtkunstwerk. So vielfältig die Bandbreite der Kooperationen ist, so obskur, aberwitzig und prophezeiend war auch hier so manches Kennenlernen. „Ich wurde für einen Remix von ‚Scarface‘ angefragt”, erzählt Christopher. „,Scarface‘ Von Giorgio Moroder. Fand ich erst mal sehr spannend. Als ich kurz nach der Anfrage erfuhr, dass Giorgio Moroder ein DJ-Set in München spielen würde, nutzte ich die Gelegenheit, fuhr hin und begegnete ihm zum allerersten Mal persönlich.” Christopher ließ Situation und Person auf sich wirken. Man verabredete sich zum Frühstück. Kaffee. Brötchen. Der nächste Tag: Eine kunterbunte Unterhaltung. Querbeet. Über Privates, Musikalisches, über Vergangenheit und Zukunft. „Wir haben viele musikalische Weggefährten, die uns beide in unterschiedlichen Phasen und Zeiten begleitet haben”, so Christopher. „Es gibt diverse Überschneidungen, vor allem durch die, ich sag mal so, Berlin-München-Connection.” Als die Remix-Anfrage zur Sprache kommt, lenkt Moroder auf ein anderes Thema. „Zu alt, zu retro. Lass uns doch statt des Remix-Projektes lieber eine richtige Zusammenarbeit anstreben, aus der ein gemeinsamer, neuer Titel resultiert.“ Gesagt, getan. „Giorgio hat tatsächlich zwei- bis dreimal pro Woche Klavierunterricht genommen.“ Respektvolles Kopfnicken bei Christopher. „Weißt du”, fährt er fort, „viele Freunde würden zu Giorgio sagen, er solle doch das Leben in Südtirol und die Aussicht auf die Dolomiten genießen und Jagertee trinken, statt im Alter von 78 Jahren immer weiter und weiter zu machen.” Doch Stillstand – das ist nicht der zweite Name von Giorgio Moroder. Christopher lächelt und zieht seinen imaginären Hut vor der Synthie-Legende. „Ich finde es großartig und erstaunlich, mit welcher Disziplin, Ausdauer und unendlicher Geduld Giorgio Schritt für Schritt seinen Weg gegangen ist und immer noch geht. Für mich war es ein unfassbares Geschenk, mit ihm zu arbeiten.” Wie der Track „Lichtjahre” entstand, will ich wissen. „Ich habe Giorgio ein Rohkonstrukt geschickt und er hat mir nach nur 30 Minuten die Datei mit Melodie zurückgemailt.” „Filetransfer?”, frage ich. „Ideentransfer!”, korrigiert mich Christopher und lacht.
Christopher, kannst du etwas zum Entstehungsprozess von „Morgenstund” sagen?
Die ersten Ideen hatte ich während der letzten „Klangwelten”-Tour. Es war das erste Mal, dass ich eine Art Mini-Studio im Nightliner dabei hatte und experimentierte. Eine Tour ist für mich persönlich das größte Glück und die schönste Erfahrung – natürlich ist sie aber auch sehr fordernd. Du stehst zwei Stunden pro Tag auf der Bühne – und 22 nicht. Runterkommen in der Zeit? Nicht möglich. Es ist nicht einmal möglich, etwas Sinnloses zu machen. Du hast permanent den Countdown im Kopf. Die Uhr, die tickt, bis der nächste Auftritt bevorsteht. Jeder Tag ist anders. Neue Stadt, neue Location, neues Publikum, neue Herausforderungen an die Technik und Vor-Ort-Gegebenheiten. Bei einer Tour gibt es kein Copy-and-paste. Alles ist tagtäglich eine Premiere. Ich habe mich allerdings gezwungen, zwei bis drei Stunden pro Tag an Ideen zu basteln, beginnend ab Oktober 2017, bis März 2018.
Warum im Nightliner und nicht im Hotel?
Hotel? Nein, ich würde nie in ein Hotel gehen. Ich liebe die Begegnung mit meiner Band im Tourbus. Unten im Wohnbereich entsteht eine so erstklassige Community, die zusammenschweißt. Und oben hat jeder seine Schlafkajüte für sich. Manche sagen, das kostet Energie. Mir gibt es Energie! Es passt vermutlich nicht zu mir, sich per Luxuslimousine vom 5-Sterne-Hotel zur Halle chauffieren zu lassen. Wo bleibt denn da die Freude? (lacht)
Christopher von Deylen: down to earth. Ein sympathischer und ausgeglichener Musikvisionär, der mir imposante Einblicke in sein spannendes Leben gewährt hat. Ich und das FAZEmag sagen: Danke!
Band-Besetzung für die Arena-Live-Tour 2019:
Christopher von Deylen: Synthesizer
Gary Wallis: Drums und Percussion (akustisch und elektronisch)
Scott McKeon: Gitarren
Doug Wimbish: Bass
Tricia McTeague: Vocals + Percussion + Synthesizer
Sophie Hiller: Vocals + Querflöte + Percussion + Synthesizer
Album: „Morgenstund”
VÖ-Termin: 22. März 2019
Gäste/Ko-Produzenten: Giorgio Moroder, Jan Blomqvist, Nena, Mike Rutherford, Rebecca Ferguson
Ausgaben:
– Ultra Deluxe Edition: 3 CDs + 3 Blu-rays + handsignierte Leinwand (limitiert)
– Super Deluxe Edition: 2 CDs + 2 Blu-rays + 1 Hardcoverbuch im Schuber (limitiert)
– Deluxe Edition: 1 CD + 1 Blu-ray im Digipack
– Doppel-Vinyl (2 × gelbes 180-g-Vinyl)
– Digital und erstmals auch als Streaming-Album
Aus dem FAZEmag 085/03.2019
Text: Torsten Widua
Live-Foto v. Schiller: (c) Thomas Rabsch
Fotos Probe: (c) Torsten Widua